Martin Luther ist die Person, von der es die meisten literarischen Überlieferungen aus dem 16. Jahrhundert gibt. Anlässlich des 500. Reformationsjubiläums zur Veröffentlichung der 95 Thesen im Jahr 2017 entstanden viele Bücher, Reportagen, Filme und andere Publikationen über Martin Luther. Eine Textgattung, die dabei eher wenig in den Fokus geriet, waren seine Tischreden. Sie sind wohl eine seiner am kritischsten zu beurteilenden Textsorte, da sie nicht Luthers Originalsprache wiedergeben. Die Tischreden entstammen Luthers letzten 15 Lebensjahren von 1531 bis zu seinem Tod im Jahr 1546. Der lebenserfahrene Luther spricht in den überlieferten Tischreden von Themen wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Darunter über den christlichen Glauben, Kirche, den Staat, Familie und Zusammenleben.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Martin Luthers Sprache
3 Martin Luthers Tischreden
3.1 Entstehung
3.2 Themen
3.3 Editionsgeschichte und Verbreitung
3.4 Kritik an Johannes Aurifaber
3.5 Analyse der Tischrede 452 aus der Weimarer Ausgabe
3.6 Analyse der Tischrede 631 aus der Weimarer Ausgabe
3.7 Analyse der Tischrede 1554 aus der Weimarer Ausgabe
4 Resümee
I Literaturverzeichnis
II Anhang
1 Einleitung
Martin Luther ist die Person, von der es die meisten literarischen Überlieferungen aus dem 16. Jahrhundert gibt. Anlässlich des 500. Reformationsjubiläums zur Veröffentlichung der 95 Thesen im Jahr 2017 entstanden viele Bücher, Reportagen, Filme und andere Publikationen über Martin Luther. Eine Textgattung, die dabei eher wenig in den Fokus geriet, waren seine Tischreden. Sie sind wohl eine seiner am kritischsten zu beurteilenden Textsorte, da sie nicht Luthers Originalsprache wiedergeben. Die Tischreden entstammen Luthers letzten 15 Lebensjahren von 1531 bis zu seinem Tod im Jahr 1546. Der lebenserfahrene Luther spricht in den überlieferten Tischreden von Themen wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Darunter über den christlichen Glauben, Kirche, den Staat, Familie und Zusammenleben. Bereits 20 Jahre nach Luthers Tod veröffentlichte der Theologe und Reformator Johannes Aurifaber einen ersten Druck mit Luthers Tischreden. Seitdem folgte eine komplexe Editionsgeschichte. Da sie zum Teil in Deutsch übertragen wurden, geben die Tischreden Aufschluss darüber, welches Deutsch in der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Region des heutigen Thüringen gesprochen wurde. Dass Luthers Tischreden überhaupt mitgeschrieben und später veröffentlich wurden, zeugt von der Verehrung die ihm entgegengebracht wurde und der Empfindung seiner Mitmenschen, dass Luthers Reden von großem Wert sind. Seine Tischreden geben uns einen „Einblick in familiäre Alltagssituationen und Beziehungskonstellationen, andererseits hat das Wissen um die Anfertigung von Mitschriften Luthers Redegestaltung und Themenwahl nachweislich beeinflusst“[1]. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die uns überlieferten Tischreden Martin Luthers Sprache entsprechen. Zuerst muss dazu Luthers Sprache untersucht werden. Im Anschluss sollen Themen, Editionsgeschichte und Verbreitung von Luthers Tischreden skizziert werden. Ein Kapitel wird der Kritik an Johannes Aurifaber gewidmet, der einen bedeutenden Beitrag zur Überlieferung von Luthers Tischreden leistete. Anhand von Beispielen soll die Kritik, die an der Überlieferung der Tischreden verübt wird, nachempfunden werden. Durch die Analyse der Tischreden soll die Argumentationsführung, Wortwahl und Thematik im Hinblick auf Martin Luthers Sprache interpretiert werden. Eine genaue Abgrenzung zwischen Erfindung und Wahrheit lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, da keine Originalnotizen der Schreiber vom Tisch erhalten sind. Eine Betrachtung der überlieferten Tischreden kann dennoch von Bedeutung sein, da sie eine genaue Auseinandersetzung mit Luthers Sprache mit sich zieht. Literatur über Martin Luthers Tischreden gibt es zahlreich, wobei die kritische Weimarer Gesamtausgabe die wohl bedeutendste Sammlung seiner Tischreden ist. Andere Sammlungen von Tischreden entstammen dem Anfang des 20. Jahrhunderts, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern die Tischreden in Themenrubriken veröffentlichten. Viele Bücher, die im 20. Jahrhundert über Martin Luthers Tischreden erschienen, haben nicht an Zitierwürdigkeit verloren. Erkenntnisse aus neusten Forschungen in einem Sammelband, welches von Katharina Bärenfänger und anderen Autoren 2013 herausgegeben wurden, zeigt, dass die Edition und Analyse von Luthers Tischreden bis heute noch nicht abgeschlossen ist.
2 Martin Luthers Sprache
Bei der Betrachtung von Luthers Sprache wird man schnell feststellen, dass Luther ein guter Redner war und „ohne Zweifel eine große Sprachbegabung“[2] besaß. Luthers Sprachgebiet lag im ostmitteldeutschen Raum, im heutigen Norden von Sachsen und in Thüringen. Wichtige Stationen seines Lebens waren unter anderem Eisleben, Mansfeld, Magdeburg, Eisenach, Erfurt und Wittenberg, die seine Sprache mit verschiedenen Dialekten prägten. Luther stand „im Schnittpunkt gelehrter wie volkstümlicher, fremder wie heimischer Sprach- und Übersetzungstraditionen“[3]. Mit seinen Reden und Schriften schaffte er einen sozialen und regionalen Ausgleich der Sprache. Er sprach die beiden Sprachen Deutsch und Latein, oft auch in Kombination. Luthers Zweisprachigkeit geht auf seine Bildung zurück, denn Latein war die Lern- und Schulsprache, Schreib- und Lesesprache, Sprache der Wissenschaft und Liturgie. Deutsch wurden von der breiten, einfachen Bevölkerung gesprochen und verstanden. Mit der Bibelübersetzung in das Deutsche „zeigte sich die [...] Tendenz, solche Stoffe in der deutschen Sprache darzustellen, die für breite Kreise der damaligen Gesellschaft von Bedeutung waren“[4]. Für die Verständigung wurde die deutsche Sprache im Laufe, des 16. Jahrhunderts immer wichtiger. Im Jahr 1517 begann Luther auf Deutsch zu schreiben, was bis 1535 dazu führte, dass er seinem Freund Wenzeslaus Link in einem Brief schrieb, dass es schon lang her gewesen ist, als er zuletzt lateinisch geredet und geschrieben habe.[5]
Für Martin Luther selbst war Sprache ein Hilfsmittel, um sich als Theologe und Reformator ausdrücken zu können und dabei von jedem verstanden zu werden. In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen“ aus dem Jahr 1530 schreibt Luther: man mus nicht die buchstaben inn der lateinische sprachen frage, wie man sol Deutsch reden, [...] sondern man mus die mutter jhm hause, die Kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, oft den selbige auff das maul sehen, wie sie reden.[6]
Was sich im Brief auf das Übersetzen betrifft, lässt sich auf die gesprochene Sprache ausweiten. Damit bekräftigt er sein Ziel vom einfachen Volk verstanden zu werden, indem er es wichtig findet auf das Sprachsystem der einfachen Leute zu achten und nach dieser seine Reden und Schriften zu verfassen. Seine „Sprach- und Stilgebung war also von vornherein auf Wirkung berechnet“[7]. Um diese Wirkung zu erzielen, bediente er sich der Rhetorik aus den Lehren der Antike und nutze Rhetorik um die Intentionen seiner Reden gezielt umzusetzen. Mit Hilfe von rhetorischen Mitteln wird seine Sprache bildhaft und gut verständlich. Auch Sprichwörter und Weisheiten in Form von Sprüchen flossen in Luthers Sprache ein. Zur Abwertung von Personen verwendete er derbe und vulgäre Bezeichnungen, Schimpfwörter oder Vergleiche aus dem Tierreich wie Esel oder Hund. Die zum Teil derbe Redensart Martin Luthers entsprach der Redensart des 16. Jahrhunderts, „verlieh der Rede eine gewisse Würze“[8] und spiegelt Luthers Temperament wieder.
Einheitliche Regeln zur Orthografie gab es zu Luthers Zeiten noch nicht. Es gab bei der Orthografie Schwankungen innerhalb eines zulässigen Rahmens, in dem das Verständnis nicht beeinträchtigt wurde. Auch Luther machte sich bis zum Jahr 1522 kaum Gedanken um Rechtschreibung, worüber seine Schriften Aufschluss geben. Erst als er merkt, dass es bei den Druckereien und Korrektoren seiner Texte zu inhaltlichen Missverständnissen kommt, beginnt er seine Aufmerksamkeit auf die Rechtschreibung seiner Schriften zu legen. In seinen Texten gibt es den Ansatz die Substantive groß zu schreiben, es erfolgt jedoch keine konsequente Großschreibung wie wir sie heute kennen. Im Laufe seines Lebens bemühte sich Luther diese Entwicklung zu unterstützen. In Luthers Handschriften konkurrieren Punkt und Komma als universelle Zeichen oder er lässt Satzzeichen ganz weg.[9] Andere Satzzeichen werden nicht durchgängig, sondern nur sporadisch gesetzt.
In Bezug auf Bedeutungswandel lassen sich einige Wortbedeutungen auf Luther zurückführen. So zum Beispiel das Wort „Beruf“, welches die Bedeutung „Ruf, Berufung“ meist nur für den Beruf des Pfarrers hatte. Eine Bedeutungserweiterung erfolgte durch Luther hin zur Bedeutung, wie sie heute im Neuhochdeutschen mit „Amt, Stand, Tätigkeit“ verwendet wird.[10]
Luther nahm sich den Tendenzen zur Veränderung der Sprache im 16. Jahrhundert an. Durch sein großes literarisches Schaffen festigte er die sprachlichen Entwicklungen und entwickelte sie weiter.
3 Martin Luthers Tischreden
3.1 Entstehung
Martin Luthers Tischreden entstammen Gesprächen die am Tisch geführt wurden und zu denen er etwas beitrug. Sie entstanden aus dem Augenblick, aus lebhaften Gesprächen heraus und waren kaum vorbereitet. Da die Schreiber lediglich Luthers Rede festhielten, lässt sich nicht nachvollziehen, was durch andere Sprecher zum Thema beigetragen wurde. Denn zusätzlich beteiligten sich die am Tisch Anwesenden, wie Studenten, Reformatoren, Angehörige des kurfürstlichen Hofes, Familienmitglieder oder auswärtige Gäste. Luthers Tischreden wurden erstmals 1531 vom Zwickauer Pfarrer Konrad Cordatus, der sich für etwa ein Jahr unter Luthers Gästen befand, mit Luthers Einverständnis mitgeschrieben. Bald darauf folgten andere Anwesende seinem Beispiel und schrieben die Reden mithilfe von Abkürzungen mit. Es kam vor, dass mehrere Schreiber am Tisch saßen und mitschrieben. Es wurde jedoch nicht jedes Gespräch mitgeschrieben, sondern erst wenn das Gespräch für die Schreiber interessant wurde. Mitschriften, die an einem anderen Ort, wie zum Beispiel im Garten oder am Bett des erkrankten Luthers, aufgezeichnet wurden, gelten ebenfalls als Tischreden.[11] Aus den Notizen wurden im nächsten Schritt Nachschriften angefertigt, indem die Notizen vervollständigt und ausformuliert wurden. Dazu wurden die Notizen zwischen den verschiedenen Schreibern ausgetauscht. Die Nachschriften wurden meist chronologisch in Heften gesammelt, woraus später Sammlungen entstanden. Die Notizen „wurden bei Bedarf an interessierte Abschreiber weitergeleitet, so dass es zu einer Vielzahl von Tischreden-Abschriften und Tischreden-Sammlungen kam“[12]. Die Mitschriften wurden hauptsächlich für die privaten Erinnerungen angefertigt, ohne an eine spätere Veröffentlichung zu denken, und wurden somit subjektiven Veränderungen unterzogen. Der Anspruch des Wahrheitsgehaltes rückt somit in den Hintergrund. Widersprüche, Wiederholungen und Parallelen der Tischreden erklären sich, weil „zwei oder drei Nachschriften von ein und demselben Gespräch von verschiedener Hand“[13] entstanden.
Luthers spricht in seinen Reden aus der Sicht des Reformators und des gereiften Mannes „der die entscheidenden, innerlich aufwühlenden [...] Jahre seines Lebens hinter sich hat [...] und nun zäh, tapfer, mutig, glaubensstark, willensfest daran ist, sein Werk unablässig zu festigen und auszubauen“[14]. Die breite Sammlung an Themen spiegelt das Leben der Menschen zur Zeit Luthers mit all seiner Fülle wieder. Was die Menschen an Luthers Tisch täglich beschäftigte, was die Lebensfragen der Menschen im 16. Jahrhundert waren und welche Gedanken sie sich machten wird aus den Tischreden für die Nachwelt ersichtlich. Auch die Sprache der Tischreden war eine Mischung aus Deutsch und Latein und wurden in einer Mischform aufgeschrieben.
3.2 Themen
In Luthers Tischreden gibt es neben Themen, die das familiäre Zusammenleben und Private betreffen, Themen über Gott, Papst, Kaiser, verschiedene Bevölkerungsgruppen oder andere Themen die das Geistliche, Gesellschaftliche und Politische betreffen. Die Ungezwungenheit einer Tischgesellschaft schaffte eine Atmosphäre in der auch Themen besprochen wurden, die das Private betreffen. Im Vordergrund standen aber Fragen über den christlichen Glauben und das richtige Verständnis der Bibel. Es gibt Themen, die immer wieder aufgegriffen werden, wie zum Beispiel das Beten, Papsttum oder die Ehe. Ebenfalls sind Themen, die die Natur oder Geschichte betreffen, enthalten. Meist dienen die Beobachtungen aus der Natur als Gleichnis für Gottes Wirken.[15] Anhand der Themen wird das Selbstbild Luthers erfahrbar. Sie geben Aufschluss darüber, wie Luther über sich und sein Leben denkt. Selbst wenn Luther schweigend an den Tisch kam und nach dem Brauch als Mönch sein Essen still zu sich nahm, begannen die Tischpartner ein Themen anzusprechen „deren sich Luther schließlich annahm, manches abschließend beantwortete [oder] anderes weiter diskutieren ließ“[16]. Die Bandbreite an Themen spiegelt die Vielfältigkeit eines Menschenlebens wieder. Das Besondere an den Tischreden ist, dass die Zuhörer zum Thema Bezug nehmen und Nachfragen stellen konnten. Bei Predigten oder Vorlesungen Luthers war das Thema vorgegeben und wurde nach seinen Vorstellungen bearbeitet. Die Gestaltung der Tischreden war im Vergleich dazu offener und die Atmosphäre lockerer.
3.3 Editionsgeschichte und Verbreitung
Die erste Druckausgabe erschien im Jahr 1566 20 Jahre nach Luthers Tod von Johannes Aurifaber. Sie war thematisch in 80 Rubriken eingeteilt. Johannes Aurifaber war ein Gnesiolutheraner und veröffentlichte die Tischreden mit dem Ziel „an Gottes Wirken durch Luther zu erinnern und der zeitgenössischen Undankbarkeit für die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft des Papstes entgegen[zu]treten“[17]. Darin sind neben eigenen Mitschriften von Aurifaber auch Mitschriften von Schreibern wie Anton Lauterbach, Veit Dietrich, Johannes Mathesius oder Kaspar Heydenreich. Der Theologe und Reformator begann 1940 ungedruckte Texte von Luther festzuhalten und Reden und Predigten mitzuschreiben. 1545 war er Luthers studentischer Gehilfe und lebte in dessen Haus. Unter dem Mansfelder Grafen war es ihm möglich sich 1561 in Eisleben Luthers Schriften und Reden zu widmen. Aurifaber verwendete bei der Herausgabe Luthers Tischreden die Sammlung von Joseph Hänsel als wichtigste Quelle, der im Auftrag seines Superintendenten Anton Lauterbach seit 1551 Mitschriften anfertigte und dazu wiederum dessen Aufzeichnungen verwendete. Lateinische Reden übertrug Aurifaber ins Deutsche und hielt sich dabei nicht immer nah am lateinischen Text. Seine Veröffentlichung wurde mehrfach nachgedruckt und raubkopiert.
Um die Tischreden über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt zu machen, veröffentlichte der Pfarrer Heinrich Peter Rebenstock zwei Bände einer lateinischen Ausgabe und berief sich dabei auf Joseph Händel als Hauptquelle. Diese Veröffentlichungen stießen auf ein geringes öffentliches Interesse und wurden nicht nachgedruckt.
Johann Georg Walch, ein Jenaer Theologieprofessor, veröffentlichte bis 1753 eine Ausgabe mit Luthers Texten in 24 Bänden und nutzte dafür die jüngsten Ausgaben, auf die er zugreifen konnte. Er modernisierte unter anderem das Deutsch. Auch Karl Eduard Förstemann, Bibliothekar und Professor an der Universität Halle, trug zur Editionsgeschichte bei. Er überarbeitete die Texte aus Aurifabers Ausgabe und notierte Abweichungen und Überarbeitungen zu Walch und anderen Editoren. Durch seinen Tod musste diese Arbeit von Heinrich Ernst Bindseil fortgeführt werden, der die Arbeit 1848 abschloss.
Der Professor Albert Friedrich Hoppe, der von 1849 bis 1914 lebte, verglich die neueditierten Quellen mit der Ausgabe von Aurifaber und kam zu dem Ergebnis, dass Aurifabers Ausgabe viele Dublikate enthält. Neben Dopplungen kommen neue Tischreden hinzu, die aus anderen Schriften Luthers entstammen, angepasst wurden und als Tischreden ausgegeben wurden. Zum Teil wurden die Texte durch Aurifaber stark erweitert und verfälscht. Hoppe hat versucht, mit der Ausgabe von Walch die ursprünglichen Tischreden zu rekonstruieren und lateinische Vorlagen neu zu übersetzten.
Ernst Kroker, seit 1911 Oberbibliothekar an der Universität Leipzig, bearbeitete die Tischreden für die kritische Weimarer Gesamtausgabe. Dazu konnte er sich auf die von Hoppe mit Mängeln kenntlich gemachte Aurifaberausgabe berufen und auf „die Neuausgabe ursprünglicher Sammlungen des 16. Jahrhunderts“[18]. Zusammen mit Johannes Haußleiter ordnete er die Tischreden nach den Überlieferungen, also nach Schreibern oder Sammlungen von Nachschriften. Die Nachschriften von Anton Lauterbach, Johannes Mathesius, Veit Dietrich und Johannes Schlaginhaufen sind sicher zu identifizieren und zu belegen.[19] Es entstand eine Ausgabe, in der Kroker die verfügbaren ursprünglichen Quellen verwendete und Parallelen zu Aurifabers Ausgabe in den Fußnoten einfließen ließ. Dazu verwies er auf die Übersetzungen und Verbesserungsvorschläge von Walch. Er kennzeichnet ursprüngliche Mitschriften der Tischreden, abgeleitete Tischreden durch mehrere Schreiber oder Themenzusammenhänge zu anderen Tischreden. Die kritische Weimarer Ausgabe wurde immer wieder ergänzt oder korrigiert. Auch in Zukunft sind weitere Nachträge aufgrund von Unvollständigkeit zu erwarten. Denn die in der Weimarer Ausgabe einbezogene Quellenbasis von 40 Handschriften hat sich seitdem erweitert.
Übersetzungen nach Aurifabers Ausgabe ins Englische im Jahr 1652 förderten die Verbreitung. Auch die Weimarer Ausgabe nach Kroker löste eine neue Verbreitungswelle aus. Weitere Veröffentlichungen von Bänden innerhalb von Bandreihen folgten. Einzelne Bände, Zusammenstellungen von Auswahlen unter Themenrubriken und Taschenbuchformate begleiten die Verbreitung bis heute und Übersetzung über das Englische hinaus folgten.
3.4 Kritik an Johannes Aurifaber
Die folgenden Analysen von Tischreden beziehen sich unter anderem auf Johannes Aurifabers Übersetzung. Aurifabers Nachschriften müssen kritisch betrachtet werden, da er die Vorlagen nach seinem Ermessen veränderte. Kritiker finden besonders daran Anstoß, dass Aurifaber mit seinen Übersetzungen Luther Aussagen zuschreibt, die er in dieser Form nie sagte. Er verfälschte auch inhaltliche Aussagen Luthers und konstruiert für die Leser ein Bild von Luther, dass nicht der Wahrheit entspricht. Aurifaber glättete in seiner Ausgabe die verschiedenen Sprachstile der Abschreiber und fügte den Texten ausschweifende Ergänzungen und Interpretationshilfen an. Verschönerungen und Synonyme kamen durch ihn hinzu, um grobe oder unanständige Wörter Luthers auszutauschen. Seine Verharmlosungen sieht man bei der Übertragung von „choreae vel elegantis puellae“, was für Luther Gedanken sind, die den Teufel vertreiben sollen.[20] Luthers klare Sprache wird durch Aurifaber in eine viel ausschweifendere Übersetzung übertragen: „dass man Kurzweile treibe mit dem spazieren gehen, essen, trinken, zun Leuten gehe, mit ihnen rede und fröhlich sei, daß man der schweren Gedanken los werde“[21]. Luthers Originalsprache entsprechen die Tischreden auch deshalb nicht, da am Tisch eine Mischung aus Latein und Deutsch gesprochen wurde und von den Nachschreibern in einer eigenen deutsch-lateinischen Fassung übernommen wurden.[22] Es besteht kein Zweifel daran, dass im Vergleich zu anderen Mit- und Nachschreibern die Texte und Übersetzungen von Aurifaber größere Abweichungen zeigen. Eine wortgetreue Wiedergabe und Veröffentlichung der Tischreden war aber nicht sein Ziel. Genau wie die anderen Schreiber war auch er ein Bewunderer von Martin Luther, weshalb es für ihn wichtig war Luthers Tischreden mitzuschreiben. Er erlebte Luther zu seiner Lebzeiten selbst und war Zeitgenosse an dessen Tisch. Zu einigen Tischgesprächen machte er sich eigenhändig Notizen, die er später ausformulierte, und sammelte Tischreden anderer Schreiber. Seine Ausschmückungen, Erklärungen und Zusätzen unterstützten dabei seine Absicht Gottes Wirken durch Martin Luthers Tischreden darzustellen. Er wollte die christlichen Lehren aus Luthers Reden für die Öffentlichkeit zugänglich machen und sah seine Arbeit als christlichen Dienst. Dank ihm wurden die Tischreden erstmals veröffentlicht und auf Deutsch für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht. Aurifabers Tischredensammlung wurde vollständig in die kritische Weimarer Ausgabe hineingenommen, da die Tischreden jahrhundertelang „ihre segensreiche Kraft fast nur in der Gestalt wirken lassen [konnten], die Aurifaber ihnen gegeben hat“[23]. Eine Analyse Aurifabers Texte erfolgt deshalb in Hinblick auf diese Vorüberlegungen. Mit der Überlegung was im Text Luthers Sprache entspricht, kann die Analyse die Möglichkeit bieten sich Luthers Sprache auf einer abstrakteren Ebene anzunähern.
3.5 Analyse der Tischrede 452 aus der Weimarer Ausgabe
Die Tischrede aus dem ersten Band der Weimarer Ausgabe mit der Nummer 452 entstammt der Handschrift von Veit Dietrich und lässt sich zwischen die Jahre 1532 und 1533 einordnen. Sie befinden sich in der Nürnberger Staatsbibliothek. Dietrich war Theologe, Luthers Famulus und Sekretär. Seine Nachschriften gelten als sehr glaubwürdig, weshalb die Weimarer Ausgabe mit Dietrichs Sammlung beginnt. Die Tischrede ist zunächst in Latein verfasst. Luthers[24] Ärgernis über Untaten, die im Zusammenhang mit der christlichen Lehre geschehen sind, werden angesprochen. Daraufhin wechselt die Sprache und geht in das Deutsche über. Dabei wird kein reines Deutsch gesprochen und geschrieben, sondern eine Mischform innerhalb des Satzes, wie das Wort „quia“, das einen Nebensatz einleitet, zeigt. Im Glauben daran, dass die Religion für die Auserwählten ist, hat Luther den Willen zu predigen und seinen vollen Ernst auf alle Handlungen, die im Zusammenhang mit der Religion stehen, zu richten. Sofern Luther diese Aussagen traf, spürt man anhand der kurzen aneinandergereihten Sätze und sparsamen Wortwahl, die Eindringlichkeit dieser Wörter. Indem auch im folgenden Satz „Umb der ander willen wolt ich nit ein wort verlieren“[25] das Wort „willen“ benutzt wird, wird das Verständnis durch die Wortwiederholung erleichtert. In den Sätzen spielt eine gewisse Gereiztheit und Anspannung mit, die im folgenden Satz durch einen derben Vergleich entladen wird. Es wird ein bildhafter Vergleich aufgebaut, in dem Huldrych Zwingli und Erasmus von Rotterdam als „eitel locherte nuß, die eim ins maul scheissen“[26], also als Nüsse die faul sind und beim Essen im Mund ein sehr unangenehmes Gefühl hinterlassen, bezeichnet werden. Den schlechten Nüssen hat Luther aber trotzdem eine Chance gegeben, indem es heißt „Ich hab ser vil nuss auffgebissen [...] und ich meindt, sie weren gut“[27]. Im übertragenen Sinn könnte er damit meinen, dass er von Zwingli und Erasmus getäuscht und hintergangen wurde und die christliche Lehre im Namen von Luther missbraucht wurde. Luther erwähnt Erasmus häufig in seinen Tischreden und stilisiert ihn damit zur „Negativfigur des indifferenten, karrierefixierten und geistlich verantwortungslosen Religionsintellektuellen“[28]. Auch das Verhältnis zwischen Luther und Zwingli war gespalten und geprägt vom innerreformatorischen Streit über die Ausführung des Abendmahls. Die hitzige Rede, mit dem zynischen Vergleich dürfte die Anwesenden zu Tisch auf eine derbe Art und Weise unterhalten haben und Luther wollte damit deren Zustimmung bezwecken. Er setzt nichts auf eine plumpe Beleidigung, sondern baut den Ausdruck seiner Abneigung kreativ und unterhaltsam auf. Auch wenn die Wortwahl „ins maul scheissen“ für den heutigen Sprachgebraucht sehr anstößig ist, war zumindest das Wort Maul zur damaligen Zeit üblich. Maul hatte die Bedeutung wie Mund für uns heute, was wir auch in Luthers berühmtem Ausspruch aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen“ wiederfinden. Hier heißt es ohne Abwertung man muss dem einfachen Volk „auff das maul sehen“.
In Johannes Aurifabers Übersetzung, die der Vorlage in Kleindruck angefügt wurde, erhält der Abschnitt die Überschrift „Trost wider das Aergernis der Lehre“. Sein Text entstammt der Überlieferungshandschrift FB und trägt den Titel „Dr. Martin Luthers Tischreden oder Colloquia“. Der Text entspricht der ersten Ausgabe Aurifabers die von Karl Eduard Förstemann herausgegeben wurde. Auffällig ist, dass Aurifaber entgegen seiner Kritik recht nah an der Vorlage übersetzt. Durch kleine Bearbeitungen und Auslassungen werden die Sätze zusammenhängender und verständlicher. „Umb der willen ists geschehen; umb der willen predigen wirs auch, quia den ists ernst“[29] wird zu „Um derselbigen willen auch predigen wir, denen ists Ernst“. Luthers „ins maul scheissen“ nimmt er zuletzt in seine Übersetzung auf, sondern beschönigt den derben Ausdruck zu „sie schmissen mir ins Maul und machten mirs voll Dreck“[30] zuerst. Indem er im darauffolgenden Satz noch einmal auf das „ins maul scheissen“ aus dem Quelltext eingeht, ist diese Beifügung eine Erfindung, die in dieser Form in der Quelle nicht auftaucht. Zwar versucht er durch den Einschub des Buchstaben „m“ in schmeißen das Wort von Luther nicht grundlegend auszutauschen, wird damit aber im Ausdruck unverständlicher. Der Satz dient als vorangestellte Erklärung, um das folgende „ins maul scheissen“ zu entkräften. Denn im darauffolgenden Satz verwendet er den Ausdruck in Bezug auf Zwingli und Erasmus im gleichen Kontext wie in der Quelle. Der Text ist mit vielen Fußnoten versehen, die auf veränderte Wörter durch andere Nachschreiber verweisen. So lassen Gerg Rörer, Christophorus Obenander und Valentinus Bavarus die Namen von Zwingli und Erasmus weg und schreiben nur „Sie scheißen eim ins maul“, was sich für die Leser auf die Nüsse bezieht. Daran sieht man, dass auch andere Anstoß an Luthers Formulierung fanden und es fraglich ist, ob Aurifaber tatsächlich fast den genauen Wortlaut für seine Übersetzung übernimmt. Sein Text könnte, in Anbetracht der Dopplung zum vorherigen Satz, auch ohne den letzten Satz auskommen, wobei dann die Namen Zwingli und Rotterdam wie bei den anderen Schreibern ebenfalls weggelassen werden. Der letzte Satz könnte vermutlich eine Anfügung sein, die nicht von Aurifaber stammt, da sie dessen Wortwahl, wie man es im vorherigen Satz sieht, wiederspricht. Luther selbst sind Aussagen, wie sie in der Quelle vorkommen zuzutrauen und entsprechen Luthers Sprachstil. Auch der unvermittelte Beginn erhöht die Authentizität für einen nicht großartig vorbereiteten Beitrag bei einem Tischgespräch.
Eine schlichte und einfache Sprache, wie sie für Luther typisch ist, wurde durch Aurifaber weitestgehend beibehalten. Mit der Konzentration auf das Wesentliche, lenkte Luther in vielen seiner Texte die Aufmerksamkeit seiner HörerInne und LeserInnen gezielt, was auch in diesem Text durchaus auf Luther schließen lässt.
3.6 Analyse der Tischrede 631 aus der Weimarer Ausgabe
Die Tischrede unter der Nummer 631 in der Weimarer Ausgabe entstammt ebenfalls Veit Dietrichs Nachschriften. Sie wurde komplett auf Deutsch verfasst und in Aurifabers Sammlung aufgenommen, welche angefügt ist. Georg Rörer, Christophorus Obenander, Valentinus Bavarus und andere waren Nachschreiber dieser Tischrede. In der Tischrede wird ein Vergleich zur Welt hergestellt, indem gesagt wird, dass sie wie ein „trunkner baur“ ist, der immer wieder vom Pferd fällt. Jedoch kann man der Welt nicht helfen „man stelle sich, wie man wolle, sie will des Teuffels sein“[31]. Damit spricht Luther das Thema Teufel an, welches er in seinen Tischreden oft bespricht. Besonders in seinen letzten Lebensjahren, in denen er zunehmend gesundheitliche Probleme hatte, ist der Teufel für ihn ein Thema. Wenn Luther über den Teufel schimpft, „wechselt er regelmäßig aus dem Lateinischen in ein (recht kräftiges) Deutsch über“[32]. So auch bei dieser Tischrede, die komplett auf Deutsch verfasst wurde. Im bildhaften Vergleich, bei der die Welt immer wieder hinabfällt vom Pferd, wird die Imaginationskraft der Zuhörer aktiviert. Dass sich die Welt immer wieder zum Teufel hingezogen fühlt, wie der betrunkene Mann von der Erdanziehungskraft, macht die unausweichliche Situation in der sich die Welt befindet deutlich. Erst wenn der Mann, also die Welt nicht mehr betrunken ist, kann er auf dem Pferd sitzen bleiben und sich vom Teufel fernalten. Doch wie der Mann in die Versuchung des Alkohols gerät, so gerät auch die Welt und die Menschen die in ihr leben immer wieder in Versuchung sich von Gott wegzubegeben. Demgegenüber ist ein einziger Mensch machtlos der Welt zu helfen, wobei Luther von sich spricht. In der Tischrede schwingt eine gewisse Resignation mit, mit der die drastische Botschaft übermittelt wird. Eine Aufforderung dieser Entwicklung aktiv entgegenzutreten erfolgt nicht.
Auch Aurifaber bezieht sich mit der Überschrift „Der Welt Bild“ auf den Text. Er fügt seinem Text zu Beginn die Einleitung „Doctor Martinus Luther sagete:“[33] an. Die Tilgung des unbetonten „e“ bei „sagete“ in der Nebensilbe des Auslauts zeigt die Entwicklung zum Neuhochdeutschen. Diese Einleitung durch Aurifaber ist irreführend, da wir wissen, dass der nachfolgende Text nicht zu Luthers einhunderprozent Wortlaut entspricht. Aurifaber veränderte den Quelltext dahingehend, dass er am Ende statt „sie will des Teuffels sein“[34], wie es auch dieser Tischreden entspricht, die komplett auf Deutsch niedergeschrieben wurde. zu „Also will die Welt auch des Teufels sehn“[35]. Mit der Veränderung von sein zu sehn wird der Text verfälscht und es lässt sich vermuten, dass Aurifaber hier ein Abschreibfehler unterlaufen ist. Das könnte daran liegen, dass manche Schriften ein schwer lesbares Schriftbild hatten. Das Beispiel zeigt, wie schnell durch das Verändern eines einzelnen Buchstaben ein anderer Inhalt entstehen kann und genauso wie es hier geschehen ist, kann es bei anderen Abschriften auch zu Verfälschungen gekommen sein. Selbst bei Mitschriften am Tisch können den Notizen, die später ausformuliert wurden, solche Fehler unterlaufen sein.
3.7 Analyse der Tischrede 1554 aus der Weimarer Ausgabe
Aus den Jahren 1531 und 1532 sind Sammlungen mit Tischreden von Johannes Schlaginhaufen überliefert. Seine Nachschriften befinden sich in der königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München. Georg Rörer fertigte wiederum eine Abschrift von Schlaginhaufen an, dessen Handschrift sich in der Universitätsbibliothek in Jena befindet. Auf diese beiden Abschreiber geht der folgende Text mit dem Thema Stillen zurück. Sie sind kritischer als die beiden zuvor analysierten Tischreden zu betrachten. Hier möchte der Sprecher, die Gesprächspartner informieren und belehren, wobei die Argumentation hauptsächlich den Verstand der Zuhörer anspricht und mit logischen Schlusssfolgerungen überzeugen möchte. Vorangestellt sind zwei Sätze auf Lateinisch, die auf die große Bedeutung von Muttermilch eingehen. Daraufhin geht die Sprache ins Deutsche über, was wieder für die typische Sprachmischung von Deutsch und Latein im 16. Jahrhundert spricht. Der Satz sagt sinngemäß, dass Kinder genauso werden wie ihre Ammen. Sind diese grob, werden auch die Kinder grob. Ein Vergleich mit „es ist wie ein Schlaiffreis an einem baum“[36], kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, da die Bedeutung des Wortes „Schlaifreis“ uneindeutig ist. Laut den Anmerkungen geht es auf das Wort „propfen“, also „Propfreis“ als erschlossene Bedeutung zurück und wurde von Georg Rörer, aufgrund von Unverständlichkeit weggelassen. „[I]n der Bedeutung schleifendem, an Wagen (oder geschleiften Bäumen) als Bremse wirkendem Reisig“[37] ist Schleifreis belegt. Auch wenn der Vergleich nicht ganz nachvollziehbar ist, entstammt er der Natur. Die Natur als Schöpfung Gottes und Erklärung steht hier für die parallele Entwicklung des Menschen.
Nach Aurifaber folgt ein Paralleltext mit der Überschrift „Muttermilch und weibliche Brüste“. Mit den ersten beiden Abschnitten seiner Übersetzung bezieht er sich jedoch auf die Tischrede Nummer 4105 aus dem vierten Band der Weimarer Ausgabe, worauf in den Fußnoten verwiesen wird. In der Tischrede Nummer 4105 spricht Luther ebenfalls das Stillen von Kindern an. Das Zusammenfügen von ähnlichen Absätzen ist eine typische Arbeitsweise von Aurifaber. Die Autoren der Weimarer Ausgabe entschieden sich dafür, solche Texte nicht zu trennen, um Aurifabers Arbeitsweise sichtbar zu lassen und dessen Texte nicht zu zerstören, wie es in der Einleitung zur ersten Ausgabe heißt.
In Aurifabers Übersetzung wird die Muttermilch wieder als die beste Nahrung für das Kind beschrieben. Es folgt wieder ein Vergleich aus der Natur, dem Tierreich. Genauso wie Kälber durch die Milch ihrer Mütter stärker werden als durch anderes Futter, werden es auch Kinder von der Muttermilch.[38] Eine solche bildhafte Rhetorik ist typisch für Luther, der seine Aussagen damit stützte um für ein einfaches Verständnis zu sorgen. Im anschließenden Absatz geht es um die Optik von weiblichen Brüsten. Trotz der Betrachtung im Zusammenhang mit dem Stillen, verwundert das Thema aufgrund der großen Intimität. Das Thema wird fast schon vulgär und mit derber Sprache erörtert. Nur unter der Voraussetzung, dass die Brüste „ihre Proportionen haben“[39] sind sie „eines Weibes Schmuck“[40] und „große und fleischige sind nicht am besten, stehen auch nicht sonderlich wol“[41] enthält eine unterschwellige Abwertung gegenüber Frauen, deren Brüste nicht dem Genannten entsprechen. Auch wenn das Stillen ein Thema ist, was Frauen betrifft, ist es gut möglich, dass aufgrund dieser Aussage nur wenige Frauen anwesend waren. Indem es weiterhin heißt, „Brüste, die voller Adern und Nerven sind, ob sie wol klein [sind] [...] haben viel Milch, damit sie viel Kinder stillen könnten“[42] wird einer bestimmten Art von Brüsten einen Vorteil beim Stillen zugeschrieben. In diesem Absatz wurden bereits auffällig viele Substantive großgeschrieben, was die Entwicklung zur durchgängigen Großschreibung der Substantive zum Neuhochdeutschen hin förderte. Die Annahme, dass bestimmte Arten von Brüsten schlechter zum Stillen geeignet sind, kann nach heutigen Kenntnissen widerlegt werden. Wie es zu einer solche Annahme kommt und woher der Sprecher oder Schreiber zu einer solchen Aussage kommt, bleibt rätselhaft. Eine mögliche Intention könnte sein, dass der Sexualisierung von großen Brüsten unter dem Vorwand der schlechten Eignung für das Stillen entgegengewirkt werden sollte. Stattdessen soll bei der Betrachtung von weiblichen Brüsten das Stillen im Vordergrund stehen.
Mit der Überleitung „Auf eine andere Zeit sagete Doctor Luther“ nimmt Aurifaber im nächsten Absatz Bezug auf eine andere Situation, in der das Thema Stillen angesprochen wird. Dieser Abschnitt bezieht sich auf den überlieferten Quelltext. Auch in diesem Abschnitt herrscht die Meinung, dass Muttermilch das Beste für die Kinder sei. Die Begründung erfolgt, statt mit einem Vergleich aus der Natur, diesmal damit, dass sowohl das Kind, als auch die Muttermilch aus dem Mutterleib kommen. Eine Parallele ergibt sich zum Anfangnur mit dem Satz: „Und wenn die Kinder grobe Ammen haben, so gerathen auch die Kinder nach ihnen, wie dies die Erfahrung zeiget“[43]. Im nächsten Satz wird zum ersten Mal mit Gott argumentiert, indem es heißt Gott habe der Mutter „die Brüste und Milch darein gegeben um des Kindlins Willen“[44]. Einen Beleg für den heute noch gebräuchlichen Aphorismus „Not bricht Eisen“ lässt sich am Ende des Textes finden. Wenn die Mutter das Kind nicht stillen kann, „bricht Noth Eisen, wie man saget“[45]. Diese Redewendung nutzt eine starke Bildkraft. Das Hinzufügen von „wie man saget“ erklärt den Lesern, dass es sich hier um einen Aphorismus handelt und deutet daraufhin, dass der Aphorismus nicht so bekannt oder gängig ist, um diese Erklärung wegzulassen. Bei dem Abschnitt stellt sich die Frage wann „[a]uf eine andere Zeit“ gewesen ist. Beim ersten Abschnitt fällt auf, dass kein religiöser Zusammenhang zu den Aussagen hergestellt wird und keine Argumentation in Bezug auf Gott stattfindet, wie im zweiten Abschnitt. Der zweite Abschnitt ist weniger anstößig und bei einer Tischgesellschaft mit Frauen, Kindern und Fremden viel passender.
Dass das Thema Stillen überhaupt Thema von Luthers Tischreden war, ist neben anderen belegten Themen über Ehe, Kindererziehung und Familienleben vorstellbar. Luther ist einerseits für seine derbe Sprache bekannt, andererseits ist Aurifaber dafür bekannt, dass er Aussagen von Luther beschönigte und obszöne Formulierungen glättete. Dass Aurifaber trotzdem eine solche Übersetzung veröffentlichte, entspricht weniger seinem Übersetzungsstil.
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[1] Katharina Bärenfänger: Zum Umgang mit Luthers Tischreden. In: Katharina Bärenfänger u. a.: Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 43.
[2] Helmar Junghans: Martin Luther und die Rhetorik. Leipzig/ Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1998, S. 25.
[3] Erwin Arndt/ Gisela Brandt: Luther und die deutsche Sprache. Wie redet der Deudsche man jnn solchem fall?. 1. Aufl.. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1983. Luther und die deutsche Sprache, S. 219.
[4] Ebd., S. 27.
[5] Vgl. ebd., S. 29.
[6] Martin Luther: Sendbrief vom Dolmetschen. Hg. von Karl Bischoff. 2. Aufl.. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2016, S. 17.
[7] Erwin Arndt/ Gisela Brandt: Luther und die deutsche Sprache, S. 77.
[8] Ebd., S. 92.
[9] Vgl. Erwin Arndt/ Gisela Brandt: Luther und die deutsche Sprache, S. 157.
[10] Vgl. ebd., S. 210.
[11] Vgl. Birgit Stolt: Die Sprachmischung in Luthers Tischreden. Studien zum Problem der Zweisprachigkeit. Uppsala: Almqvist & Wiksells 1964, S. 24.
[12] Katharina Bärenfänger: Zum Umgang mit Luthers Tischreden, S. 36.
[13] Martin Luther: Ausgewählte Werke. Hg. von Hans Heinrich Borcherdt. Bd. 8: Tischreden. München: Müller Verlag 1925, S. 406.
[14] Ebd., S. 5.
[15] Vgl. Karl Gerhard Steck: Martin Luther. Tischreden. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1959. S. 18.
[16] Michael Beyer: Tischreden. In: Luther Handbuch. Hg. von Albrecht Beutel. Tübingen: Mohr Siebeck 2017, S. 395.
[17] Helmar Junghans: Luthers Tischreden. In: Katharina Bärenfänger u. a.: Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 9.
[18] Helmar Junghans: Luthers Tischreden. In: Katharina Bärenfänger u. a.: Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 14.
[19] Vgl. Wolf- Friedrich Schäufele: Zur handschriftlichen Überlieferung der Tischreden Martin Luthers. In: Katharina Bärenfänger u. a.: Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 117.
[20] Vgl. Birgit Stolt: Die Sprachmischung in Luthers Tischreden, S. 20.
[21] Martin Luther: Werke. kritische Gesamtausgabe. unveränderter Nachdruck. Bd. 1: Tischreden. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1967, S. 66 f..
[22] Vgl. Michael Beyer: Tischreden. In: Albrecht Beutel: Luther Handbuch, S. 394.
[23] Martin Luther: Werke. Bd. 1, S. 11.
[24] Ob Luther all seine Aussprüche aus den gesammelten Tischreden wirklich in dieser Weise traf, kann nicht mit Sicherheit belegt werden. Trotzdem soll Luther als Sprecher im Text genannt werden.
[25] Martin Luther: Werke. Bd. 1, S. 197.
[26] Ebd..
[27] Ebd..
[28] Thomas Kaufmann: Luther und Erasmus. In: Albrecht Beutel: Luther Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2017, S. 183.
[29] Martin Luther: Werke. Bd. 1, S. 197.
[30] Ebd..
[31] Martin Luther: Werke. Bd. 1, S. 298.
[32] Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S.12.
[33] Ebd..
[34] Ebd..
[35] Ebd..
[36] Martin Luther: Werke. kritische Gesamtausgabe. unveränderter Nachdruck. Bd. 2: Tischreden. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1967, S. 130.
[37] Ebd., S. 680.
[38] Vgl. ebd., S. 130.
[39] Martin Luther: Werke. Bd. 2, S. 130.
[40] Ebd..
[41] Ebd..
[42] Ebd..
[43] Ebd..
[44] Ebd..
[45] Martin Luther: Werke. Bd. 2, S. 130.