Zur Kennzeichnung stochastischer Prozesse x(t) fallen einem zuerst einmal Größen wie Mittelwert, Varianz, Schiefe oder Exzess ein. Anders gesagt, man denkt an die Verteilung p(x, t) und ihre Momente. Es gibt aber andere Klassen von Observablen, die nicht durch die Eigenschaften des Prozesses zu einem festen Zeitpunkt gegeben sind, sondern beispielsweise vom Verhalten der Realisierung x(t) in einem ganzen Zeitintervall [0, T] abhängen. Hierzu gehören Größen wie die mittlere erste Passagezeit von einem Wert x0 zu einem anderen Wert x1 oder die Frage nach dem Maximalwert xm, den x(t) in
[0, T] einnimmt.
Wenn x(t) den Preisprozess eines Finanzinstruments darstellt, so ist das erwartete Extremwertverhalten dieses Prozesses Grundlage für die Konstruktion komplexer, pfadabhängiger Finanzderivate und wichtig für die Risikoabschätzung von Portfolios oder Krediten. Hier wird üblicherweise mit gaußschen Prozessen gerechnet.
Intensive Analysen der letzten zehn Jahre aus dem Bereich der Econophysics haben allerdings gezeigt, dass die Verteilung der Inkremente des Preisprozesses p(x(t)) gegenüber einer Gaußverteilung stark verbreitert ist und z.B. durch eine abgeschnittene Lévy-Verteilung beschrieben werden kann.
In dieser Arbeit wird mit Blick auf die Anwendungen in der Econophysics mittels Computersimulation der allgemeinen Frage nachgegangen, welche Eigenschaften der stochastische Prozess auf einem endlichen Zeitintervall für die Brownsche Bewegung, einen Lévy- Flight oder einen truncated Lévy-Flight
hat.
Nachdem in Kapitel 1 die mathematischen Grundlagen bespochen werden, enthält Kapitel 2 eine Beschreibung und Verifikation der numerischen Methoden. Kapitel 3 ist eine Zusammenfassung oder Grundlagenaufarbeitung aus der Econophysics. Es wird der Begriff Derivat erläutert, sowie ein kleiner Überblick über die Empirie von Preisfluktuationen gegeben und verschiedene Modellierungsmöglichkeiten aufgezeigt. Kapitel 4 stellt dann exemplarisch Ergebnisse der Simulationen dar, die sich für die verschiedenen stochatischen Prozesse ergeben. Im Anhang befindet sich der C++ Quell-Code, der direkt für eine praktische Anwendung innerhalb eines Risikomanagementsystem eines Finanzinstituts oder Asset Managers verwendet werden kann.
Diplomarbeit
Institut für Physik
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Computersimulation von Zufallsprozessen: Extremwertstatistik, Rekurrenzen und die Bewertung pfadabhängiger Derivate
Thomas Schwiertz
2004
Inhaltsverzeichnis
Anmerkung
Einleitung
1 Klassische Extremwertstatistik und Extrema von random walks ... 9
1.1 Die klassischen Extremwertverteilungen ... 9
1.2 Lévy-Verteilungen ... 17
1.3 Random walks und das Brownsche Reflexionsprinzip ... 18
2 Algorithmen und Tests ... 22
2.1 Zufallszahlengeneratoren und Tests ... 22
2.2 Tests der numerischen Parameter mit Hilfe der Extremwertverteilungen ... 29
2.2.1 Extremwertverteilung gaußverteilter Zufallszahlen ... 30
2.2.2 Extremwertverteilung von Levy verteilten Zufallszahlen ... 35
2.2.3 Zusammenfassung ... 38
3 Empirie von Preisschwankungen und das Black-Scholes Modell ... 39
3.1 Derivate ... 40
3.2 Das Lévy stabile ′nicht-Gauß′ Modell ... 41
3.3 Student ′sehe t-Verteilung und Mischungen von Gaußverteilungen ... 42
3.4 Die abgeschnittene Lévy-Verteilung ... 44
3.5 Empirische Ergebnisse zu Aktienkursen in Bezug auf die Extremwertstatistik ... 46
3.6 Das Black-Scholes-Modell ... 47
4 Die Simulationen und ihre Ergebnisse ... 52
4.1 Verteilung der Summe von abgeschnittenen Lévy-Verteilungen ... 52
4.2 Rekurrenzen ... 67
4.3 Interessantes im Hinblick auf die klassische Extremwertstatistik ... 77
4.4 Die Bewertung pfadabhängiger Derivate ... 78
Zusammenfassung und Ausblick ... 81
Programmcodes ... 85
Literaturverzeichnis ... 91
Anmerkung
Diese Anmerkung entstand nach der Abgabe der Diplomarbeit beim Prüfungsamt Physik der Universität Mainz. Sie soll vor allem den verschiedenen Leserkreisen als einleitende Lesehilfe oder Anleitung dienen und einige Begriffe in dem entsprechenden Kontext erörtern.
In der Regel versteht man in der BWL unter einem pfadabhängigem Derivat ein historienabhängiges Derivativ. Also ein Derivat, dessen Payoff von dem Pfad abhängt, dem der Preis des Basisobjekts folgt, nicht nur von dem Endwert. Asiatische Optionen und Lookback-Optionen sind klassische Beispiele. In dieser Arbeit werden auch Amerikanische Optionen als pfadabhängig bezeichnet. Schließlich kann man formal die Ausübung zu einem früheren Zeitpunkt als dem Laufzeitende als pfadabhängige Eigenschaft definieren. In der Praxis kann dies auf Grund der benötigten Rechenzeit vor allem bei Bermuda-Optionen sinnvoll sein, da hier in einer Monte-Carlo-Simulation nur spezifizierte Ausübungszeiten in Betracht zu ziehen sind.
Den Begriff der Barrier-Option statt dem des pfadabhängigen Derivats im Titel dieser Arbeit zu verwenden, würde zwar das Problem der Unterscheidung von Amerikanischen und Europäischen Optionen umgehen, aber den Möglichkeiten einer Bewertung mittels der hier entwickelten Algorithmen nicht gerecht werden. Schließlich ist es mit wenigen Modifikationen möglich jedes beliebige Underlying zu simulieren um damit verschiedene Auszahlungsprofile oder Preisbildungen des abgeleiteten Derivativs zu bestimmen. Gewöhnlich werden Barrier-Optionen mit einem Binominal- oder einem Trinominalbaum bewertet. Ein solches Modell ist aber nur dann sinnvoll, wenn die Zeitskala/ Laufzeit insgesamt groß genug ist, die Verfeinerung der einzelnen Schritte wiederum einer Zeitskala entspricht, die nicht zu klein ist. Grund dafür sind die zu beobachtenden ′fat tails7 empirischer Daten (siehe Kapitel 3). Einfacher ausgedrückt: Ist der vorletzte Schritt in einem Binominalbaum im Geld, so ist es im letzten Schritt ausgeschlossen, dass bei einer Veränderung des Basispreises der Strike unter- bzw. überschritten wird. Es ist offensichtlich, dass es theoretisch nicht a~isgeschlossen werden kann, dass der Basispreis auf Grund einer extremen Preisbewegung tatsächlich unterlüber den Strike fällt. Ziel dieser Arbeit ist es quantitative Aussagen darüber zu treffen, auf welchen Zeitskalen (genauer: Anzahl der Schritte eines Random Walks) und unter welchen Umständen es problematisch sein kann, mit gaußschen Prozessen zu rechnen (wie z.B. beim Black-Scholes-Modell).
Eine weitere wichtige Frage oder ein Kritikpunkt, der sich bei der Bewertung mittels der in dieser Arbeit vorgestellten Bewertungsmethode ergibt ist die Frage nach der Replikation. Dies kann im klassischen Sinne, 2.B. im Rahmen eines Delta-Hedges eines Portfolios, nicht definiert werden, da ′die Griechen′ nicht zu definieren sind. Neben den Nachteilen einer solchen dynamischen Optionsreplikation wie hohe Transaktionskosten auf Grund des häufigen Rebalancing ist hier noch ein Modellfehler zu beachten: Nehmen wir an, die Preisveränderung des Basisobjekts folgt keiner Brownschen Bewegung sondern einem Lévy-Prozess, dann ist z.B. ein VaR mit einem angenommenen gaußschen-Prozess nicht besonders sinnvoll. Es sei aber daran erinnert, dass es immer die Möglichkeit einer statischen Optionsreplikation gibt.
Ziel dieser Arbeit ist es, allgemein abzuschätzen, wann sich ein Prozess mit abgeschnittenen Lévy-Verteilungen wieder von einer Gaußverteilung approximieren lässt - Um die Antwort vorzuziehen: Nur auf Zeitskalen von wenigen Tagen oder Wochen. Von daher sind aber auch Effekte einer Abzinsung des im Portfolio gebundenen Kapitals unwichtig. ′Das Rechnen′ oder exakter ′das Simulieren′ mit Levy-Prozessen macht z.B. im Portfoliomanagement Sinn, wenn in einigen Tagen ein Großteil des Portfolios aufgelöst werden muss. Eine prozentuale identische Reduktion eines jeden einzelnen Vermögenswerts kann im Einzelfall vielleicht zu einem erheblichen marktbedingten Verfall (Angebot/ Nachfrage) des Portfolios führen. Eine Monte-Carlo-Simulation mit Levy-Prozessen kann helfen, zu entscheiden, ob es nicht vielleicht besser ist, z.T. auch mit entsprechenden Hebelzertifikaten oder anderen exotischen Optionen zu arbeiten. Bei einem Portfolio mit sehr vielen unkorrelierten Vermögenswerten, werden im übrigen die kritischen Zeitskalen nochmals kürzer. Es ist in jedem Fall immer zunächst notwendig, empirische Untersuchungen des entsprechenden Underlyings vorzunehmen. Diese Arbeit kann dann dabei helfen den Modellfehler der üblichen Methoden zur Einschätzung des Marktrisikos -d.h. Rechnen mit gaußschen Prozessen- aufzuzeigen. Klassische Back-Tests sind dann nicht mehr notwendig.
Dem mathematisch uninteressierten Leser empfehle ich den Einstieg im dritten Kapitel dieser Arbeit.
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