Aktuell wird in der Gesundheitspolitik die Einführung einer Notfallgebühr für Patienten gefordert, die die Notfallambulanzen der Krankenhäuser aufsuchen. In den letzten Jahren hat es hier eine starke Zunahme an Patientenkontakten in Deutschland gegeben, ohne dass dafür medizinische Gründe vorliegen. Ein ähnliches Steuerungsinstrument wie die zurzeit geforderte Notfallgebühr im Sinne einer Zuzahlungspauschale gab es in Deutschland schon einmal: Die Praxisgebühr der Jahre 2004 bis 2012.
Diese Arbeit stellt dar, ob ein Einfluss auf das Patientenverhalten im Sinne eines Steuerungsinstrument möglich war und benennt soweit erkennbar Erfolgsfaktoren sowie Fehler, die in der aktuellen Diskussion um die erneute Einführung einer Gebühr prognostisch berücksichtigt werden sollten.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung, Fragestellung und Zielsetzung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 System der Notfall-Versorgung in Deutschland
2.2 Entwicklung der Fallzahlen in den Notaufnahmen
2.3 Die Praxisgebühr der Jahre 2004 bis 2012
2.4 Zuzahlungspflicht
2.5 Die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument
3 Methodisches Vorgehen
4 Ergebnisse
4.1 Frage der Patientensteuerung
4.1.1 Fallzahlen
4.1.2 Erstinanspruchnahme von Fachärzten
4.2 Auswirkungen der Praxisgebühr auf Notfallambulanzen
4.3 Notfallzahlen nach Ende der Praxisgebühr
4.4 Kritikpunkte der Praxisgebühr
4.4.1 Hausarzt als Lotse
4.4.2 Bürokratischer Aufwand
4.4.3 Soziale Ungleichheit
4.5 Erfolgsfaktoren der Praxisgebühr
4.6 Abschaffung der Praxisgebühr
5 Diskussion
5.1 Frage der Übertragbarkeit auf eine mögliche Notfallgebühr
5.2 Mögliche Auswirkungen der Erfolgsfaktoren und Kritikpunkte
6 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: System der Notfallversorgung in Deutschland
Abbildung 2: Entwicklung der Fallzahlen im Bereitschaftsdienst und Notaufnahmen 2009 – 2015 in %
Abbildung 3: Aufnahmeanlässe im Krankenhaus Abbildung 4: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten
Abbildung 5: Anteil der GKV-Versicherten, die in den vergangenen zwölf Monaten den Facharzt aufsuchen mussten und immer mit Überweisung zum Facharzt gegangen sind
Abbildung 6: Leistungsbedarf und Behandlungsfallzahl in Deutschland
Abbildung 7: Anteil Originalfälle in ausgewählten Haus-/Fach-ärztlichen Praxen 2000 bis 2014
Abbildung 8: Entwicklung der ambulanten Notfallbehandlungs-fallzahlen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Zeitliche Planung
Tabelle 2: Übersicht über gesetzliche Zuzahlungen
1 Einleitung, Fragestellung und Zielsetzung
Um Kliniken von überfüllten Notaufnahmen zu entlasten, wird aktuell die Einführung einer Patientengebühr gefordert1. Hintergrund ist die starke Zunahme von Patientenkontakten in den Notaufnahmen Deutschland: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Patienten, die eine Notaufnahme im Krankenhaus aufsuchten, auf fast 25 Millionen verdoppelt2.
Ein großer Teil dieser Patienten hätte ebenso gut ambulant behandelt werden können und damit wären Ressourcen, die zur Notfallversorgung von schweren und lebensbedrohlichen Unfällen sowie Erkrankungen vorgesehen sind, nicht unnötig belastet worden[2].
Die KV Niedersachsen schlägt daher die Zuzahlung von 50 Euro pro Patient vor, um Patientenströme besser lenken zu können und überflüssige Besuche, die keinen Notfallcharakter haben, zu reduzieren3.
Im Vergleich dazu betrug die damalige Praxisgebühr für Kassenpatienten im Sinne einer zu entrichtenden Zuzahlung für ambulante Behandlungen nur 10 Euro4. Diese im Jahr 2004 eingeführte Gebühr sollte helfen, Hausärzte zur ersten Anlaufstation zu machen und Besuche bei teuren Spezialisten zu verringern[3]. Die Gebühr war allerdings sehr unbeliebt und wurde 2012 wieder abgeschafft[3].
Diese Forschungsarbeit soll aufgrund aktueller Forderungen nach einer Patientengebühr den Bogen zur Praxisgebühr der Jahre 2004 bis 2012 spannen und eruieren, ob ein Einfluss auf das Patientenverhalten im Sinne eines Steuerungsinstrument möglich war. Des Weiteren sind soweit erkennbar Erfolgsfaktoren sowie Fehler zu benennen, die in der aktuellen Diskussion um die erneute Einführung einer Gebühr prognostisch berücksichtigt werden sollten.
2 Theoretischer Hintergrund
Deutschland ist in vielen Bereichen Weltmeister – so auch bei der Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte: Je nach statistischer Erhebungsmethode werden zwischen elf und 17 Patienten-Arzt-Kontakte pro Jahr gezählt5. Insofern ist die Frage einer effektiveren Patientensteuerung z.B. durch eine Patientengebühr ein wiederkehrendes Thema, das auch vom Sachverständigenrat im Jahre 2018 genannt wird[5].
2.1 System der Notfall-Versorgung in Deutschland
Die Versorgung von medizinischen Notfällen in Deutschland ist komplex und liegt in den Händen der niedergelassenen Ärzte, des Rettungs- und Notarztdienstes sowie der Notaufnahmen der Krankenhäuser6.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: System der Notfallversorgung in Deutschland[6]
Nach rechtlichen Aspekten ist die ambulante Notfallversorgung in nicht lebensbedrohlichen Fällen klar dem Sicherstellungsauftrag der KVen zugeordnet7. Für diesen sogenannten ambulanten Bereich bestehen verschiedene Zugangswege zur medizinischen Versorgung: Hausarzt (reguläre Praxis), KV-Bereitschaftspraxis, etc.
Bei einem dringenden medizinischen Behandlungsbedarf auf Grund einer akuten und bedrohlich erscheinenden Erkrankung ist aber ebenso eine Versorgung im stationären Sektor möglich, die in der Regel über den Rettungsdienst bzw. die Rufnummer „112“ sichergestellt wird.
Die Entscheidung, welche Form der Versorgung gewählt wird, ist den Patienten freigestellt, so dass auch weniger dringlich erscheinende medizinische Notfälle in den Notaufnahmen der Krankenhäuser untersucht und behandelt werden. Post hoc-Analysen zeigen, dass mindestens 30% dieser Patienten problemlos im ambulanten kassenärztlichen Bereich hätten behandelt werden können8.
2.2 Entwicklung der Fallzahlen in den Notaufnahmen
Zur Quantifizierung der Fallzahlen können als Basis die Abrechnungsdaten der KVen verwendet werden, deren Behandlungsfälle nach EBM Ziffer 1.2 (Versorgung im Notfall sowie im organisierten ärztlichen Notfalldienst) abgerechnet wurden[7].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Entwicklung der Fallzahlen im Bereitschaftsdienst und Notaufnahmen 2009 – 2015 in %9
Ausgehend von diesen Daten stieg die Gesamtzahl der ambulanten Notfälle in Deutschland im Zeitraum 2009 bis 2015 um 0,7 Mio. Fälle von 18,3 Mio. auf 19,0 Mio. an, wobei aufgrund der Abrechenbarkeit der EBM Ziffer 1.2 die stationären Angaben alle ambulanten Notfälle widerspiegeln, die des vertragsärztlichen Bereichs grundsätzlich nur die Notfälle, die außerhalb der Praxisöffnungszeiten auftreten10.
Dabei ist festzustellen, dass zwei differente Entwicklungen auftraten. Auf der einen Seite sank die Anzahl von Notfällen im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst von 12,3 Mio. (2009) auf 10,5 Mio. (2015). Gleichzeitig stiegen auf der anderen Seite die ambulanten Notfälle im Krankenhaus von 6 Mio. im Jahr 2009 auf über 8,5 Mio. im Jahr 2015 an. Das heißt dem „Plus“ von 42% in den Notaufnahmen steht ein „Minus“ von 15% im kassenärztlichen Bereich gegenüber und zeigt damit eine deutliche Verschiebung der Patientenströme hin zur Notaufnahme[10].
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass der Anteil der Notfall-Patienten im Krankenhaus im Beobachtungszeitraum von 34% auf 45% gestiegen ist und damit mittlerweile genauso viele Patienten selber als Notfall ins Krankenhaus kommen wie mit einer Einweisung durch einen niedergelassenen Arzt[10]. Dieses ist ein im internationalen Vergleich außergewöhnlich hoher Wert11.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Aufnahmeanlässe im Krankenhaus12
Im internationalen Vergleich fällt zudem der Anstieg des Notfallaufkommens in deutschen Krankenhäusern überdurchschnittlich hoch aus13. Die durchschnittliche Wachstumsrate der Fälle in den Notfallambulanzen in Deutschland ist mit durchschnittlich 4,9 p.a. mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller OECD-Länder[13].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten14. Anmerkung: Klassifikation eines „Notfalls“ kann zwischen den Ländern variieren.
2.3 Die Praxisgebühr der Jahre 2004 bis 2012
Unter dem rot-grünen Regierungsbündnis wurde die „Praxisgebühr“ mit dem GKV-Modernisierungsgesetz zum 01.01.2004 eingeführt und beinhaltete mit Ergänzung von Absatz 4 zum §28 SGB 5 eine Zuzahlung von gesetzlich Versicherten für die Inanspruchnahme von ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Leistungen pro Kalendervierteljahr (Quartal).
Die „Praxisgebühr“ musste nur beim ersten Kontakt des Quartals gezahlt werden, alle weiteren Termine bzw. Konsultationen bei demselben Arzt waren davon ausgenommen. Arztkontakte, die auf Überweisung hin stattfanden, waren von der „Praxisgebühr“ ebenso wie Vorsorgeuntersuchungen befreit.
Ziel der Praxisgebühr war es neben der Entlastung der Krankenkassen um geplante 2,5 Milliarden die „Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit“ zu stärken15. Konkret sollte verhindert werden, dass Patienten auch weiterhin mit Bagatellerkrankungen gleich den Arzt aufsuchen und des Weiteren war beabsichtigt, die Selbstüberweisungen zu den Fachärzten zu reduzieren[15].
2.4 Zuzahlungspflicht
Die Zuzahlung galt für folgenden Personenkreis und war mit Ausnahme von medizinischen Notfällen vor der Behandlung wie folgt zu entrichten16:
Tabelle 1: Zuzahlungspflicht[17]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die freie Arztwahl blieb nach wie vor bestehen. Ein Patient konnte auch ohne Überweisung mehrere Ärzte im Quartal aufsuchen, wobei er dann allerdings bei jedem dieser Ärzte die 10 Euro Praxisgebühr entrichten musste17.
2.5 Die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument
Zunächst haben die GKV-Versicherten so auf die Einführung der Praxisgebühr reagiert, wie es der Gesetzgeber beabsichtigte18: Die Zahl der Patienten ohne Arztkontakte blieb konstant (zwischen zwei und drei Prozent) und die Zahl der Facharztbesuche ohne vorherige Überweisung durch den Hausarzt oder einen anderen Facharzt sank ab 2004 deutlich.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Anteil der GKV-Versicherten, die in den vergangenen zwölf Monaten den Facharzt aufsuchen mussten und immer mit Überweisung zum Facharzt gegangen sind19
Anhand der Abrechnungsstatistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kann als bundesweiter Trend ein steigender Leistungsbedarf sowie steigende Fallzahlen ab dem Jahre 2009 dargestellt werden20. Zudem setzt sich dieser Trend mit Abschaffung der Praxisgebühr fort.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Leistungsbedarf und Behandlungsfallzahl in Deutschland[21]
3 Methodisches Vorgehen
Die Arbeit wurde durch eine Literaturanalyse umgesetzt. Aufgrund der relativen Aktualität des Themas waren zahlreiche Quellen verfügbar, wenngleich nicht alle einen wissenschaftlichen Hintergrund aufwiesen.
Die Literaturrecherche erfolgte über das Verlagsportal Springer Online, das Deutsche Ärzteblatt sowie über frei verfügbare Publikationen. Abrufzeitraum waren die Monate August 2018 bis einschließlich Januar 2019. Die genutzten Daten weisen aufgrund der Retrospektive eine unterschiedliche Aktualität auf.
4 Ergebnisse
Die Gesundheitsreform hatte das Ziel Patienten stärker an ihren Krankheitskosten zu beteiligen und im Gegenzug die Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen zu senken21. Dieses sollte über Zuzahlungsregelungen für Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Heilmittel und häusliche Krankenpflege umgesetzt werden[22].
Um die Zuzahlungen bei einer Belastungsgrenze deckeln zu können bestand für Versicherte die Möglichkeit sich gemäß § 62 SGB V von der Praxisgebühr befreien zu lassen, wenn die Zuzahlungen mehr als zwei Prozent ihres Jahreseinkommens ausmachten. Dieses galt allerdings erst nach Erreichen einer Obergrenze und dann auch nur bis jeweils für den Rest des Kalenderjahres22. Bei chronisch kranken Patienten lag die Belastungsgrenze bei mehr als ein Prozent des Jahreseinkommens und ob Versicherte zu den „Chronikern“ zählten wurde allein durch die entsprechende Krankenkasse festgestellt[23].
Um die Frage nach einer sozialen Ausgewogenheit sowie die durch die Zuzahlungsbefreiung limitierte Steuerungswirkung beurteilen zu können, wurden mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in § 62 Absatz 5 SGB V verpflichtet, für das Jahr 2006 die Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht hinsichtlich ihrer Steuerungswirkungen zu evaluieren23. Dieser Bericht erschien als Bundestagsdrucksache 17/8722 am 10.02.2012 und zeigt ein differenziertes Bild der Entwicklung seit Einführung der Praxisgebühr.
Die durchschnittliche jährliche Zuzahlungsbelastung je Versicherten im genannten Zeitraum betrug demnach rund 72 Euro und im Durchschnitt waren ca. 6,981 Millionen Versicherte jährlich nach Erreichen ihrer Belastungsgrenze von den Zuzahlungen nach § 62 SGB V befreit24.
[...]
1 vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2018c
2 vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2018b
3 vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2018a
4 vgl. Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern, 2004
5 vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2018d
6 vgl. RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, 2018
7 vgl. RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, 2018, S.7
8 vgl. Haas et al., 2015, S.75
9 vgl. Wahlster, 2017
10 vgl. RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, 2018, S.20
11 vgl. Geissler et al., 2017
12 vgl. Augurzky et al., 2017
13 vgl. Berchet, 2015, S.10
14 eigene Darstellung in Anlehnung an Berchet, 2015, S.10
15 vgl. Esser, 2012
16 vgl. Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern, 2004
17 vgl. Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern, 2004
18 vgl. Reiners & Schnee, 2007, S. 138
19 eigene Darstellung in Anlehnung an Reiners & Schnee, 2007
20 vgl. Heuer, 2016, S11.
21 vgl. Merten, 2003
22 vgl. Kassenärztliche Vereinigung Hessen, 2004
23 vgl. Deutscher Bundestag, 2012, S.4
24 vgl. Deutscher Bundestag, 2012, S.63