Die Commedia ist ein Werk, das fast ausschließlich im Jenseits spielt, und bis auf Dante kommen in ihr keine lebenden Menschen, sondern nur Tote und einige Fabel- und Zauberwesen vor. Da liegt die Frage nahe, weshalb sich in einem solchen Text Bezüge zur Medizin, zu Krankheiten oder überhaupt zum menschlichen Körper finden sollten, obwohl dieser nach dem Tod doch nicht mehr gebraucht wird und zerfällt.
Erstaunlicherweise ist aber genau das in der Commedia zuhauf der Fall – es wimmelt nur so von Krankheiten, Verletzungen, Blut, Eingeweiden und Schmerz. Die Methoden der Medizin kommen zwar nicht unmittelbar zur Anwendung, doch werden bekannte Mediziner thematisiert und das Thema Heilung spielt zumindest im übertragenen Sinn eine Rolle.
Welchen Zweck diese Darstellungen des Körperlichen verfolgen, wie ihr Vorhandensein erklärt wird und welche Differenzen sich in den drei Teilen der Commedia, im Inferno, im Purgatorio und im Paradiso feststellen lassen, soll im Folgenden untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Dantes Verbindung zur Medizin
Historischer Hintergrund: Stand der Medizin zu Dantes Lebzeiten
Die medizinische Lehre
Methoden der Medizin
Wirkung der Medizin
Umgang mit Krankheit und Medizin in der Bevölkerung
Krankheit, Verletzung und Körperlichkeit in der Commedia
Krankheit, Verletzung und Körperlichkeit im Inferno
Krankheit, Verletzung und Körperlichkeit im Purgatorio
Krankheit, Verletzung und Körperlichkeit im Paradiso
Mediziner und Heiler in der Commedia: die privilegierte Stellung der medizinischen Gelehrten im Inferno
Schluss: Die drei Seelenzustände in der Commedia
Literaturverzeichnis
Einleitung: Dantes Verbindung zur Medizin
Obwohl Dante selbst kein praktizierender Arzt war, verfügte er, wie sich etwa an den medizinischen Fachbegriffen und Krankheitsbeschreibungen im Inferno erkennen lässt,1 über ein Fachwissen, das das des durchschnittlichen Laien deutlich überstieg. Dieses Fachwissen erlangte er nicht nur dadurch, dass er Kontakte zu Ärzten unterhielt, sondern auch durch eigenes Studium: Dante schrieb sich an der Arte dei Medici e degli Speciali in Bologna ein, nachdem er, vermutlich von 1285 bis 1287, Kurse in Logik, Philosophie, Jura und auch Medizin besucht hatte.2 Dem florentinischen Recht nach musste er zu einer der sieben Großen Künste gehören, um öffentliche Ämter ausüben zu dürfen;3 die Medizin war eine dieser Künste.
Zwar war er dann als Arzt eingetragen, doch da er nicht praktizierte, galt er als „medico scioperato“, als Arzt, der sein Fach nicht ausübte.4 Seit einer Reform im Juli 1295 war es nicht mehr nötig, dem eingetragenen Beruf tatsächlich nachzugehen. Wegen der Eintragung als Arzt wird er auf Bildern und als Statue fast immer in Medizinerkleidung dargestellt, für die eine rote Kappe mit Ohrenklappen und ein langer Mantel charakteristisch waren.
Obwohl Dante nicht praktizierte, pflegte er Kontakte mit mehreren praktizierenden oder lehrenden Medizinern. In Ravenna beispielsweise gehörte höchstwahrscheinlich der Arzt und Philosoph Fiduccio de' Milotti zu seinem Freundeskreis5, und auch mit Guido Vacchetta, einem Arzt aus Ravenna, hat Dante möglicherweise Beziehungen unterhalten, da dieser ein Freund seines guten Freundes Piero Giardini war.6 Ob Dante auch mit Taddeo Alderotti, einem in Florenz geborenen Arzt, der aber überwiegend in Bologna lebte,7 Kontakt hatte, ist umstritten,8 doch würde es bei seinem Wissensdurst einleuchten, wenn er Alderottis Vorlesungen besucht hätte.9 In der Commedia wird – im Paradies! – zwar ein „Taddeo“ erwähnt,10 doch geht Hartmut Köhler, anders als ein Artikel zu Alderotti im Dizionario Biografico 11 ebenso wie Pasi12 davon aus, dass es sich um einen anderen Taddeo handelt,13 nämlich Taddeo Pèpoli, einen Dekretalisten. Mit dem „gran dottor“14, der dort erwähnt wird, ist meines Erachtens jedenfalls Domenico, der Gründer des Predigerordens gemeint, über den gesprochen wird, und nicht Taddeo; das geht aus der Formulierung des Satzes hervor.15
Seine zahlreichen Quellen medizinischen Wissens ermöglichten es Dante, die Darstellungen von Krankheit und Leid, die zweifelsohne zum zeitlosen Erfolg der Commedia beigetragen haben, anschaulich und realitätsnah zu gestalten.
Historischer Hintergrund: Stand der Medizin zu Dantes Lebzeiten
Die medizinische Lehre
Zur Zeit Dantes bestanden enge Verbindungen zwischen der Medizin und der Naturphilosophie.16 Die Medizin wurde gerade als Lehrdisziplin eingeführt, die an den neu entstandenen studia, universitätsartige Zentren des medizinischen Lernens, unterrichtet wurde.17 Solche Zentren gab es beispielsweise in Padua und Bologna18, wo auch Dante zeitweise (in Bologna von 1285 bis 1287) lebte und diese Aufenthalte zum Erwerb der medizinischen Kenntnisse nutzte, die er in der Commedia später demonstriert.19
Die Lehre in den studia gründete sich neben antiken Werken, wie den naturphilosophischen Texten von Aristoteles20 und medizinischen Texten von Galen21, vor allem auf übersetzte griechische und arabische medizinische Werke aus dem 12. Jahrhundert.22 Kommentare der alten Texte spielten eine große Rolle, etwa Avicennas Versuch, in seinem Kanon der Medizin auf die Unterschiede zwischen den Texten Galens und denen von Aristoteles aufmerksam zu machen.23 Die Lehrmethodik fußte auf Dialektik und Disputation.24 Zudem wurden bereits gelegentlich Leichensektionen zu Lehrzwecken durchgeführt.25 Angehende Ärzte mussten die „consilia“ auswendig lernen, Ratschläge führender Mediziner zur Behandlung bestimmter Krankheiten.26 Ihre Lehrer waren in der Regel selbst praktizierende Ärzte.27 Möglicherweise wurde, wie auch heute noch üblich, Unterricht direkt am Krankenbett betrieben.28
Allerdings wurden viele behandelnde Ärzte nicht etwa an einem studio ausgebildet, sondern absolvierten entweder keinerlei oder lediglich eine rein praktische Lehre. Während die Allgemeinärzte für gewöhnlich ein oder mehrere studia besucht hatten und einen Doktortitel trugen, besaßen insbesondere Chirurgen sowie eine dritte Klasse von Ärzten, die empirici, die sich meist auf ein Gebiet spezialisierten, in der Regel keine Universitätsausbildung. Angehende Chirurgen gingen häufig bei einem Meister in die Lehre, während die empirici oft gar keine formale Ausbildung besaßen.29
Für Dante30 bedeutete die Entstehung der studia, dass er an einigen seiner Aufenthaltsorte Zugang zu medizinischen Fachbüchern31 und Kontakt zu Ärzten hatte.
Methoden der Medizin
Die mittelalterliche Heilkunst besteht aus drei großen Bereichen, nämlich aus Diätetik, Pharmazie und Chirurgie.32 Mit diesen Mitteln unterstützt der Arzt die Natur, die sich gegen die Krankheit wehrt.33 Die Krankheit gehört also selbst nicht zur Natur – sie ist ein Eindringling, der den ursprünglichen Naturzustand (constitutio) stört.
Zum Untersuchungs- und Behandlungsgebiet der Diätetik zählten aer (Licht und Luft), cibus et potus (Speis und Trank), motus et quies (Bewegung und Ruhe), somnus et vigilia (Schlafen und Wachen), excreta et secreta (Ausscheidungen) und affectus animi (Leidenschaften).34
Zur Materia Medica, dem Arzneimittelschatz und damit dem Mittel der Pharmazie, gehörten im Mittelalter sowohl mineralische und pflanzliche als auch tierische Mittel.35
Die mittelalterliche Chirurgie orientiert sich vor allem an arabischen Quellen. Ein wichtiges Werk ist die Chirurgia des unter dem europäisierten Namen Abulcasis bekannten Abu al-Qasim Khalaf ibn Abbas al-Zahrawi36, das die Methoden der Kauterisation (dem Ausbrennen von Wunden) sowie der Behandlung von Verletzungen und Blutverlust, der Entfernung von Pfeilen und Ähnlichem sowie der Behandlung von Knochenbrüchen, Verrenkungen und Verstauchungen erklärt.37
Die Patienten werden von den Ärzten anhand ihrer äußeren Erscheinung und mittels der Überprüfung von Puls und Urin untersucht.38 Als Medikamente werden in der Praxis hauptsächlich pflanzliche Arzneien verschrieben, deren heute erwiesene Wirkung bereits teilweise korrekt erkannt wird, insbesondere Diuretika und Opiate.39 Auch der Aderlass ist eine beliebte Behandlungsmethode. Selbst chirurgische Eingriffe bei Wunden und Knochenbrüchen und Amputationen finden bereits Anwendung.40
Wirkung der Medizin
Die Weiterentwicklung der medizinischen Lehre durch die Entstehung diverser studia mit ihrer Verbindung von theoretischer und praktischer Lehre hatte vermutlich zunächst keinen messbaren Einfluss auf die Erfolge der medizinischen Praxis,41 da sich die Methoden – was allerdings kaum überprüfbar ist – durch die Einführung der studia nur wenig geändert haben dürften.42 Lediglich die Nutzung von aquavitae, hochprozentigen Ethanollösungen, und die Orientierung der Behandlung an der Astrologie wurden neu eingeführt.43 Positive Resultate einzelner Methoden wurden vermutlich durch die Schädlichkeit oder Wirkungslosigkeit anderer Behandlungen wieder wettgemacht;44 im Großen und Ganzen dürfte die medizinische Praxis, verglichen mit anderen Faktoren wie Ernährung und Umwelt, nur eine äußerst begrenzte Rolle für die Gesundheit der Bevölkerung gespielt haben.45
Umgang mit Krankheit und Medizin in der Bevölkerung
Dass die Methoden der Ärzte oft keine großen Behandlungserfolge aufzuweisen hatten, blieb der breiten Bevölkerung nicht verborgen, und so erschien der Gang zum Arzt für die große Masse nur als eine potenzielle Heilungsart unter vielen – Gebete zu Schutzheiligen und Opfergaben46 galten als ebenso übliche und gleichwertige Gegenmaßnahmen bei Krankheit und Verletzung, da körperliche Leiden nicht als rein weltliches Problem gesehen, sondern als eng verbunden mit der seelischen Verfassung des Betroffenen wahrgenommen wurden.
Krankheit stellt im Mittelalter einen status deficiens, einen Mangelzustand dar.47 Wird ein Mensch krank, so fällt er also nach mittelalterlicher Weltsicht von der Erschaffung des Menschen im gesunden Zustand, der constitutio[48], ab, zur „Entartung“49 oder „Verformung“50, die mit dem Ausdruck destitutio gemeint sind . Das Leben im Diesseits ist an sich ein „krankhafte[r]Zustand (destitutio)“51, dennoch birgt das Leben auch die Erinnerung an den „Ursprung (constitutio)“ und an „die letzte Bestimmung des Menschen (restitutio)“52 in sich. Das Gesunden, also der Prozeß, der zum ursprünglichen Zustand der Gesundheit und Vollständigkeit zurückführt, wird als Schaffensprozess wahrgenommen, als creatio.53 Die Krankheit soll als Mittel der Bekehrung und Sühne dienen, sodass der Mensch zur restitutio[54], der Auferstehung, die gleichzeitig auch die endgültige Heilung darstellt, gelangen kann.
[...]
1 z.B. die im Inf., XXIX, 72-84 beschriebene Krätze
2 Vgl. Pasi, Romano: Dante, i medici e la medicina. Ravenna: Edizioni Essegi (1996), S. 11
3 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 11
4 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 13
5 Vgl. Livi, G. Dante: suoi primi cultori, sua gente in Bologna. Bologna (1918), S. 175
6 Vgl. Enciclopedia Dantesca, Mineo, Niccolò: Lemma „Vacchetta, Guido“
7 Vgl. http://www.treccani.it/enciclopedia/taddeo-alderotti_(Dizionario_Biografico)/, zuletzt aufgerufen am 12.9.2013 um 13.42 Uhr
8 Vgl. die unterschiedlichen Meinungen von Pasi, Romano: Dante, i medici e la medicina, S. 12 und Petrocchi, Giorgio: Vita di Dante, Bari - Roma: Editori Laterza (1997), Kapitel 4, Absatz 10, http://www.liberliber.it/mediateca/libri/p/petrocchi/vita_di_dante/html/testo.htm#04, zuletzt aufgerufen am 12.9.2013 um 13.28 Uhr
9 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 14
10 Par., XII, 83
11 Vgl. http://www.treccani.it/enciclopedia/taddeo-alderotti_(Dizionario_Biografico), zuletzt aufgerufen am 12.9.2013 um 13.42 Uhr
12 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 14
13 Und zwar um Taddeo Pèpoli – vgl. Anmerkung zu Par., XII, 83
14 Par., XII, 85
15 Bei der Vorstellung Domenicos wird sein Name im Par., XII, 70 das erste Mal genannt, und in den folgenden Terzinen geht es weiterhin um ihn, ohne dass sein Name eigens jedes Mal erwähnt wird, bevor der Satz mit dem Namen Taddeo vorkommt (Par., XII, 82): Non per lo mondo, per cui mo s'affana di retro ad Ost ïense e a Taddeo, ma per amor della verace manna in picciol tempo gran dottor si feo; […] – Ostïense und Taddeo sind also lediglich Beispiele für das Weltliche, das „per lo mondo“, während die Person, die zum „gran dottor“ wird, dies aus Liebe zur echten Himmelsspeise (also eben nicht zum Weltlichen) tut, es kann also nur Domenico gemeint sein.
16 Vgl. Siraisi, Nancy G., „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“. In: The Divine Comedy and the Encyclopedia of Arts and Sciences. Acta of the International Dante Symposium, 13-16 November 1983, Hunter College, New York, hg. v. Giuseppe di Scipio & Aldo Scaglione, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company (1988), S. 223
17 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 224
18 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 224
19 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 11
20 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 224-225
21 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 224
22 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 224
23 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
24 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
25 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
26 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
27 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
28 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
29 Vgl. Park, Katharine: Doctors and Medicine in Early Renaissance Florence. Princeton: Princeton University Press (1985), S.58-67
30 Vgl. Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 227
31 Vgl. Pasi, Dante, i medici e la medicina, S. 14
32 Schipperges, Heinrich: Die Kranken im Mittelalter (1990). München: C. H. Beck, S. 147
33 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 149
34 Lexikon des Mittelalters III: Codex Wintoniensis bis Erziehungs- und Bildungswesen (2002), München: Deutscher Taschenbuch Verlag, Lemma „Diätetik“, H. Schipperges
35 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 149
36 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 163
37 Abu al-Qasim Khalaf ibn Abbas al-Zahrawi, übersetzt von Leclerc, Lucien, La chirurgie d'Abulcasis : précédée d'une introduction (1861), Paris: J.B. Baillière, S. 7-8
38 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
39 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
40 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
41 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 225
42 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
43 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
44 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 226
45 McNeill, William H.: Plagues and Peoples. Harmondsworth, Middlesex: Penguin Books (1979), S. 218-20
46 Siraisi, „Dante and the Art and Science of Medicine Reconsidered“, S. 227
47 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 37
48 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 37
49 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 37
50 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 37
51 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 36
52 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 36-37
53 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 36
54 Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, S. 36-37