Aktuelle politisch umstrittene Entscheidungen geben Anlass, sich zu fürchten. Ähnliche grausige Vorstellungen vertritt auch der Autor in seinem Roman, zu dessen Berechtigung ihn Ereignisse wie der Anschlag der Satire-Zeitung Charlie Hebdo führen. Es möge sich um utopische Vorstellungen handeln, in denen gar nicht so viel Unwahrheit steckt.
Inhalt
1.Einleitung
2. Begriffsbestimmung der Dystopie
3. Themen auf dem Weg zur kritischen Dystopie
3.1 Die Religion
3.2 Die sozialpolitische Situation Frankreichs in der Dystopie
3.3 Die Universität
3.3 Die Frau, der moralische Zerfall und die Auflösung der Familie
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1 . Einleitung
Im laizistischen Frankreich lebt eine seiner schillernden literarischen Gestalten - der Schriftsteller, Michael Houellebecq. Unverwechselbar authentisch, müde und gelangweilt wirkend, rauchend, in seinen berühmten Camel-Legend-Parka gehüllt - so bleibt sein Bild im Gedächtnis der Leser seiner Werke aus vielen Ländern der Welt haften. Seit 1999 sind auch in deutscher Sprache Romane von dem, am 26.02.1956 in La Réunion geborenen und seit seinem 20. Lebensjahr schreibenden Landwirtschaftsingenieur, Houellebecq erschienen: Ausweitung der Kampfzone (1999), Elementarteilchen (1999), Lanzarote (2000), Plattform (2002), Die Möglichkeit einer Insel (2005), Lebendig bleiben (2006), Karte und Gebiet (2011). In diesen Werken, die in vielen Fremdsprachen übersetzt worden sind, richtet Houellebecq seine Kritik auf die Gegenwart aus einer eigenen, selbst geschaffenen Zukunftsperspektive. (Encke, S. 19) Sein Roman „Unterwerfung“ („Soumission“ aus dem Französischen) erscheint in Paris am 7. Januar 2015, am Tag des Terroranschlags in der Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“, auf deren aktueller Titelseite Houellebecq als Karikatur zu sehen ist. Unter dem Titel „Les prédictions du mage Houllebecq“ (zu deutsch, nach Übersetzung des Verfassers: Die Vorhersagen des Magiers Houllebecq) ist Houellebecq mit einer riesigen Nase, müden Augenschlitzen und blauem Zauberhut abgebildet. Zwei Sprechblasen werden mit Text gefüllt: „2015 verliere ich meine Zähne“, „2022 mache ich Ramadan“. (Charlie Hebdo, 7.01.2015) Die von Muslimen als blasphemisch empfundenen Mohammed-Karikaturen von „Charlie Hebdo“ und die daraufhin verübten Morde und die Neuerscheinung des Buches sind Ereignisse, dessen Koinzidenz natürlich außerhalb des Einflusses des Autors liegt. Das angespannte Verhältnis zwischen Okzident und Orient, zwischen dem Christentum, dem Judentum und dem Islam in der Welt nimmt der Autor zum Anlass, um eine wirklichkeitsnahe Fiktion eines Frankreichs, das nur sieben Jahre von der Erscheinung des Buches getrennt ist, zu beschreiben. Gefragt danach, ob es Berührungspunkte zwischen dem provozierendem Medium„Charlie Hebdo“ und seinem Buch „Soumission“ gebe, sagt Houllebecq: „Ja, die Freiheit. Es geht vor allem um die Freiheit. Freiheit ist oft provozierend. Ohne eine Dosis Provokation geht es nicht.“ (Encke, S. 145) „Unterwerfung“ stellt ein gesellschaftspolitisches Spiel mit „echten“ Akteuren - aktuell aktiven Politikern, Schriftstellern, Gestalten aus der Antike und der griechischen Mythologie, Frauen und Männern von heute, die alle im Alltagspanorama eines Misanthropen in Paris des Jahres 2022 mitspielen, dar. Michel Houellebecq schafft mit Hilfe einer großen Palette von Ereignissen, Erklärungen, Kommentaren, Monologen und Dialogen eine literarische Realität. Ihm gelingt eine zugespitzte politische Situation, in der sich das Leben seines Protagonisten, Francois, abspielt und das in einer Dystopie - die der Autor als Folge der unzulänglichen, inter- und außertextuellen Lebensrealität der Menschen als dystopische Vision als möglich erachtet - die in der Errichtung eines islamischen Staates in Frankreich mündet. Genauso wie in seinen früheren Romanen hat Houellebecq alles „an Provokationen […] ausgereizt, was ging. Das betrifft nicht nur die Grenzüberschreitungen, die in seinen Romanen zu finden sind, sondern […] auch seine Auftritte als öffentliche Figur, die […] zur Performance geworden sind, zum Auftritt der Kunstfigur Houellebecq.“ (ebd. S. 225)
Diese Arbeit untersucht die fünf Kapitel des Romans „Unterwerfung“ mit dem Ziel, dystopische Elemente gezielt aufzudecken und sie zu kommentieren. Durch die Haltung, mit kritischem Blick auf die Gegenwart schafft der Autor seine eigene Perspektive für eine Zukunft, die zum Nachdenken über die Gegenwart anregt. Zu Beginn wird dazu eine Begriffsbestimmung der Dystopie erfolgen, bevor erläutert wird, inwieweit es sich um kritische Dystopien handelt, anhand der Themen: Religion, sozialpolitische Situation in Frankreich, der Universität, der Frau und der einhergehende Zerfall, sowie der Auflösung der Familie. Diese mehr oder auch weniger dystopischen Elemente werden im Fazit schlussfolgernd betrachtet.
2 . Begriffsbest immung der Dystopie
Die „Blütezeit literarischer Utopien“ (Layh, S. 100) ist die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution, die Errungenschaften und Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik und damit unumgänglich verbundene soziale Konflikte schaffen utopische, literarische Werke als ihre direkte literarische Replik. Wenn im 19. Jahrhundert die Ansicht herrscht, dass Fortschritt, Wissenschaft und Technik den Menschen zu einem besseren Leben verhelfen würden, so negiert dieser Optimismus im 20. Jahrhundert und gibt einem herrschenden Zukunftspessimismus Platz mit antitechnisch und antiwissenschaftlich angehauchten literarischen Werken. Das erstmals Positive entgegen der außerfiktionalen Realität erlebt eine Veränderung und die literarische Welt schafft schreckliche und furchterregende, negative Zukunftsfiktionen. (vgl. ebd. S. 102f.) So entsteht im 20. Jahrhundert eine neuartige, negative Erscheinungsform der literarischen Utopien, ein neuer literarischer Texttyp mit eigenen poetologischen Merkmalen - die Dystopie. In den 1950er/1960er Jahre wird nach einer terminologischen und typologischen Differenzierung dieses Texttypus gesucht. Terminus Dystopie wird als Antagonismus zum Begriff der Utopie bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt. (vgl. ebd, S.111) Die Wortbildung ist zusammengesetzt aus dem griechischen Präfix dys (schlecht), dys-topos - was ein schlechter Ort bedeutet. In der deutschsprachigen Forschung etabliert sich Dystopie als konkrete Gattungsbezeichnung erst seit wenigen Jahren. (vgl. ebd.)
Die frühe literarische Forschung weist eine ganze Reihe von Termini, die bis heute koexistent gebraucht werden, (Anti-Utopie, Dystopie, negative Utopie, Gegenutopie, Groteskutopie, Schreckutopie etc.) auf, was zu Schwierigkeiten bei der Suche nach den gattungstheoretischen Abgrenzungen dieses Texttypus führt. (vgl. Meyer, S. 16) Elena Ziegler entscheidet sich in ihrer Forschungsarbeit dafür, dass Dystopie („düstere Vorausblicke“) und Anti-Utopie austauschbare Synonyme sind. (Ziegler, S. 10)
Susanna Layh betrachtet dagegen beide Termini als „jeweils unterschiedliche literarische Phänomene“ (Layh, S. 112), sie geht von der Existenz positiver und negativer Utopien aus und betrachtet beide Begriffe Dystopie und Anti-Utopie als „reine binäre Dichotomien“ (ebd.), wobei der Terminus Dystopie als „Synonym zum Begriff der negativen Utopie“ (ebd.) gesehen wird. In den negativen Utopien werden gesellschaftliche Entwicklungen in ein fiktionales Gesellschaftsgebilde, das noch schlechter als die aktuelle außerfiktionale Gesellschaft dargestellt wird, verlagert, das damit „zur düsteren Extrapolation der jeweiligen außertextuellen Gegenwart wird.“ (ebd. S. 113) Literarische Utopien fokussieren ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Perfektion einer imaginären Gesellschaft, oder die eines Individuums, sie evozieren durch das innerfiktionale Spiegelbild der Gesellschaft die Kritik an die außerfiktional, aktuell herrschende gesellschaftliche Situation. (vgl. Layh S. 100f.)
Im Roman „Unterwerfung“ zeichnet sich die warnende Absicht des Autors vor möglichen Konsequenzen des gegenwärtigen, außerliterarischen, sozio- politischen Zustands Frankreichs und das geschieht in einer provokativen und appellativen Art und Weise. Darin steckt die kritische Intention, dass eine zukünftige Möglichkeit als Folge des aktuellen außerfiktionalen Zustands imstande ist, Realität zu werden, dass die Wurzeln der dystopischen Gegenwart und der noch unfassbaren Zukunft in der gesellschaftlichen und daraus resultierenden individuellen Vergangenheit zu suchen sind.
3. Themen auf dem Weg zur kritischen Dystopie
3.1 Die Religion - Mystik höherer Ordnung
Im Auftakt des Romans, der in fünf Kapiteln gegliedert ist, zitiert der Autor aus dem Buch Joris-Karl Huysmans, Unterwegs. Huysmans Leben und Werk deckt die Zeit von 1890 bis 1914, jene Zeit der literarischen Strömung der Dekadenz, indem der Verlust des Ichs, die Schaffung einer künstlichen Welt mit Interesse für das Mystische, die Entfernung vom Natürlichen und die Herrschaft der Kunst über die Natur zu beobachten sind. Die Zeit, in der sich das Lebensgefühl des Niedergangs und des Verfalls des Menschen zum Ende des Einhunderts ausbreitet. (vgl. http://www.literturwelt.com/epochen/moderne.html#dekadenz abgerufen am 25.09.2018.)
Es sind einige Sätze Monolog des Huysmans Protagonisten, Durtal, der voller Verzweiflung nach dem Sinn seines Lebens im katholischen Glauben sucht und feststellt: „[…] ich bin meiner überdrüssig, […], so verstört (ich) in den Kapellen auch bin, sobald ich sie verlasse, werde ich wieder gleichgültig und gefühllos. […] meine Herz (ist) durch das lockere Leben verhärtet und vertrocknet, ich bin zu nichts nutze.“ (Huysmans, S. 7) Nutzlos und anwendungslos, sogar die nicht vorhandene Absicht nützlich oder anwendbar werden zu wollen, sind Zeichen der Dekadenz, der der Huysmans Protagonist angehört. (Encke, S.11) Nicht ohne Absicht nimmt der Autor den Dekadenten Huysmans mit in die Gedanken seines Protagonisten, Francois. Mehr als einhundert Jahre alte Wahrnehmungen werden als Merkmale eigener Erfahrungen in die moderne Wirklichkeit des Ich- Erzählers übertragen: „Mein Leben ähnelte in seiner Eintönigkeit und vorhersehbaren Farblosigkeit weiterhin dem von Huysmans […]“, (Houellebecq, S. 13) heißt es wenige Seiten später. So bleibt Huysmans dem Protagonisten, Francois, sein „ständiger Begleiter“ (ebd. S. 11), sein „treuer Freund“ (ebd. S. 8), denn „[…] nie war ich versucht, ihn aufzugeben, nie mich einem anderen Thema zuzuwenden.“ (ebd.) In einer für ihn ausweglosen Situation folgt Francois dem Weg seines Freundes Huysmans, sowie viele Heilige und Könige zuvor es getan haben - in der Notre-Dame-Kapelle von Rocamadour zu den Füßen der schwarzen Muttergottes zu knien. Nur für einen kleinen Augenblick lang wird er von der „Macht“ und Kraft“ (ebd. S. 12) der Muttergottes erfasst und verlässt die Kapelle. Auf der Suche nach Sinn und Glück im Leben in einer Glück versprechenden jedoch längst kommerzialisierten Religion in der kapitalistischen Welt, die „[…] sich in die Jahrhunderte zurückzog.“ (ebd. S. 149.), wird jede Sehnsucht nach Gott begraben und zuletzt mit dem Antlitz der Rauchmelder in seinem Zimmer im Kloster völlig desillusioniert. Francois, der „immer kleiner (wird), immer mehr schrumpfte“ (ebd.), leer, von Gott verlassen, sodass der Protagonist nichts hat, woran er glauben kann.
Der Protagonist und der Ich-Erzähler, Francois, der in einer fiktionalen Dystopie lebt, beginnt in Form eines Monologs unter dem Blickwinkel der rationalen Zeitposition aus der Vergangenheit zu erzählen. Fast unbemerkt werden gleichzeitig zu dem inneren Monolog, Kommentare im Präsens „eingeschoben“.„[…] niemals liefert man sich in einem Gespräch restlos aus, wie man sich einem leeren Blatt ausliefert, das sich an einen unbekannten Empfänger richtet.“ (ebd. S. 10). Die Ansichten des Autors gehören hiermit völlig der Gegenwart an und offerieren dem Rezipienten seine Ansichten. Getreu dem Motto, dass „[…] ein Autor (ist) zuvorderst ein Mensch, der in seinen Büchern gegenwärtig, […], präsent ist“ (ebd.). Darin zeigt die Fokalisierung Houellebecqs einen Wechsel zwischen der Fokalisierung des Vorführers aus der Vergangenheit und die [Fokalisierung] des Autors aus der Gegenwart. Diese „eingeschobene“ Realität gefüllt mit Kommentaren des Autors im Präsens wirkt wie sein „auktoriale(n)s Sprachroh(s)“ (ebd. S. 41), dessen Entwicklung in der Gestalt des Protagonisten verfolgt werden kann und die kritische Dystopie Kapitel für Kapitel anwächst. Weil Literatur eine „spezifische Besonderheit“ besitzt, ist sie die auserwählte „hohe(n) Kunst“, mit deren Hilfe die „westliche(n), vor unseren Augen untergehende(n) Welt“ (ebd. S. 9) dargestellt werden kann. In den ersten Seiten seines Romans steckt Houellebecq die thematischen Eckpfeiler seines Romans ab, die den Regress der Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen seiner Kritik beinhalten.
3.2 Die sozio-politische Situation Frankreichs
Gleich zu Beginn des Buches legt der Autor den Finger in die Wunde seiner kritischen Beobachtungen und schildert Frankreich als ein entzweites Land von Menschen, die es „zu etwas gebracht haben“ (ebd. S. 48) und Anderen, denen es „unmöglich, (ist), sich in die Perspektive solcher zu versetzen, die von diesem System nie etwas zu erwarten hatten und einigermaßen unerschrocken auf seine Zerstörung hinarbeiten.“ (ebd.)
In der Gestalt des Protagonisten, des gelangweilten, müden Ich-Erzählers, Francois, lernen die Leser den Vertreter dieser „westliche(n), vor unseren Augen untergehende(n) Welt“ (ebd. S. 9) kennen, jenes „schemenhafte(s) Wesen in den mehr vom Zeitgeist als von der eigenen Persönlichkeit diktierten Seiten zunehmend zerfasert, immer geisterhafter und unbekannter wird.“ (ebd. S. 10) Francois fungiert stellvertretend für die Oberschicht des Landes, und mit seiner untätigen Haltung, „schwindende(n) Lebenslust“, Suizid-Gedanken, Alkoholismus und Desinteresse an Politik (ist „politisiert wie ein Handtuch“ (ebd. S. 42)) werden die politischen Mechanismen, sowie die menschlichen Verhaltensmuster aufgezeigt, die zur reüssierenden Errichtung eines
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