Handelt es sich bei Der Schrecken im Bade um eine Idylle? Das ist eine Frage, die nicht zuletzt deshalb schwierig zu beantworten ist, weil der Begriff Idylle nicht endgültig und zweifelsfrei definiert ist. Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die, wenn sie mehrheitlich vertreten sind, darauf hinweisen, dass ein Text eine Idylle darstellt – ohne dass diese Faktoren aber alle und immer in jeder Idylle vorhanden sind. Im Laufe dieser Arbeit wird neben den an späterer Stelle genannten Fragen auch dieser nachgegangen.
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Meine These für diese Arbeit wird sein, dass auch die Idylle einen solchen Versuch des Menschen darstellt, zumindest innerhalb der Literatur dem Tode zu entkommen, und zwar ein gescheiterter Versuch.
Anders als in Schauergeschichten oder in der Science Fiction wird in der Idylle aber nicht versucht, den Menschen in etwas anderes zu verwandeln oder wie beim Klonen immer wieder zu kopieren. Der Mensch soll so, wie er ist, unsterblich bleiben, ohne dass sein körperlicher Verfall fortschreitet, wie es bei Zombies der Fall ist, und ohne dass er seine Lebenskraft oder Individualität von anderen stehlen muss wie ein Vampir oder ein Klon. Es ist der Versuch, die Harmlosigkeit eines schönen Moments ins Unendliche zu verlängern.
Inhaltsverzeichnis
Die Idylle
Was ist eine Idylle?
Idyllen, Körper und Sexualität
Körperlichkeit und Sexualität in der Idylle Kleists
Idyllenmerkmale in Der Schrecken im Bade
Gattungszuordnung
Idyllische Motive
Ehe und Idylle
Körperlichkeit und Sexualität
Schein, Verhüllung und Entdeckung
Quellenverzeichnis
Die Idylle
Was ist eine Idylle?
Heinrich von Kleists Text Der Schrecken im Bade, ursprünglich erschienen im Jahre 1808 im Magazin Phöbus, das Kleist und sein Freund Adam Heinrich Müller selbst herausgaben, ist gleich nach dem Titel mit dem kleinen Zusatz Eine Idylle versehen. Doch was macht einen Text zu einer Idylle?
Der Begriff hat sich, seit er in der Antike aufkam, stark gewandelt. Theokrit nannte 30 seiner Gedichte Idyllen, spätere Dichter aber unterschieden die vermeintlich eigentlichen Idyllen von anderen Gedichten Theokrits mit dieser Bezeichnung.1
Was die Idylle über weite Epochenveränderungen hinweg häufig auszumachen scheint, ist die „Vorherrschaft des Räumlich-Zuständlichen“,2 d.h. die Beschreibung der Landschaft hat Vorrang über die (nicht allzu umfangreiche) Handlung. Während in der antiken Idylle vor allem Hirten die Landschaft, die Liebe oder sich gegenseitig im Gesang loben, werden sie in späteren Idyllendichtungen oft durch andere Figuren ersetzt, die meist ebenfalls ein einfaches, ländliches Leben führen, wie z.B. Bauern.
Auch die Isolation von der Außenwelt ist ein kennzeichnendes Merkmal der Idylle: Es ist selten, dass eine Figur den Schauplatz verlässt oder aus der Außenwelt hinzukommt; geschieht es doch, so ist der Rückweg versperrt oder die Rückkehr wird mit dem Tode bestraft.3 Der locus amoenus,4 an dem die Figuren sich aufhalten, ist nicht nur ein Schatten spendender, kühler und angenehmer Ort mit Bäumen, einer Wasserquelle und Vogelgezwitscher, sondern auch eine Art Käfig, aus dem die Figuren nicht heraus- oder nicht mehr hineinkönnen, auch wenn dies häufig weder ihnen noch dem Leser bewusst wird.
Problematisch ist dabei, dass der Mangel an Handlung und Ortswechseln dem Leser wenig gibt, an dem er sich festhalten kann. Die Zeit läuft in der Idylle nicht vorwärts, und so kann der Text schnell im wahrsten Sinne des Wortes lang-weilig wirken.
Oft spielt in Idyllendichtungen die Liebe eine große Rolle; sie wird besungen, beklagt oder Gegenstand der Erzählung.5
Trotz ihrer als angenehm beschriebenen natürlichen Landschaft, den entspannten, ruhigen Aktivitäten der Figuren (Schafe hüten, singen, Flöte spielen etc.) und der Liebe als Gesprächs- und Gesangsthema ist die Idylle aber nicht zwangsläufig eine Beschreibung des Glücks. Ihre Figuren oder die ihrer Gesänge sind mitnichten immer glücklich, sondern leiden oft an Liebeskummer,6 Armut7 oder sterben8 am Ende sogar.
Die Idylle steht formal oft zwischen den Gattungen: Sie lässt sich nicht eindeutig der Dramatik, der Lyrik oder der Epik zuordnen und weist häufig Elemente aller drei Textarten auf.
Handelt es sich bei Der Schrecken im Bade um eine Idylle? Das ist eine Frage, die nicht zuletzt deshalb schwierig zu beantworten ist, weil der Begriff Idylle nicht endgültig und zweifelsfrei definiert ist. Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die, wenn sie mehrheitlich vertreten sind, darauf hinweisen, dass ein Text eine Idylle darstellt – ohne dass diese Faktoren aber alle und immer in jeder Idylle vorhanden sind. Im Laufe dieser Arbeit wird neben den an späterer Stelle genannten Fragen auch dieser nachgegangen.
Idyllen, Körper und Sexualität
Sexualität ist – aus Sicht der Natur – eine Möglichkeit, die Fortpflanzung und damit das Fortbestehen einer Art zu sichern. Durch Sexualität erreicht die Natur ihr Hauptziel, die Entstehung neuen Lebens. Gleichzeitig muss, wenn neues Leben entsteht, aber auch Platz für dieses neue Leben gemacht werden: Das ältere Leben muss sterben, um dem Neuen Raum zu schaffen. So bildet die Natur einen Kreislauf von Geburt, Leben und Tod.
Für den Menschen, der sich nur auf sexuellem Wege fortpflanzen kann, bedeutet dies, dass er durch Sex einerseits Kinder zeugt und das Fortbestehen der Familie sichert; andererseits bedingt das Vorhandensein von Sexualität auch den eigenen Tod. Ohne sie wäre der Alterungsprozess und das Sterben nicht notwendig.
Die meisten Menschen haben Angst vor dem Tod und wünschen sich, ihm entkommen zu können. Dieser Wunsch nach Unsterblichkeit hat die menschliche Kultur auf mannigfaltige Art geprägt. Neben der Suche nach lebenserhaltenden Zaubertränken, der Entwicklung der Medizin und der Entstehung der Religionen mit ihrer Vorstellung eines ewigen Lebens nach dem weltlichen Tod haben sich auch Kunst und Literatur auf verschiedenste Arten mit dem Thema auseinandergesetzt. Der aktuelle Hype um (unsterbliche, da nicht lebende) Vampire ist nur eine von vielen Ausprägungen der literarischen Erfüllung eines in der Realität nicht umsetzbaren Traums. Auch Klone, Gespenster und Zombies gehören dazu.
All diese Figuren, die einen Ausweg aus der Falle der Sterblichkeit zu bieten scheinen, haben etwas Unheimliches an sich. Sie alle jagen den Menschen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – Angst ein oder zumindest leichte Schauer über den Rücken. Es scheint uns Menschen unmöglich zu sein, uns ein Wesen, dem die Möglichkeit eines natürlichen Sterbens fehlt, als vollständig lebendig vorzustellen, und so haftet all diesen Wesen auch im lebenden Zustand bereits etwas Totes an.
Meine These für diese Arbeit wird sein, dass auch die Idylle einen solchen Versuch des Menschen darstellt, zumindest innerhalb der Literatur dem Tode zu entkommen, und zwar ein gescheiterter Versuch.
Anders als in Schauergeschichten oder in der Science Fiction wird in der Idylle aber nicht versucht, den Menschen in etwas anderes zu verwandeln oder wie beim Klonen immer wieder zu kopieren. Der Mensch soll so, wie er ist, unsterblich bleiben, ohne dass sein körperlicher Verfall fortschreitet, wie es bei Zombies der Fall ist, und ohne dass er seine Lebenskraft oder Individualität von anderen stehlen muss wie ein Vampir oder ein Klon. Es ist der Versuch, die Harmlosigkeit eines schönen Moments ins Unendliche zu verlängern.
Dieser Ansatz bietet eine Erklärung für die Starrheit der meisten Idyllen: Wenn der Mensch sich nicht verändert, so darf, damit er weiter fortbestehen kann, auch seine Umgebung sich nicht mehr ändern, denn der Mensch kann sich ihr nicht mehr anpassen. Würde sich der locus amoenus verändern, so würde dem Menschen seine Existenzgrundlage entzogen.
Auch die Ortswahl (ruhige Orte wie Lichtungen im Wald oder kleine Bauerndörfer) lässt sich durch diesen Ansatz leicht nachvollziehen: Der locus amoenus kann nur vor Veränderung bewahrt werden, wenn ihr Umfang auf ein überschaubares Maß begrenzt ist. Die Zeit darf nicht fortschreiten, denn fortschreitende Zeit führt den Menschen unweigerlich zum Tode. Der Raum muss begrenzt sein, denn nur auf einem begrenzten, kleinen Raum kann die Kontrolle über die Unveränderlichkeit des Zustands und damit über die Zeitlosigkeit aufrechterhalten werden. Eine große Erzählwelt, die mehrere Städte oder gar Länder und viele Figuren umfasst, würde zu viele Wechselwirkungen zwischen zu vielen Faktoren ermöglichen, die in der Idylle gar nicht erwünscht sind, und so werden solche epischen Umfänge des Erzählraums vermieden.
Würden ständig Figuren aus der Außenwelt in die Idylle eindringen und ihre neuen Ansichten, Gewohnheiten und Bräuche mitbringen, so würde die Gesellschaft sich verändern, und Veränderung setzt fortschreitende Zeit voraus. Mit den neu hinzugekommenen Menschen, die nicht zur Familie gehören, könnten sie Sex haben, Kinder zeugen und damit neue Familien gründen; sie selbst müssten körperlich und geistig altern und letzten Endes auch sterben, um den eigenen Kindern das Feld zu überlassen.
Gibt es aber keine neuen Einflüsse von außen, oder werden diese nach ihrem Erscheinen schnell abgetötet, so kann alles bleiben, wie es ist. Es gibt keine logische Notwendigkeit mehr, Figuren altern oder sterben zu lassen. Der Tod scheint – zumindest auf den ersten Blick – ausgeschlossen.
In Idyllen wird Sex vermieden. In den Fällen, in denen einzelne Figuren ihre Sexualität doch ausleben, werden diese hart bestraft. Gibt es einzelne Figuren, die sich verlieben, heiraten oder gar Kinder miteinander bekommen wollen, so werden diese ausgeschlossen, verwandelt9 oder getötet.
Auch dies liegt daran, dass die Entstehung neuen Lebens verhindert werden muss, damit der Prozess des Sterbens nicht in Gang gesetzt wird. Denn Sex führt zur Entstehung neuen Lebens, zu Veränderung und zum Fortlaufen der Zeit.
Doch zum Leben gehört unweigerlich das Zeugen neuen Lebens. Eine Natur, in der kein neues Leben entsteht, ist nicht lebendig. Sie ist nichts weiter als ein starres, statisches Bild – auch, wenn die lange gehegte Vermutung der Literaturwissenschaft, der Begriff Idylle beziehe sich auf ein kleines Bildchen, sich als falsch herausgestellt hat.10 Damit sind die unfruchtbaren11 Figuren in einer idyllischen Konstellation zwar nicht dem Prozess des Sterbens unterworfen, den auszuschließen der Idylle in der Tat gelingt; Doch besteht beim Schreiben der Idylle ein Missverständnis. Irrtümlich wird davon ausgegangen, dass der Prozess des Sterbens und der Tod ein und dasselbe seien. Dies ist nicht der Fall. Denn wer sein Leben nicht lebt, der ist bereits vom Tod durchdrungen, auch ohne dass sein Herz aufhört zu schlagen.
Den Eintritt des Todes einer einzelnen Person als Zeitpunkt an einem konkreten Ort kann man bestimmen und festhalten, doch der Tod als Phänomen ist nicht an die Grenzen von Zeit und Raum gebunden, sondern kann an jedem Ort zu jeder Zeit existieren. Er holt jeden, egal wie gut man sich vor ihm versteckt, und hat selbst weder Anfang noch Ende. Es hat ihn schon immer gegeben und wird ihn auch noch geben, lange nachdem es keine Menschen mehr gibt. Verweigert man ihm seinen Fortschritt in der Zeit, indem man die Zeit – wie in der Idylle – anhält, so durchdringt er stattdessen die gesamte Konstellation und wird allgegenwärtig. Er haftet an jedem Teil der Idylle mindestens ebenso hartnäckig wie an literarischen Vampiren und Zombies. Deswegen gelingt es auch den wenigsten Idyllen, beim Leser ein Gefühl von Frieden oder angenehmer Ruhe herzustellen: Die Idylle ist nur deshalb nicht in Gefahr, weil das vermeintliche Leben in ihr bereits vom Tod durchdrungen ist.
Natürlich stellt sich dann die Frage, was es mit den erotischen Anspielungen in Kleists Der Schrecken im Bade auf sich hat. Neben der These, dass es sich bei Kleists Der Schrecken im Bade tatsächlich um eine Idylle handelt und der These, dass die Idylle als Gattung ein gescheiterter Versuch ist, literarisch ein Refugium vor dem Tod zu schaffen, vertrete ich außerdem die These, dass in dieser Idylle Kleists eine Möglichkeit gefunden wurde, die Sexualität wieder in die Idylle einzubringen: Auf der ersten, oberen Textebene wird der Prozess des Sterbens aufgehalten, indem der Text auf einen überschaubaren Rahmen begrenzt wird und Sexualität nur angesprochen, nicht aber gelebt wird, während auf einer zweiten Textebene unterhalb des eigentlichen Textkörpers – im Subtext – aktiv gelebt und geliebt wird. Durch die Kombination beider Ebenen in einem einzigen Text gelingt es, die Befreiung vom Prozess des Sterbens mit der Freiheit, zu lieben und zu leben zu vereinen und so dem Tod gänzlich zu entkommen.
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1 Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. – 2., durchges. u. erg. Aufl. Suttgart: Metzler (1977), S. 8.
2 Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. – 2., durchges. u. erg. Aufl. Suttgart: Metzler (1977), S. 8.
3 So z.B. in Paul et Virginie von Bernardin de Saint Pierre: Virginie verlässt zwar die idyllische Insel, kann sie aber nicht mehr betreten und Paul heiraten, da sie auf dem Heimweg kurz vor ihrer Ankunft ertrinkt. Vgl.: de Saint Pierre, Bernardin: Paul et Virginie. Paris: Gallimard (1984), S. 223-226.
4 „Die Hirten rühmen einander zum Singen besonders geeignete Plätze; so entsteht das Schema des locus amoenus: Gras, kühle [sic], Quelle, schattige Bäume […]. Verschiedene Baumarten, Vogelgesang, das Zirpen der Zikaden, das Gurren der Tauben, das Bienengesumm variieren die Anmut solcher Orte“ – Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. – 2., durchges. u. erg. Aufl. Suttgart: Metzler (1977), S. 8.
5 „oft hat man sogar die Bevorzugung der Hirtenwelt daraus erklärt, daß einzig dieser Beruf Muße genug gewährt, um Liebe und Gesang zum Lebensinhalt werden zu lassen“ – Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. – 2., durchges. u. erg. Aufl. Suttgart: Metzler (1977), S. 9.
6 So zum Beispiel der bei Theokrit von Thyrsis besungene Daphnis, der sich aus Liebeskummer ertränkt: „ins Wasser ging Daphnis – verschlungen / wurde der Mann, den die Musen geliebt und die Nymphen nicht haßten“: Theokrit: Idylle I. Thyrsis. In: Theokrit. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Harry C. Schnur. Reutlingen: Knödler (1975), S. 15.
7 So zum Beispiel Tityrus, der mit dem Verkauf von Käse und Tieren in der Stadt nicht genug verdient, um seinen Tieren „Futter, das sie nicht gewohnt“ (V. 49) kaufen zu können oder gar mit einer „Hand gefüllt mit Münzen nach Hause“ (V. 35) zu kommen. – Vergil: 1. Ekloge: Die Vertreibung aus der Heimat. In: Hirtengedichte. Lateinisch und Deutsch. München: Goldmann (1994), S. 49.
8 So zum Beispiel Virginie im Roman Paul et Virginie, die, nachdem sie ihre Heimatinsel verlassen hat und zurückkehren möchte, kurz vor ihrer Ankunft vor den Augen des Mannes, den sie heiraten wollte, ertrinkt. – Vgl. de Saint Pierre, Bernardin: Paul et Virginie. Paris: Gallimard (1984), S. 223-226.
9 z.B. im Ninfale Fiesolano, in dem Mensola sich in Wasser verwandelt: „Und weil Diana ihr die Flucht bestritten, ward Mensola zu Wasser nun verwandelt“. – Boccaccio, Giovanni di: Die Nymphe von Fiesole. Übertragen von Rudolf Hagelstange. Berlin: Insel (1957), S. 151.
10 Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. – 2., durchges. u. erg. Aufl. Suttgart: Metzler (1977), S. 2-3.
11 Unfruchtbar in dem Sinne, dass sie keine Kinder bekommen – der Grund dafür muss nicht zwangsläufig ein medizinischer sein, sondern kann auch durch die Lebensumstände oder sonstige Gründe bedingt sein und ist dies in der Regel auch.