In dieser Arbeit wird die Simulationstheorie Jean Baudrillards dem Konzept des "Onlife" von Luciano Floridi gegenübergestellt. Beide Theorien befassen sich mit dem Einfluss, den die virtuelle Welt auf die reale Welt und uns als Individuen nimmt. Die Gegenüberstellung soll uns dabei helfen zu entscheiden, ob wir uns schon in einer Krise des Realen befinden, oder vorerst nur in einer Phase des individuellen Realitätsverlusts.
Floridi geht davon, dass die Tendenzen der Digitalisierung auf persönlicher Ebene darin münden, dass wir zukünftig ein Leben im "Onlife" (einer Mischung aus online- und offline-Existenz) führen werden. Baudrillard sah in seiner Simulationstheorie voraus, dass unsere Gesellschaft, beeinflusst durch die Massenmedien, sich in Simulationen und einer multimedialen Hyperrealität verlieren wird.
Die These der Arbeit ist, dass die Simulationstheorie von Baudrillard selbst ein Simulakrum darstellt. Dieses präzessiert die Entwicklung der Realität. Sie folgt also den von Baudrillard ausgearbeiteten Entwicklungslinie der Simulakra. Dabei ist die Digita-lisierung ein Simulakrum der 3. Ordnung und das "Onlife" ein Simulakrum der 4. Ordnung. Eine Auflösung unseres Daseins in eine Welt der Erscheinungen wäre demnach unvermeidbar. Die offene Frage, die dann noch zu klären bliebe, ist, ob es sich dabei um eine Krise des Realen handeln würde oder nur um eine evolutionäre Entwicklung, die nicht zwingend negativ zu betrachten ist. Baudrillard selbst begrüßt scheinbar im letzten Absatz von Simulacra and Simulation die Ablösung des Sinns durch die Erscheinungen. Inwieweit dieses Ergebnis zu überzeugen vermag, bleibt zu erörtern.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Digitalisierung
3 Vierte Revolution
3.1 Lebensraum: Infosphäre
3.2 Identität: Onlife
4 Simulationstheorie
4.1 Simulakra
4.2 Simulation
4.3 Hyperrealität
5 Ausblick: Krise des Realen?
5.1 Krisen des Onlife
5.2 Ergebnis
1 Einleitung
In dieser Arbeit soll die Simulationstheorie Jean Baudrillards auf das Konzept des ‚Onlife‘ von Luciano Floridi angewendet werde, der im Rahmen seiner Philosophie der Information das ‚Onlife‘ als notwendigen weiteren Entwicklungsschritt der heutigen Gesellschaft ansieht.
Floridi geht davon, dass die Tendenzen der Digitalisierung auf persönlicher Ebene darin münden, dass wir zukünftig ein Leben im ‚Onlife‘ (einer Mischung aus online- und offline-Existenz) führen werden. Baudrillard sah in seiner Simulationstheorie voraus, dass unsere Gesellschaft, beeinflusst durch die Massenmedien, sich in Simulationen und einer multimedialen Hyperrealität verlieren wird.
Die These der Arbeit ist, dass die Simulationstheorie von Baudrillard selbst ein Simulakrum darstellt. Dieses präzessiert die Entwicklung der Realität. Sie folgt also den von Baudrillard ausgearbeiteten Entwicklungslinie der Simulakra. Dabei ist die Digitalisierung ein Simulakrum der 3. Ordnung und das ‚Onlife‘ ein Simulakrum der 4. Ordnung. Eine Auflösung unseres Daseins in eine Welt der Erscheinungen wäre demnach unvermeidbar. Die offene Frage, die dann noch zu klären bliebe, ist, ob es sich dabei um eine Krise des Realen handeln würde oder nur um eine evolutionäre Entwicklung, die nicht zwingend negativ zu betrachten ist. Baudrillard selbst begrüßt scheinbar im letzten Absatz von Simulacra and Simulation die Ablösung des Sinns durch die Erscheinungen. Inwieweit dieses Ergebnis zu überzeugen vermag, bleibt zu erörtern.
2 Digitalisierung
Der einleitende Prozess für diese Entwicklung ist die Digitalisierung. Digitalisierung im engeren Sinne beschreibt die Umwandlung analoger Daten in ein digital nutzbares Format. Das findet innerhalb des gesamten Nutzungszeitraums der Daten statt, von deren Entstehung, über die (mehrfache) Verarbeitung bis zur Archivierung und Löschung.
Darüber hinaus betrifft diese Entwicklung alle Lebensbereiche. Sowohl unsere Freundschaften und unsere private Kommunikation laufen mittlerweile digital ab über WhatsApp, Facebook, Twitter, YouTube usw., ebenso wie unsere Einkäufe, egal ob Lebensmittel, Technik oder Kleidung. Eine Homepage und verschiedene Social Media Kanäle sind für Unternehmen und Selbstständige Standard und auch immer mehr Privatpersonen feilen an ihrem virtuellen Auftritt. Die Digitalisierung führt also dazu, dass sich unser Sozialleben verändert. Es ist nicht ungewöhnlich, von Schülern, die sich nach der Schule voneinander verabschieden, zu hören: ‚Wir sehen uns gleich auf Facebook.‘ Hier wird keine bewusste Unterscheidung mehr getroffen zwischen der online- und der offline-Welt. Realität wird beiden Gefilden attribuiert, zumindest von den sogenannten ‚digital natives‘.
Der Ausdruck Digitalisierung bezieht sich hier allerdings nicht auf den speziellen technischen Vorgang, bei dem Ton. Bild oder Text in ein binäres Zahlensystem umgewandelt werden. Vielmehr bezeichnet er die Folge solcher Vorgänge: Das Entstehen und die Weiterentwicklung jener digitalen bzw. virtuellen Welt, die seit dem Beginn unseres Jahrhunderts mehr und mehr neben die reale Welt getreten ist. Die Ursache dieses unerhörten Vorgangs ist jedem bekannt: Die sich schnell und unaufhaltsam durchsetzende universelle Nutzung von digitalen Medien, allen voran natürlich des Personal Computers, des Notebooks und Pocket-PCs - in den letzten Jahren noch erweitert durch PDAs (persönliche digitale Assistenten), E-Books, E-Pads und Tablet PCs. Der unglaubliche Siegeszug der mobilen Telefone ist ein weiterer folgenreicher Beitrag zu dieser Form der Digitalisierung.[1]
Bei den heutigen Jugendlichen kann man zudem von einer fast vollständigen Verbreitung des Internets sprechen, wobei diese es im Durchschnitt fast 13 Stunden pro Woche nutzen[2] Ein weiterer Entwicklungssprung setzte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ein, als sich die Mobiltelefone in Smartphones verwandelten und damit zu kleinen Computern wurden, die überall und jederzeit zur Verfügung stehen und Zugang zum Netz haben. Auch diese Innovation wurde schnell akzeptiert.[3]
Folglich hat auch kein Zeitalter bisher so viele Zeichen und Bilder produziert wie das unsere. Längst sind die Massen- und die sozialen Medien zum eigentlichen Schauplatz des Sozialen geworden. den. Gesellschaft verwandelt sich in ein Bildschirmereignisse, so dass wir bald nichts anderes mehr kennen werden als Zeichen und Bilder.[4]
Diese digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) beeinflussen unser Selbstbewusstsein, wie wir uns aufeinander beziehen und wie wir mit unserer Welt gestalten und interagieren. Die Technophilen und die Technophoben stellen sich die gleiche Frage: Was kommt als nächstes? Und der Philosoph fragt sich: Was liegt dahinter?[5]
3 Vierte Revolution
Einer der Effekte der kontinuierlich zunehmenden Rechenleistung der IKT ist nach Luciano Floridi die ‚vierte Revolution‘. Floridi sagt, dass das menschliche Selbstbild und das gesellschaftliche Verständnis der menschlichen Natur derzeit einer vierten Revolution unterworfen wird. Die erste Revolution war die Kopernikanische Wende in der der Mensch aus dem Zentrum des Universums gerissen wurde. Die zweite Revolution war die Entdeckung der Evolution durch Darwin in der der Mensch seinen Platz als Krone der Schöpfung einbüßte. Die dritte Revolution war die Psychoanalyse nach Freud die uns lehrte, dass ein guter Teil unserer Handlungen nicht bewusst von gesteuert wird, sondern dass wir z.T. Opfer einer unbewussten archaischen Fernsteuerung sind.[6] Die vierte Revolution nach Floridi ist die langsam einsetzende Erkenntnis dass rationelles Denken nicht mehr eine rein menschliche Domäne ist sondern, dass wir durch die Informations- und Kommunikationstechnologie Konkurrenz auf diesem Feld erhalten haben die den gleichen Raum zur logischen und rationalen Informationsverarbeitung einnimmt wie wir und die ggf. sogar erfolgreicher darin sein kann als wir.[7] Und wie nach jeder Revolution stehen wir da und fragen uns was uns als Menschen noch an Selbstwert übrig bleibt.
Aktuell sind wir immer noch daran gewöhnt, die IKT als Werkzeuge für die Interaktion mit der Welt und miteinander zu betrachten. Nach Floridi sind sie aber zu einem Teil unserer täglichen Lebenswelt und zu anthropologischen, sozialen und interpretativen Kräften geworden. Sie schaffen und gestalten unablässig unsere intellektuellen und physischen Realitäten, verändern unser Selbstverständnis, verändern uns, wie wir zueinander in Kontakt treten und wie wir die Welt interpretieren.[8] Dabei wird die große Chance, die uns von IKT geboten wird, begleitet von einer riesigen intellektuellen Verantwortung, sie zu verstehen und sie in der richtigen Weise zu nutzen.[9]
Angesichts der beispiellosen Neuheiten, die der Anbeginn der Informations-Ära hervorbringt, hält Floridi es für notwendig, dass viele unserer grundlegenden philosophischen Ansichten, die in der Geschichte und vor allem im industriellen Zeitalter verankert sind, möglicherweise erneuert und ergänzt, wenn nicht sogar vollständig ersetzt werden müssen.[10] Deshalb müssen wir seiner Ansicht nach die Gegenwart und die Zukunft in einer zunehmend technologisierten Welt neu zu überdenken und ggf. eine neuen Informationsphilosophie schaffen, die für jeden Aspekt unseres Lebens Anwendung finden kann.[11]
3.1 Lebensraum: Infosphäre
Fortgeschrittene Informationsgesellschaften sind mehr und mehr stark abhängig von IKT für ihre normale Funktion und Wachstum. Die Verarbeitungsleistung wird zunehmen, wobei sie gleichzeitig billiger wird. Die Datenmenge erreicht unvorstellbare Ausmaße. Heutzutage gibt es bereits einige Menschen, die in Gesellschaften und Umgebungen leben, in denen IKT und ihre Datenverarbeitungsfähigkeiten nicht nur wichtige, sondern wesentliche Voraussetzungen für die Instandhaltung und jede Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Wohlergehens und des persönlichen Wohlbefindens sind. [12]
Diese alles durchdringende IKT modifizieren die Natur und damit die Realität, indem sie sie in eine Infosphäre verwandeln. Infosphäre ist ein Neologismus, der in den siebziger Jahren geprägt wurde. Er basiert auf ‚Biosphäre‘, ein Begriff, der sich auf diese begrenzte Region auf unserem Planeten bezieht, die das Leben unterstützt. Es ist auch ein Konzept, das sich schnell darüber hinaus entwickelt. Minimalerweise bezeichnet die Infosphäre, die gesamte Informationsumgebung, die sich aus allen Informationseinheiten, ihren Interessen, Interaktionen, Prozessen und gegenseitigen Beziehungen zusammensetzt. Es ist eine Umgebung, die vergleichbar ist dem Cyberspace, der allerdings nur eine ihrer Unterregionen ist, da die Infosphäre auch offline und analoge Informationsräume enthält. Maximal ist die Infosphäre ein Konzept, das auch als Synonym für die Realität genutzt werden kann, wenn wir diese informationell verstehen. [13]
In der Tat schwappt die Digital-Online-Welt über in die Analog-Offline-Welt und verschmilzt mit dieser. Dieses jüngste Phänomen ist verschieden bekannt als ‚Ubiquitous Computing‘, ‚Ambient Intelligence‘ und ‚Das Internet der Dinge‘. Floridi hat hierfür den Begriff des ‚Onlife‘-Erlebnisses geprägt. Es ist oder wird bald, seiner Meinung nach, die nächste Etappe in der Entwicklung des Informationszeitalters sein. Wir leben zunehmend ‚onlife‘. Die allmähliche Informationalisierung von Artefakten und von ganzen (sozialen) Umgebungen bedeutet, dass es zunehmend schwieriger wird zu verstehen, wie das Leben in vordigitaler Zeit war. In naher Zukunft wird die Unterscheidung zwischen Online und Offline immer mehr verwischt und dann verschwinden. [14] Der Bildschirm des Computers und der mentale Bildschirm des Gehirns eines jedes Benutzers werden dann verflochten sein wie in einem Möbiusschen Kreisring. Daher fallen Elektronische Datenverarbeitung und Kommunikation immer wieder auf sich selbst zurück.[15]
Die traditionell wahrgenommene Umwelt hat sich bereits jetzt für die Nutzer erweitert (Stichwort: ‚augmented reality‘), die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse haben sich in drastischer Weise verändert und die Menschen sind nunmehr gezwungen, nicht nur ihre Umwelt global wahrzunehmen, sondern vor allem auch in einer realen und in einer virtuellen Welt zugleich zu leben. Die Mediatisierung hat darüber hinaus zum Entstehen und zur Ausbreitung einer ‚sekundären Wirklichkeit‘ beigetragen, die die primäre Wirklichkeit nach und nach verdrängt.[16]
Laut Floridi ist die offensichtlichste Art und Weise, in der IKT die Welt in eine Infosphäre verwandeln, der Übergang vom analogen zum digitalen und das ständig Wachstum der Informationsräume, in denen wir immer mehr Zeit verbringen. [17] Die Infosphäre wird aber seiner Ansicht nach keine rein virtuelle Umgebung sein, die von einer echten ‚materiellen‘ Welt unterstützt wird. Vielmehr wird es die Welt selbst sein, die zunehmend informationalisiert wird, als Ausdruck der Infosphäre. [18] Der Weg dorthin führt über die zunehmend Entwicklung von Technologien dritter Ordnung in die die Welt und der User dann eingebettet und mitgetragen wird.
Technologien erster Ordnung verbinden den User mit seiner Umwelt. Ein Hut ist eine Technologie zwischen dem Hutträger und dem Sonnenschein. Ein Paar Sandalen ist eine Technologie zwischen dem Benutzer und dem heißen Sand des Strandes, auf dem er geht. Und eine Sonnenbrille ist zwischen dem Träger und dem hellen Licht, das ihn umgibt. [19]
Technologien zweiter Ordnung verbinden ihre Nutzer nicht mehr zur Natur, sondern zu anderen Technologien, das heißt, sie sind Technologien, die von anderen Technologien angesprochen werden. [20] Ein Beispiel hierfür wäre die Nutzung meines Smartphones, um meinen Fernseher fernzusteuern.
Technologien dritter Ordnung, die unmittelbar die Verbindung zwischen zwei Technologien aufnehmen sind derzeit noch nicht allumfassend etabliert. Das resultiert in einem Problem der Integration von verschiedenen Technologien, das wir derzeit lösen, indem wir den Menschen zwingen als Schnittstelle zu arbeiten. Wir betreiben die Zapfsäulen an Tankstellen, wir übersetzen die Anweisungen des GPS in Fahrmanöver, und wir übernehmen die Interaktion zwischen dem Supermarkt mit unserem Kühlschrank. [21] Sobald diese Probleme der Interaktion zwischen Technologien gelöst sind werden wir nur noch staunende Beobachter sein wie die schöne neue digitale Welt um uns herum sich um alles kümmert. Unser Auto betankt, unseren Kühlschrank automatisch befüllt und uns vielleicht sogar maßgeschneiderte virtuelle Erlebniswelten offeriert.
Ein weitere Aspekt der den ‚fließenden‘ Charakter des ‚Onlife‘ verstärkt ist die Tatsache dass es keinen physischen Unterschied zwischen den Prozessoren und den verarbeiteten Daten gibt. Die Prozessoren bestehen überwiegend Software und diese haben die gleiche digitale Struktur wie die Daten die sie verarbeiten. Alle Interaktionen sind gleichermaßen informationeller Natur. Sie werden alle interpretierbar als ‚lesen‘, ‚schreiben‘ und ‚ausführen‘. [22] Digitales Subjekt und Objekt verschmelzen auf diese vollständig miteinander.
Neben dem ‚fließenden‘ Charakter der digitalen Artefakte werden sie geprägt von ihrer vollständig reibungslosen Reproduzierbarkeit. Eine Kopie einer Musik-Datei ist so gut wie ihr Original. Sie ist standardmäßig perfekt klonierbar, in dem Sinne, dass meine Kopie und Ihr Original ununterscheidbar und damit austauschbar sind. Bei zwei digitalen Objekten ist es unmöglich zu sagen, welche die ursprüngliche Quelle ist und welche ist die Kopie. [23]
Die Prozesse der Dephysikalisierung, Typisierung und Vervielfältigung von digitalen Artefakten wird unser Leben so sehr prägen, dass man sich davor in Acht nehmen muss diese Prinzipien nicht auf Individuen anzuwenden, die dann nicht mehr als einzigartige und unersetzliche Entitäten wahrgenommen werden würden. Wir würden Gefahr laufen uns selbst als Ergebnisse einer Massenproduktion und als anonyme Einheiten zu sehen. [24]
All dies sollte zu einer Erweiterung der ethischen Bedenken und der Sorge für alle Umgebungen, einschließlich der künstlichen, digitalen oder synthetischen führen. Eine solche neue "E-Umwelt-Ethik" sollte auf einer Informationsethik für die gesamte Infosphäre, aller ihrer Komponenten und Bewohner basieren. [25] Die Notwendigkeit sich mit dieser Entwicklung zu befassen betrifft zumindest alle Mitglieder der G7-Gruppe - nämlich Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese qualifizieren sich als Gesellschaften die auf den Weg in die Infosphäre sind, weil in jedem Land mindestens 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP, der Wert von Waren und Dienstleistungen, die in einem Land produziert werden), von immateriellen Gütern abhängt, die informationeller Natur sind, und nicht auf Materialgütern, die die physische Produktion von landwirtschaftlichen oder Herstellungsprozessen sind. [26]
3.2 Identität: Onlife
Nach Luciano Floridi sind wir derzeit zudem Zeugen eines historisch einzigartigen Massenexodus, dessen Auswirkungen nach nichts weniger als nach einem neuen Menschenbild verlangt. Die Rede ist hier von der stetig wachsenden Zahl von Kindern und Erwachsenen unseres Kulturkreises, die immer größere Anteile ihrer Lebenszeit online verbringen. Die wahre Integrationsaufgabe unserer Epoche ist demnach eine technologisch-mediale. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit, sich selbst darzustellen und digital miteinander interagieren, in einer Infosphäre, die weder ganz real noch virtuell ist. Das zeigt wie einflussreiche IKT in der Gestaltung unserer persönlichen Identitäten sind. Sie sind die stärksten Technologien des Selbst, denen wir jemals ausgesetzt waren. Wir sollten sie sorgfältig behandeln, da sie die Kontexte und die Praktiken, durch die wir uns selbst gestalten, deutlich verändern.[27] Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben so viele Menschen sich selbst überwacht, ihre Aktivitäten aufgezeichnet und so viele Details über sich selbst zu einem so großen Publikum berichtet.[28] Dabei fördern wir aber eine Kultur von Proxys, von technischen Stellvertretern. Facebook-Profile stehen für Einzelpersonen, die Anzahl der verknüpften Seiten steht für Relevanz und Bedeutung, 'likes' sind ein Proxy für sympathisch. In einer solchen Proxy-Kultur können wir leicht de-individualisiert und als Typ behandelt werden. [29] Beste Beispiele hierfür liefern online Dating Plattformen aller Art die ihren Nutzern als erstes eine Suchmaske bieten, damit er angeben kann welche Art von Partner er sucht.
Wichtig ist das alles weil nach der erzählenden Theorie des Selbst unsere Identität eine ‚Geschichte‘ ist, die als soziologisches und autobiographisches Artefakt verstanden wird. Wir stellen einander Identitäten zur Verfügung und das ist eine entscheidende, wenn auch nicht die einzige Variable in dem komplexen Spiel der Konstruktion von persönlichen Identitäten, vor allem, wenn die Chancen zu sozialen Kontakten durch neue IKT multipliziert und modifiziert werden.[30] Die Dinge werden komplizierter, weil unsere Selbstverständnisse wiederum flexibel genug sind, um geformt zu werden, durch Vorgaben wie wir sein sollen und wie wir wahrgenommen werden wollen. Das soziale Selbst ist der Hauptkanal, durch den IKT und vor allem besonders interaktive soziale Medien einen tiefen Einfluss auf unsere persönlichen Identitäten ausüben. [31] Die Mikro-Erzählungen, die wir produzieren und verbrauchen, verändern auch unser soziales Selbst und damit, wie wir uns selbst sehen. Sie stellen einen ungeheuren, externalisierten Strom des Bewusstseins dar. [32] Offensichtlich hat also jede Technologie, deren Hauptziel es ist, Erinnerungen zu bewältigen, einen enormen Einfluss darauf, wie Individuen ihre eigenen persönlichen Identitäten entwickeln und gestalten.[33]
Problematisch im Zusammenhang mit dem hier geschilderten Onlife ist dass das hyperbewusste Selbst kontinuierlich der Spiegel vorgehalten wird. Es ist ihm unproblematisch möglich zu erfassen, wie er von anderen, vielen anderen, gesehen wird. Je mehr mächtige, umfassende und verfügbare IKT vorhanden sind, desto mehr kann der digitale Blick gefesselt werden. Man kann in der eigenen Wahrnehmung von sich selbst verloren gehen, die von anderen in der Infosphäre getragen wird. Der entstehende soziale Druck kann dazu führen, dass Benutzer sozialer Medien sich anpassen und verändern um fremden Regeln zur Gestaltung einer Identität zu entsprechen. [34]
Soziale Medien geben aber auch eine beispiellose Gelegenheit, mehr für unser soziales Selbst verantwortlich zu sein und flexibler zu wählen, wer man sein will. Der Aufbau eines gesellschaftlichen Selbst (wie man wahrgenommen wird) kann in die Entwicklung des Selbstverständnisses zurückführt werden (wie man selbst sich sieht), das dann wieder in die Formgebung der persönlichen Identität zurückkehrt (wer man ist ). Mehr Freiheit auf der sozialen Seite bedeutet auch mehr Freiheit, sich selbst zu formen. [35]
[...]
[1] Peters, Otto: Kritiker der Digitalisierung: Warner, Bedenkenträger, Angstmacher, Apokalyptiker. 20 Portraits. Frankfurt am Main: Peter Lang 2012, S. 7.
[2] Peters, Kritiker der Digitalisierung, S. 8.
[3] Peters, Kritiker der Digitalisierung, S. 8.
[4] Strehle, Samuel: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften 2012 (=Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler-innen), S. 95.
[5] Floridi, Luciano: fourth revolution. How the infosphere is reshaping human reality. Oxford: Oxford University Press 2014, S. VI.
[6] Floridi, fourth revolution, S. 90.
[7] Floridi, fourth revolution, S. 92.
[8] Floridi, fourth revolution, S. VI.
[9] Floridi, fourth revolution, S. VII.
[10] Floridi, fourth revolution, S. VII.
[11] Floridi, fourth revolution, S. IX.
[12] Floridi, fourth revolution, S. 4.
[13] Floridi, fourth revolution, S. 40.
[14] Floridi, fourth revolution, S. 43.
[15] Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Philosophien der neuen Technologie / Ars Electronica 89. Hrsg. von Jean Baudrillard. Berlin: Merve 1989 (= Internationaler Merve-Diskurs 146). S. 113–133, S. 122.
[16] Peters, Kritiker der Digitalisierung, S. 11–12.
[17] Floridi, fourth revolution, S. 40.
[18] Floridi, fourth revolution, S. 50.
[19] Floridi, fourth revolution, S. 25.
[20] Floridi, fourth revolution, S. 26.
[21] Floridi, fourth revolution, S. 30–31.
[22] Floridi, fourth revolution, S. 41.
[23] Floridi, fourth revolution, S. 50.
[24] Floridi, fourth revolution, S. 57.
[25] Floridi, fourth revolution, S. IX.
[26] Floridi, fourth revolution, S. 4.
[27] Floridi, fourth revolution, S. 59–60.
[28] Floridi, fourth revolution, S. 61.
[29] Floridi, fourth revolution, S. 58.
[30] Floridi, fourth revolution, S. 68.
[31] Floridi, fourth revolution, S. 59–60.
[32] Floridi, fourth revolution, S. 62.
[33] Floridi, fourth revolution, S. 72.
[34] Floridi, fourth revolution, S. 73–74.
[35] Floridi, fourth revolution, S. 63.