Titus Livius verfasste mit seinem Werk Ab urbe condita, das ursprünglich aus 142 Büchern bestand, von denen nur etwa ein Viertel erhalten sind, eine universale römische Geschichte, die von der Gründung Roms bis zum Tod des Drusus im Jahre 9 v. Chr. reicht und erreichte damit zeitenübergreifende Bedeutsamkeit. Das livianische Geschichtswerk wird zumeist aus historischer Perspektive erforscht, obwohl Livius sich zu Beginn seines Werkes mit der eher mythisch behafteten Gründungszeit Roms beschäftigt und auch ganze mythologische Erzählungen Eingang in sein Geschichtswerk gefunden haben sowie in der Gesamtheit eine Ähnlichkeit zum historischen Roman besteht. In der Praefatio seines Werkes legt Livius dem Leser seine Ziele und Auffassungen bezüglich seiner Geschichtsschreibung dar. Er will mit seinem Werk einerseits dem römischen Volk und dessen Taten, als auch sich selbst ein Denkmal setzen, indem er die Stationen der Geschichte einzeln auf ein Podest hebt, um eine bleibende Erinnerung zu schaffen. Seine Arbeit soll sich von den Dichtern und deren geschmückten Fabeln abgrenzen, indem deren Aussagen weder bestätigt noch negiert werden. Livius sieht einen Kontrast zwischen den mehr oralen fabulae mit meist pejorativen Assoziationen wie „Legende“, „Märchen“ und „unglaubhaft“ und den visuellen monumenta, die etwas Greifbares, mit eigenen Augen Sichtbares und daher Glaubhafteres implizieren. Livius betrachtete die Geschichtsschreibung insofern als Wissenschaft, als dass die literarische Beschreibung von Taten und Ereignissen in ihren verschiedenen Überlieferungen im Vordergrund steht. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode bei der Sichtung seiner Quellen zur Rekonstruktion von Geschehnissen nennt Livius nicht als konkrete Zielsetzung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Übersetzung
3. Livius zwischen res facta und res ficta
3.1 Der Übergang von historia zu mythos
3.2 Der Mythos als retardierendes Moment
3.3 Die Parallele zu Romulus und Remus
3.4 Die Wirkung des Mythischen auf den Menschen
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
5.1 Textausgaben und Kommentare
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Titus Livius verfasste mit seinem Werk Ab urbe condita, das ursprünglich aus 142 Büchern bestand, von denen nur etwa ein Viertel erhalten sind, eine universale römische Geschichte, die von der Gründung Roms bis zum Tod des Drusus im Jahre 9 v. Chr. reicht und erreichte damit zeitenübergreifende Bedeutsamkeit.
Das livianische Geschichtswerk wird zumeist aus historischer Perspektive erforscht, obwohl Livius sich zu Beginn seines Werkes mit der eher mythisch behafteten Gründungszeit Roms beschäftigt und auch ganze mythologische Erzählungen Eingang in sein Geschichtswerk gefunden haben sowie in der Gesamtheit eine Ähnlichkeit zum historischen Roman besteht.[1]
In der Praefatio seines Werkes legt Livius dem Leser seine Ziele und Auffassungen bezüglich seiner Geschichtsschreibung dar. Er will mit seinem Werk einerseits dem römischen Volk und dessen Taten, als auch sich selbst ein Denkmal setzen, indem er die Stationen der Geschichte einzeln auf ein Podest hebt, um eine bleibende Erinnerung zu schaffen.[2]
Seine Arbeit soll sich von den Dichtern und deren geschmückten Fabeln abgrenzen, indem deren Aussagen weder bestätigt noch negiert werden.[3] Livius sieht einen Kontrast zwischen den mehr oralen fabulae mit meist pejorativen Assoziationen wie „Legende“, „Märchen“ und „unglaubhaft“ und den visuellen monumenta, die etwas Greifbares, mit eigenen Augen Sichtbares und daher Glaubhafteres implizieren.
Livius betrachtete die Geschichtsschreibung insofern als Wissenschaft, als dass die literarische Beschreibung von Taten und Ereignissen in ihren verschiedenen Überlieferungen im Vordergrund steht.[4] Die Anwendung der historisch-kritischen Methode bei der Sichtung seiner Quellen zur Rekonstruktion von Geschehnissen nennt Livius nicht als konkrete Zielsetzung.
Er lehnt jedoch trotz der Abgrenzung von der Dichtung das Mythische nicht ab und gesteht es dem römischen Volk zu, seine Wurzeln im mythischen Kontext zu verorten.[5] Deshalb beginnt er sein Werk auch mit den mythischen Ursprüngen. Trotzdem distanziert sich der Autor von nicht überprüfbaren Sachverhalten und macht deren märchenhaften Charakter für den Leser deutlich, um diesem das Urteil – wenn auch womöglich nicht ungelenkt, wie sich im Folgenden zeigen wird – zu überlassen und die eigene Glaubwürdigkeit und größtmögliche Objektivität zu wahren. So befindet er sich stets im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Geschichte und mythologischen Geschichten.
Im Rahmen dieser Arbeit soll in diesem Zusammenhang die Interferenz von Mythos und Wissenschaft näher untersucht werden. Es soll die Frage behandelt werden, weshalb Livius zuerst an sich selbst den Anspruch stellt, sich von Dichtern abzugrenzen, dann aber mit dem Mythos den gleichen „Stoff“ wie diese nutzt. Im Zuge dessen soll geklärt werden, ob dieser Wechsel zwischen Geschichte und Mythos unbewusst erfolgt oder ob die Mythologie eine gezielte Rolle bei der Vermittlung von Geschichte spielt.
Bei all dem darf jedoch nie in Vergessenheit geraten, dass Geschichte und damit auch die Geschichtsschreibung an sich – heute wie damals – lediglich der Versuch einer bestmöglichen Rekonstruktion der Geschehnisse und in keinem Fall die absolute Wahrheit, insofern es so etwas gibt, ist.
Die Textgrundlage für meine Untersuchungen wird hauptsächlich Kapitel 7 des ersten Buches sein, da dort der Übergang zwischen Gründungserzählung und mythologischem Exkurs am deutlichsten ist.
2. Übersetzung
[…] Sacra dis aliis Albano ritu, Graeco Herculi, ut ab Euandro instituta errant, facit. Herculem in ea loca Geryone interempto boves mira specie abegisse memorant, ac prope Tiberim fluvium, qua prae se armentum agens nando traiecerat, loco herbido ut quiete et pabulo laeto reficeret boves et ipsum fessum via procubuisse. Ibi cum eum cibo vinoque gravatum sopor oppressisset, pastor accola eius loci, nomine Cacus, ferox viribus, captus pulchritudine boum cum avertere eam praedam vellet, quia si agendo armentum in speluncam compulisset ipsa vestigia quaerentem dominum eo deductura erant, aversos boves eximium quemque pulchritudine caudis in speluncam traxit. Hercules ad primam auroram somno excitus cum gregem perlustrasset oculis et partem abesse numero sensisset, pergit ad proximam speluncam, si forte eo vestigia ferrent.[6]
[…] Die Opfer für die anderen Götter vollzieht er nach albanischem, für Herkules nach griechischem Brauch, wie sie auch von Euander eingerichtet worden sind. Man erinnert sich daran, dass Hercules, nachdem Geryon getötet worden war, dessen Rinder von wunderbarer Gestalt in diese Gegend getrieben habe, und sich selbst erschöpft vom Weg nahe dem Tiber, wo er, während er die Herde vor sich hertrieb, durch Schwimmen übergesetzt hatte, an einer grasreichen Stelle niedergelegt habe, um die Rinder durch Ausruhen und Futter wieder zu Kräften kommen zu lassen. Als ihn, von Speise und Wein ermüdet, dort ein tiefer Schlaf überkam, zog ein Hirte, ein Bewohner dieser Gegend, mit dem Namen Cacus und ungestüm bezüglich seiner Kräfte, von der Schönheit der Rinder gepackt und weil er diese Beute entwenden wollte, die gestohlenen Rinder, jedes außerordentlich im Hinblick auf seine Schönheit, an ihren Schwänzen in eine Höhle, da ihre Spuren selbst, wenn er die Herde, indem er sie vor sich her führte, in die Höhle getrieben hätte, den suchenden Besitzer zu ihnen geführt hätten. Als Herkules, der bei der ersten Morgenröte aus dem Schlaf erweckt worden war, die Herde mit den Augen gemustert hatte und an der Anzahl bemerkt hatte, dass ein Teil fehlte, ging er zur nächsten Höhle, ob vielleicht dorthin die Spuren führten.
3. Livius zwischen res facta und res ficta
Im ersten Buch behandelt Livius die mythische Gründungszeit Roms und bemüht sich um Objektivität. Er stellt die allgemein bekannte Gründungsgeschichte so dar, wie seine Leser sie kennen, macht aber stets an einigen Stellen deutlich, dass es sich nicht um unumstößliche Fakten, sondern um unüberprüfbare Überlieferung aus Ansichten anderer (vgl. z.B. in Liv. I, 4, 7: Sunt, qui […] putent) bzw. vieler oder Gerüchte und Erzählungen (vgl. z.B. Liv. I, 4, 6: Tenet fama) handelt. Livius distanziert sich auf diese Weise vielfach vom rational nicht Belegbaren und Mythischen.[7]
Zudem entzieht er sich diesbezüglich auch jeglichem Urteil, indem er oft zwei mögliche Hergänge schildert, ohne sich für einen zu entscheiden, oder aber von vorneherein eine Haltung der Unentschiedenheit einnimmt (vgl. z.B. Liv. I, 4, 1 durch seu […] seu). So schafft er innerhalb seiner Geschichtsschreibung Raum für Mythologie, ohne dabei seinen Anspruch an sich als Geschichtsschreiber zu verletzen.[8]
Livius’ Vorgehensweise erinnert an dieser Stelle an den zeitlich viel späteren Satiriker Lukian von Samosata, der in seiner Schrift Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν (Quomodo historia conscribenda sit) jedem Historiker rät:
„Stößt man nun im Lauf der Erzählung auf einen Mythos, so soll man ihn berichten, aber nicht so, als traue man der Sache völlig; die Entscheidung über die Glaubwürdigkeit bleibe in der Schwebe und dem Leser überlassen. Du selbst halte dich aus der gefährlichen Situation heraus und entscheide dich für keine Seite.“[9]
Bei der Beschreibung der Namensgebung der Stadt Rom legt Livius auch hier großen Wert darauf deutlich zu machen, dass sein Bericht nicht auf Richtigkeit überprüft werden kann und es sogar verschiedene Erzählweisen gibt. Er bemüht sich also, die widersprüchlichen Überlieferungen darzustellen, aber keiner den Vorrang zu geben. Doch dann schaltet er unerwartet noch einen mythologischen Exkurs dazwischen und erzählt ohne eine Trennlinie zu ziehen zwischen der hauptsächlichen Erzählebene der Geschichte des römischen Volkes bzw. der Stadtgründung und der von Göttern und Heroen in fließendem Übergang von Herkules und Cacus.[10]
[...]
[1] Vgl. Manfred Fuhrmann: Narrative Techniken im Dienste der Geschichtsschreibung (Livius, Buch 21-22). Eine Skizze, in: Eckhard Lefèvre / Eckhart Olshausen (Hrsg.): Livius, Werk und Rezeption. Festschrift E. Burck, München 1983, S. 19f.
[2] Vgl. Liv. Praefatio 3.
[3] Vgl. Liv. Praefatio 6.
[4] Zur Definition der verschiedenen Arten von Geschichte vgl. Alfred Stern: Fiktionen und Mythen in der Geschichte, in: Kant-Studien, Bd. 70 (1979), S. 52: „ […] Die Geschichte als res scriptae ist notwendigerweise ein Produkt von Dokumentation und Imagination. Wenn diese Imagination oder Einbildungskraft logischer Methodologie unterworfen wird, ergibt sich „wissenschaftliche“ Geschichte […]. Wenn dagegen die imaginative Komponente der Historiographie poetischer Phantasie überlassen wird, dann wird das Resultat in mythologischer Geschichte bestehen. Wenn schließlich die Einbildungskraft des Geschichtsschreibers vom bewussten oder halbbewussten Wunsch geleitet wird, die Gesinnung des Lesers zu beeinflussen, wird ideologische Geschichte sich ergeben.“
[5] Liv. Praefatio, 7.
[6] T. Livius: Ab urbe condita, libri I-V, rec. et adn. crit. instr. R. M. Ogilvie, Oxford 1974.
[7] Für weiterführende genau am Text belegte Gedanken hierzu s. z.B. Fritz Hellmann: Livius-Interpretationen, Berlin 1939, S. 8ff.
[8] Vgl. Gary B. Miles: Livy. Reconstructing early Rome, New York 1995, S.21.
[9] Vgl. Luc. Hist. Conscr. 60, Übersetzung nach H. Homeyer (Hrsg.): Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, griechisch und deutsch, hrsg., übers. u. erl., München 1965, S. 163.
[10] Vgl. dazu auch für das Nebeneinander von Mythos und historia in der antiken Literatur z.B. Karl-Ernst Petzold: Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung. Kleine Schriften zur griechischen und römischen Geschichte (Historia Einzelschriften Heft 126), Stuttgart 1999, S. 33ff.