Was bedeutet es für den/ die Rezipienten/Rezipientin, wenn eine TV-Serie zu realistisch ist? Wie realistisch sollte eine TV-Serie über Suizid sein? Kann eine TV-Serie zum Suizid verleiten oder kann sie Suizid verhindern? Ist die aktuelle Debatte um 13 Reasons Why ein Beweis für den sogenannten Werther-Effekt? Warum wurde der Selbstmord von Hannah Baker so detailliert gezeigt? Weshalb wurde die Serie nicht genutzt, um suizidalen Menschen Hoffnung und Hilfestellungen zu geben? Welche Rolle könnte dabei der sogenannte Papageno-Effekt spielen? Diese Fragen habe ich mir gestellt und möchte ihnen in dieser Hausarbeit näher auf den Grund gehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Aktualität
1.2. Anlass und Ziel
1.3. Methodisches Vorgehen
2. Realismus: Definition
3. Wahrgenommener Realismus bei der Medienrezeption
4. Der Werther-Effekt
4.1. Begriffsherkunft und empirische Evidenz
4.2. Der Papageno-Effekt
4.3. Leitfaden für den medialen Umgang mit Suizid
5. 13 Reasons Why
5.1. Inhalt
5.2. Meinungsbild auf Social Media
5.3. Positive Aspekte
5.3.1. Enttabuisieren von Themen
5.3.2. Anti-Mobbing-Botschaft
5.4. Negative Aspekte
5.4.1. Missachtung des Leitfadens zum medialen Umgang mit Suizid
5.4.2. Trigger
6. Realismus in TV-Serien und Suizidalität
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Was bedeutet es für den/ die Rezipienten/Rezipientin, wenn eine TV-Serie zu realistisch ist? Wie realistisch sollte eine TV-Serie über Suizid sein? Kann eine TV-Serie zum Suizid verleiten oder kann sie Suizid verhindern? Ist die aktuelle Debatte um 13 Reasons Why ein Beweis für den sogenannten Werther-Effekt ? Warum wurde der Selbstmord von Hannah Baker so detailliert gezeigt? Weshalb wurde die Serie nicht genutzt, um suizidalen Menschen Hoffnung und Hilfestellungen zu geben? Welche Rolle könnte dabei der sogenannte Papageno-Effekt spielen? Diese Fragen habe ich mir gestellt und möchte ihnen in dieser Hausarbeit näher auf den Grund gehen.
1.1. Aktualität
Aber warum sind diese Fragen genau jetzt so aktuell und wichtig? Nachdem am 31.März 2017 die Serie „13 Reasons Why“ (auf Deutsch: „Tote Mädchen lügen nicht“) mit der ersten Staffel auf Netflix erschien, wurde diese schnell zu einem regelrecht viralen Phänomen auf sämtlichen Social Media-Plattformen. Twitter bestätigte, dass die Zahl der Tweets über die Serie im Mai 2017 bereits bei 3,2 Millionen lag. ("Tote Mädchen lügen nicht" alias „13 Reasons Why“ ist die meistdiskutierte Netflix-Serie", 2017) Die zweite Staffel folgte im Mai 2018, eine dritte ist angekündigt. Die zweite Staffel 13 Reasons Why wurde nun wahrscheinlich noch kontroverser diskutiert und die Macher erhielten massive Kritik, weil die Serie für Jugendliche gefährlich sei. „Die Netflix-Serie provozierte eine Debatte darüber, wie explizit Suizid im Fernsehen dargestellt werden darf. Kann eine Fortsetzung gut gehen?“ (Ströbele, 2018, Internetseite) Besonders kritisiert wird die sehr detaillierte Darstellung von Suizid in einer Folge der zweiten Staffel. Diese soll zur Nachahmung verleiten können und es soll bereits Nachahmungsversuche gegeben haben ("Zwei Schülerinnen wollen sich umbringen, weil sie Netflix-Serie gesehen haben", 2017).
1.2. Anlass und Ziel
Durch die Diskussionen in den Sozialen Netzwerken und der massiven Kritik von Ärzten und Gesundheitsorganisationen an 13 Reasons Why wurde ich aufmerksam und habe mich entschieden, die Serie selbst zu schauen. Meine eigene Erfahrung beim Rezipieren der Serie war höchstwahrscheinlich sehr anders, als die eines Menschen, welcher mit psychischen Problemen konfrontiert ist oder war. Deshalb hat es mich sehr interessiert, herauszufinden, was die Serie bei den unterschiedlichsten Menschen auslöst, wie realistisch sie wirklich ist und wahrgenommen wird und ob es das ist, was sie gefährlich macht. Die Serie hat wegen ihres Inhalts, aber auch der Diskussionen darum, große Aufmerksamkeit und eine große Bedeutung für unsere Generation erlangt. Interessant finde ich die Botschaft, die die Serie vermittelt, warum sie das tut und was sie stattdessen ihren Rezipienten mitgeben könnte. Vielleicht kann sogar durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Serie in der Öffentlichkeit erreicht werden, dass eine dritte Staffel von Seiten der Produzent/innen überdacht wird. Viele kritische Stimmen wünschen sich, dass eine dritte Staffel entweder eine andere Botschaft enthält oder gar nicht erst gedreht wird.
1.3. Methodisches Vorgehen
Da es sich um ein Internetphänomen handelt, habe ich dort Meinungen, Reaktionen, Artikel, Nachrichten-Meldungen, Videos, Tweets und Blogposts gesucht, gesammelt und gespeichert. Diese habe ich dann sortiert und systematisiert und mir damit einen Ausschnitt des Meinungsbildes eingeholt. Dabei bin ich auch auf wissenschaftliche Arbeiten und Theorien, wie die des Werther-Effekts und des Papageno-Effekts gestoßen, welche ich im Laufe der Arbeit einfließen lassen werde. Zunächst werde ich den Realismusbegriff definieren und auf die Wahrnehmung von Realismus in den Medien eingehen, indem ich mich auf die, in 2015 von Bilandzic, Schramm und Matthes erforschten, Dimensionen wahrgenommenen Realismus beziehe. Dann folgen die Begriffsherkunft des Werther-Effekts und seine empirische Evidenz, sowie eine Erläuterung des Papageno-Effekts. Darauf stützen sich die Leitlinien zur Berichterstattung über Suizid, welche ich in Bezug zu 13 Reasons Why setzen werde. Dafür fasse ich kurz den Inhalt der Serie zusammen und umreiße das Meinungsbild über die Serie auf den Sozialen Netzwerken, wobei ich mich auf Twitter konzentriere. Des Weiteren stelle ich positive und negative Aspekte der Serie gegenüber, um eine möglichst neutrale, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu gewährleisten. Das führt mich zu dem Versuch, einen Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Realismus in TV-Serien und Suizidalität zu finden. Im letzten Gliederungspunkt komme ich somit zum Fazit, indem ich versuche meine Fragen vom Anfang zu beantworten und einen Ausblick für eine weitere Auseinandersetzung mit der Serie zu geben.
2. Realismus: Definition
Realismus ist ein Begriff, der sich über alle Bereiche der Kunst, Literatur und Philosophie erstreckt. Er bezeichnet eine Stilrichtung in der Literatur und Kunst, „die sich […] der wirklichkeitsgetreuen Darstellung bedient“ (Duden online, 2018) und einer Denkrichtung der Philosophie, „nach der eine unabhängig vom Bewusstsein existierende Wirklichkeit angenommen wird, zu deren Erkenntnis man durch Wahrnehmung und Denken kommt“ (Duden online, 2018). Der Duden definiert das Wort „realistisch“ als „der Wirklichkeit entsprechend; lebensecht und wirklichkeitsnah“, „sachlich-nüchtern; ohne Illusion und Gefühlsregung“ (Duden online, 2018).
3. Wahrgenommener Realismus bei der Medienrezeption
Bilandzic, Schramm und Matthes (2015) erläutern in ihrem Werk „Medienrezeptionsforschung“ unter anderem die folgenden Dimensionen des empfundenen Realismus:
-„Magisches Fenster: Realismus liegt auf einem Kontinuum zwischen reiner Fiktion und einem Fenster, das den Rezipientinnen und Rezipienten einen unverstellten Blick auf die reale Welt erlaubt.
-Sozialer Realismus: Ausmaß, in dem Medieninhalte als ähnlich zum echten Leben empfunden werden.
-Plausibilität: Das Dargestellte könnte auch in der realen Welt existieren.
-Wahrscheinlichkeit: Häufigkeit, mit der ein Ereignis in der realen Welt vorkommt.
-Identität oder Involvement: Ausmaß, in dem Zuschauer Bezüge zum Fernsehinhalt herstellen, sich in die Inhalte involvieren und sich den Figuren nahe fühlen.
-Nützlichkeit: Grad, mit dem Fernsehinhalte nutzbringend für das eigene Leben sind. Narrativer Realismus: Ausmaß der innen Stimmigkeit einer Geschichte.
-Relativer Realismus: Inwiefern das Dargestellte, wenn es denn in der Realität passieren würde, auch genau so ablaufen würde und typisch wäre für das reale Geschehen“ (Bilandzic, Schramm & Matthes, 2015, S. 163).
Diese 8 Dimensionen sind ausschlaggebend dafür, ob und wie sehr wir ein Medienprodukt als realistisch empfinden. Denn „[…] je mehr Rezipierende sich mit den Figuren medial vermittelter Inhalte identifizieren und mit ihnen mitfiebern, je mehr sie dazu bereit sind, das Rezipierte auch im eigenen Leben anzuwenden, umso mehr schätzen sie das Medienprodukt als wirklichkeitsnah und realistisch ein […].“ (Odag, 2014, S. 295)
4.Der Werther-Effekt
Den Werther-Effekt gibt es schon seit Jahrhunderten und „[…] ist ein Begriff der Medienwissenschaft und steht generell als Synonym für den Suizid als Vorbildtat.“ (Heliosch, 2014, S. 2) Bei diesem Phänomen wird der Zusammenhang zwischen Suiziden von prominenten Personen und Suiziden in der allgemeinen Bevölkerung im selben Zeitraum, sowie die Rolle der Medien dabei, untersucht (Heliosch, 2014). Er beschreibt also den Zusammenhang zwischen medial berichteten Suiziden und Suiziden in der Bevölkerung, die kurz danach passieren.
4.1. Begriffsherkunft und empirische Evidenz
Zurückzuführen ist der Werther-Effekt auf Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers, welcher 1774 erschien. In diesem bringt sich die Figur Werther aufgrund unerfüllter Liebe um, was sich damals Menschen in ganz Europa zum Vorbild nahmen und es ihm gleich taten. Der Soziologe David Philips führte im 20. Jahrhundert den Begriff des Werther-Effekts ein und konnte im Jahre 1974 einen kausalen Zusammenhang zwischen der medialen Inszenierung von Suiziden prominenter Personen mit Suizidopfern in der allgemeinen Bevölkerung beweisen. (Heliosch, 2014)
4.2.Der Papageno-Effekt
Der Papageno-Effekt steht dem Werther-Effekt inhaltlich entgegen und besagt, dass eine bestimmte Form der medialen Berichterstattung suizidprotektiv, also vorbeugend, wirken kann (Stangl, 2018). Eine Studie von Niederkrotenthaler, Voracek, Herberth und Till (2010) zeigte, „dass Berichte darüber, wie Menschen eine Krisensituationen konstruktiv und ohne suizidales Verhalten bewältigen, in der Woche nach dem Erscheinen des jeweiligen Artikels mit einer Senkung der Suizidraten einher geht […]“ (Stangl, 2018, Internetseite). Namensgebend für dieses Phänomen war eine Figur aus Mozarts Zauberfl ö te, welche ihre Suizidgedanken mithilfe von drei Knaben überwinden konnte. Das zeigt, dass es Betroffenen helfen kann, wenn ihnen Lösungsansätze und Hilfsangebote aufgezeigt werden und Beistand geleistet wird. (Stangl, 2018)
4.3. Leitfaden für den medialen Umgang mit Suizid
Angelehnt an den Papageno-Effekt gibt es gewisse Leitlinien, an die man sich bei der medialen Berichterstattung über Suizid und dessen Darstellung halten sollte, um einen Nachahmungseffekt zu verhindern oder einzudämmen. Tomandl, Sonneck, Stein und Niederkrotenthaler fassten diese 2014 in einem Leitfaden für das österreichische Kriseninterventionszentrum zusammen.
Laut diesem sollten „[g]roße oder sensationsträchtige Überschriften und Platzierungen auf der Titelseite, Formulierungen wie „Selbstmord als letzter Ausweg“, „Das ist der Selbstmörder“, „Selbstmordwelle bei Jugendlichen“, „Selbstmordserie […]““ (Tomandl et al., 2014, S. 6) vermieden werden. Auch wertende Aussagen wie „„[e]rfolgreicher, nicht erfolgreicher oder missglückter Selbstmord“, Details zur Person (Foto, Name, Lebensumstände), Details zur Suizidhandlung (Methode, Ort) […]“ (Tomandl et al., 2014, S. 6) können Nachahmungssuizide auslösen. Genau wie „[v]ereinfachende Erklärung für den Suizid, Heroisierung der Person, Romantisierung des Suizids, Interviews mit trauernden Angehörigen, Zitate der Polizei und anderer Ersthelfer über die Hintergründe des Suizides“ (Tomandl et al., 2014, S. 7) und die Erwähnung eines Abschiedsbriefes. „Ein ausgewogener Bericht, insbesondere über bewältigte Krisen, kann konstruktive Wege aus der Krise aufzeigen („Papageno Effekt“).“ (Tomandl et al., 2014, S. 6). „Bieten Sie dabei womöglich hilfreiche Informationen für Menschen in ähnlichen Lebenskrisen. Anstelle des diskriminierenden Wortes „Selbstmord“ verwenden Sie bitte „Suizid“ oder „Selbsttötung“ […]“ (Tomandl et al., 2014, S. 6).
5. 13 Reasons Why
Nicht nur die Diskussion um 13 Reasons Why in den sozialen Netzwerken ist wichtig. Auch für die Leitlinien der Suizid-Berichterstattung und die Dimensionen des empfundenen Realismus ist die Serie ist ein bedeutsames Beispiel. Deshalb möchte ich mich im Folgenden auf die Serie beziehen und auch die in den letzten Kapiteln erwähnten Modelle und Phänomene anhand dieser erklären. Dazu fasse ich zunächst kurz den Inhalt zusammen.
5.1. Inhalt
13 Reasons Why ist eine US-amerikanische Fernsehserie, die auf Jay Ashers Bestseller von 2007 basiert und im März 2017 erstmalig auf Netflix erschien.
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