Jean-Jacques Rousseau gilt als einer der einflussreichsten Philosophen und Pädagogen der Aufklärung. Sein pädagogisches Hauptwerk „Émile oder über die Erziehung“ ist ein Klassiker der Erziehungswissenschaft, der bis heute aktuell ist. Zu Beginn seines Werkes formuliert Rousseau: Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine natürliche Ursprünglichkeit bewahren will, der weiß nicht, was er will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Neigungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch noch Bürger sein. […] Er wird ein Mensch von heute sein, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger: ein Nichts. Die zentrale Frage ist also: Wie kann der Mensch erzogen werden, um in der Gesellschaft mit sich selbst identisch zu sein? Schwerpunkte bei der Bearbeitung dieser Fragestellung sollen Rousseaus Erziehungsbegriff und seine Vorstellung von der Kindesentwicklung sein. Daher wird zum einen das Konzept der „negativen Erziehung“ ausführlich thematisiert, zum anderen die Entwicklungsstufen der formalen Identität. Für das Verständnis des Rousseau’schen Erziehungsbegriffs ist es zunächst notwendig, den menschlichen Naturzustand zu definieren und ihn vom Gesellschaftszustand abzugrenzen. In der menschlichen Natur ist die Fähigkeit zur Vervollkommnung angelegt, die daran anschließend erläutert wird. Darauf aufbauend wird der Erziehungsbegriff Rousseaus thematisiert: Zuerst wird das Ziel der Erziehung bestimmt, dann die drei Instanzen, die an der Erziehung beteiligt sind. Anschließend wird Rousseaus Konzept der „negativen Erziehung“ erläutert, wobei zunächst die Abgrenzung zur „positiven Erziehung“ erfolgt. In Bezug auf die „negative Erziehung“ wird besonders die pädagogische Inszenierung mit dem „Gesetz der Notwendigkeit“ betrachtet. Die Anwendung des Konzepts und die Entwicklung des Kindes werden anhand der Entwicklungsstufen der formalen Identität dargestellt, wobei eine Aufteilung zwischen „Frühe Kindheit“, „Knabenalter“, „Jünglingsalter“ und „Reifezeit“ erfolgt. Von dem zuvor ausführlich behandelten Konzept wird dann Rousseaus Idee der Mädchenerziehung abgegrenzt. Abschließend folgt das Fazit, in dem die Befunde zusammengefasst und ein Ausblick gegeben wird.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Rousseaus Naturbegriff
2.1 Der Naturzustand des Menschen
2.2 Die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen
3 Rousseaus Erziehungsbegriff
3.1 Freiheit als Erziehungsziel
3.2 Die drei Erzieher
3.3 Negative Erziehung
3.4 Erziehung von Mädchen
4 Die Entwicklungsstufen der formalen Identität
4.1 Frühe Kindheit
4.2 Knabenalter
4.3 Jünglingsalter
4.4 Reifezeit
5 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Jean-Jacques Rousseau (* 28. Juni 1712, 2. Juli 1778) gilt als einer der einflussreichsten Philosophen und Pädagogen der Aufklärung. Sein pädagogisches Hauptwerk „Émile oder über die Erziehung“ ist ein Klassiker der Erziehungswissenschaft, der bis heute aktuell ist. Zu Beginn seines Werkes formuliert Rousseau:
Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine natürliche Ursprünglichkeit bewahren will, der weiß nicht, was er will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Neigungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch noch Bürger sein. […] Er wird ein Mensch von heute sein, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger: ein Nichts. (Rousseau, 1998, S. 13)
Die zentrale Frage ist also: Wie kann der Mensch erzogen werden, um in der Gesellschaft mit sich selbst identisch zu sein?
Schwerpunkte bei der Bearbeitung dieser Fragestellung sollen Rousseaus Erziehungsbegriff und seine Vorstellung von der Kindesentwicklung sein. Daher wird zum einen das Konzept der „negativen Erziehung“ ausführlich thematisiert, zum anderen die Entwicklungsstufen der formalen Identität. Für das Verständnis des Rousseau’schen Erziehungsbegriffs ist es zunächst notwendig, den menschlichen Naturzustand zu definieren und ihn vom Gesellschaftszustand abzugrenzen. In der menschlichen Natur ist die Fähigkeit zur Vervollkommnung angelegt, die daran anschließend erläutert wird. Darauf aufbauend wird der Erziehungsbegriff Rousseaus thematisiert: Zuerst wird das Ziel der Erziehung bestimmt, dann die drei Instanzen, die an der Erziehung beteiligt sind. Anschließend wird Rousseaus Konzept der „negativen Erziehung“ erläutert, wobei zunächst die Abgrenzung zur „positiven Erziehung“ erfolgt. In Bezug auf die „negative Erziehung“ wird besonders die pädagogische Inszenierung mit dem „Gesetz der Notwendigkeit“ betrachtet. Die Anwendung des Konzepts und die Entwicklung des Kindes werden anhand der Entwicklungsstufen der formalen Identität dargestellt, wobei eine Aufteilung zwischen „Frühe Kindheit“, „Knabenalter“, „Jünglingsalter“ und „Reifezeit“ erfolgt. Von dem zuvor ausführlich behandelten Konzept wird dann Rousseaus Idee der Mädchenerziehung abgegrenzt. Abschließend folgt das Fazit, in dem die Befunde zusammengefasst und ein Ausblick gegeben wird.
2 Rousseaus Naturbegriff
Rousseaus Begriff der Natur ist unumgänglich, um seinen Erziehungsbegriff nachvollziehen zu können. Sein Erziehungsbegriff steht unter der Prämisse, den Menschen zu ebensolchem und nicht zum Bürger zu erziehen (Schäfer, 2002, S. 60). Für den Bürger ist es unvermeidlich, unter nicht selbst gewählten Umständen zu bestehen (Schäfer, 2002, S. 60). Der Unterschied zum Naturzustand des Menschen soll im Folgenden erläutert werden.
2.1 Der Naturzustand des Menschen
Unter Natur versteht Rousseau einen Punkt, an dem der Mensch sozial, religiös und moralisch unabhängig abseits der Gesellschaft in Übereinstimmung mit sich selbst besteht (Schäfer, 2002, S. 44). Der Naturzustand stellt einen extremen, quasi tierischen Gegensatz zum gesellschaftlichen Menschen dar (ebd., S. 46), der in seiner tatsächlichen Existenz zweifelhaft ist (ebd., S. 54). In seinem natürlichen Zustand wird der Mensch vor allem durch zwei unvermeidbare Prinzipien bestimmt (ebd., S. 36): Das erste Prinzip ist die Selbstliebe, also das Bestreben des Menschen, seine natürlichen Begehren zu erfüllen; das zweite ist das Mitleid. Beide Prinzipien sind nicht unterdrückbar (ebd., S. 37) und bedürfen keines rationalen Nachdenkens (Bolle, 1995, S. 73). Die Kombination beider Prinzipien generiert den Anschein einer friedvollen Natur des Menschen, die nur durch die Bedrohung seiner persönlichen Selbsterhaltung gestört werden kann. Seine natürlichen Bedürfnisse bestehen lediglich aus Essen, Trinken und Schlafen, eingeschränkt zählt Rousseau auch den Geschlechtstrieb dazu (ebd., S. 74). Ihm sind alle Fähigkeiten gegeben, um diese grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen (Rousseau, 1998, S. 57). In diesem Zustand der Balance zwischen Begehren und Fähigkeiten, der Identität mit sich selbst, liegt das menschliche Glück. Dem Menschen sind allerdings auch darüber hinaus Fähigkeiten gegeben, wodurch er sich vom Tier unterscheidet (ebd., S. 58).
2.2 Die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen
Die wesentliche Differenz zwischen Mensch und Tier ist einerseits das Vermögen, frei zu agieren, andererseits die Möglichkeit der eigenen Vervollkommnung (perfectibilité) (Bolle, 1995, S. 78). Ihr Ziel ist die oben erwähnte Identität mit sich selbst, welche unerreichbar ist und daher lediglich als Wegweiser dient (Schäfer, 2002, S. 66). Somit ist die Vervollkommnung ein endloser Vorgang, der in seiner Ungebundenheit aber auch scheitern kann, wodurch der Mensch degeneriert (dégénération) (Bolle, 1995, S. 114). Die Unterdrückung von Freiheit und Bildungsprozessen, die im Vorgang der Vervollkommnung resultieren, sieht Rousseau als Akt gegen die Natur des Menschen an (ebd., S. 79)
3 Rousseaus Erziehungsbegriff
Dem Naturzustand ist die Erziehung als sozialer Begriff fremd, doch für die in der menschlichen Natur angelegte Vervollkommnung ist es notwendig, den natürlichen Entwicklungsprozess mit den gegebenen gesellschaftlichen Umständen in Einklang zu bringen
- dies ist der Gedanke der „natürlichen Erziehung“ (Schäfer, 2002, S. 60). Verantwortung der natürlichen Erziehung ist es, dem Kind auf jeder seiner Entwicklungsstufen Vollkommenheit zu ermöglichen (Kraft, 1997, S. 35), um so die Selbstentfremdung zu verhindern und die Übereinstimmung mit sich selbst auch im gesellschaftlichen Leben zu garantieren (Schäfer, 2002, S. 61).
Dabei betont Rousseau, dass jede Entwicklungsstufe ihren eigenen Wert hat: „Jedes Alter, jede Lebensstufe hat seine eigene Vollkommenheit und seine eigene Reife“ (Rousseau, 1998, S. 149); jede Stufe ist quasi als eigenes kleines Leben anzusehen, in dem das Ziel der Glücklichkeit erreicht werden soll (Kraft, 1997, S. 35). Das Kind bedarf auf jeder Entwicklungsstufe einer altersspezifischen Behandlung: „Behandelt euren Zögling, wie es seinem Alter entspricht“ (Rousseau, 1998, S. 70). Besonders bedeutsam ist Rousseaus „Entdeckung“ der Kindheit als eigenen Lebensabschnitt: „Die Natur will, daß Kinder Kinder sind, ehe sie Männer werden“ (ebd., S. 69). Er kritisiert die Fixierung auf das, „was Erwachsene wissen müssen, aber nicht, was Kinder aufzunehmen imstande sind“ (Rousseau, 1998, S. 5). Damit gilt das Kind nun nicht länger als mangelhaftes Wesen, sondern wird unter anderen Maßstäben als denen des Erwachsenenalters betrachtet (Herb & Taureck, 2012, S. 123).
3.1 Freiheit als Erziehungsziel
Mit seiner Definition „Das Glück auf dieser Erde ist nur ein negativer Zustand; man muß es nach dem geringstem Maß an Leiden messen“ (Rousseau, 1998, S. 57) drückt Rousseau aus, dass das Glück des Menschen von seinem Leidensdruck abhängt. Demnach ist es sinnvoll, den Mensch mit dem Umgang mit Leiden vertraut zu machen (Kraft, 1997, S. 71). Der Ursprung des Leidens liegt im Ungleichgewicht zwischen Begehren und Fähigkeiten (Rousseau, 1998, S. 57). Dieses Ungleichgewicht hängt mit der Einbildungskraft zusammen, die Begehren jenseits der Fähigkeiten produziert: „Die greifbare Welt hat ihre Grenzen, die eingebildete ist grenzenlos“ (ebd., S. 58). Je größer die Diskrepanz zwischen den Begehren und den Fähigkeiten ist, desto weiter entfremdet sich der Mensch von sich selbst und desto unglücklicher wird er. Der Ursprung des Leidens liegt für Rousseau im Konzept der Vorsorge: Indem der Mensch seinen Blick auf die Zukunft fixiert, verliert er die Gegenwart aus den Augen (ebd., S. 60).
Um diese selbstverschuldeten Leiden zu verringern, muss der Mensch sich auf sich selbst besinnen und seine Begehren in Übereinstimmung mit seinen Fähigkeiten bringen (Rousseau, 1998, S. 60). Dadurch wird er von anderen unabhängig und erlangt Freiheit, die Rousseau als das höchste Gut und damit auch als Erziehungsziel ansieht. Dabei gründet er alles auf seine Maxime: „Der wahrhaft freie Mensch will nur, was er kann, und tut, was ihm gefällt. Das ist mein oberster Leitsatz. Man muß ihn nur auf die Kindheit anwenden, und alle Erziehungsregeln lassen sich daraus ableiten“ (ebd., S. 61).
3.2 Die drei Erzieher
Rousseau denkt nicht nur den Menschen als Erzieher, sondern nennt drei verschiedene Instanzen: „Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung. Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns“ (Rousseau, 1998, S. 10). Aufgabe der Natur ist es, die Kräfte und Fähigkeiten auszubilden; die Menschen unterrichten in der angemessenen Verwendung jener Fähigkeiten; die Dinge erziehen mittels Erfahrungen. Über die Natur können die Menschen überhaupt nicht bestimmen, über die Dinge nur teilweise; sie haben lediglich Macht über die Menschen selbst, auch wenn diese nicht zu jeder Zeit gegeben ist. Die drei erzieherischen Instanzen sind also nicht gleichwertig, sie stimmen nicht immer überein. Die Unstimmigkeit führt dazu, dass die Erziehung fehlschlägt und das Kind in sich uneinig verbleibt. Eine erfolgreiche Erziehung hängt von der Übereinstimmung der drei Erzieher ab; da diese Übereinstimmung aber nur zum Teil vom Menschen beeinflusst werden kann, ist das Ziel nur näherungsweise zu erreichen (ebd., S. 11). Dazu ist es notwendig, die Menschen und die Dinge nach der Natur auszurichten, weil diese die einzige Instanz ist, über die der Mensch in keiner Weise verfügen kann.
3.3 Negative Erziehung
In seinem Emile formuliert Rousseau, dass „die erste Erziehung […] rein negativ sein [muß]“ (Rousseau, 1998, S. 72). Um den Begriff der „negativen Erziehung“ verstehen zu können, ist zunächst die Abgrenzung von der „positiven Erziehung“ sinnvoll. In der „positiven Erziehung“ ist das Kind dem Erzieher gegenüber zu Gehorsam verpflichtet: Es muss dem folgen, was der Erzieher als richtig ansieht (Schäfer, 2002, S. 92). Rousseau kritisiert dieses Gehorsamsgebot, da mit ihm die Frage nach den Machtverhältnissen einhergeht. Das Kind hätte die Möglichkeit, die pädagogischen Maßnahmen als Willkür des Erziehers zu sehen, über deren Befolgung es Entscheidungsfreiheit hat. Eine Ablehnung der erzieherischen Maßnahmen würde in ein Widersetzung durch das Kind resultieren, zum Beispiel in Form von Widerworten (Schäfer, 2002, S. 92). Dadurch würde unumgänglich ein Zustand entstehen, in dem Erzieher und Kind um Macht ringen. Rousseaus Kritik liegt allerdings nicht in einer auf Vernunft basierenden Selbstbestimmung, sondern in der Identität mit sich selbst: Das Glück des Menschen kann lediglich durch eine unmittelbare Identität mit sich selbst, das heißt der Freiheit von äußerer Abhängigkeit, hergestellt werden.
Aus diesem Grund plädiert Rousseau für eine „negative Erziehung“, die besser zur Ausbildung der Identität mit sich selbst geeignet ist (Schäfer, 2002, S. 93). Das Gelingen der „negativen Erziehung“ ist an zwei Bedingungen geknüpft: Zum Ersten darf keine andere Person als der Erzieher das Kind beeinflussen; alle anderen Personen dürfen nur in einer vom Erzieher bestimmten Weise auf das Kind einwirken (ebd., S. 95). Zum Zweiten ist es notwendig, dass der Erzieher ununterbrochen Einfluss auf das Kind nehmen kann. Dafür muss der Erzieher sein Leben einzig der Erziehung verschreiben, woran der totalitäre Charakter dieser Methode ersichtlich wird.
„Negative Erziehung“ erfolgt nicht durch unmittelbare, Gehorsam beanspruchende Anweisungen, sondern durch für das Kind arrangierte Situationen (Schäfer, 2002, S. 93). Aufgrund der Abhängigkeit von diesen dinglichen Situationen wird das Kind natürlich erzogen: „Haltet das Kind von den Dingen abhängig und ihr werdet es naturgemäß erziehen.“ (Rousseau, 1998, S. 63). Die Naturgemäßheit einer Situation besteht darin, dass das Kind die Situation als etwas begreift, das von den Absichten des Erziehers unabhängig einer Reaktion bedarf (Schäfer, 2002, S. 94). Wäre diese Unabhängigkeit nicht gegeben, könnte das Kind wie bei der „positiven Erziehung“ entscheiden, ob es dem Willen des Erziehers folgen möchte. Eine natürliche Situation darf dem Kind also keine Alternativen bezüglich der Reaktion ermöglichen; sie muss zwangsläufig in einer bestimmten Ansicht oder Handlung resultieren. Nur wenn der Erzieher also Autorität über die Umwelt des Kindes hat, kann er auch Einfluss auf das Kind ausüben (Rousseau, 1998, S. 74). Rousseau zufolge ist diese Methode zielführender als die „positive Erziehung“, da sie kein problematisches Machtverhältnis und damit keinen Widerstand des Kindes hervorruft (Schäfer, 2002, S. 94). Die Methode der „negativen Erziehung“ dagegen lässt dem Kind keine Wahl, anders als vom Erzieher provoziert zu reagieren; hieran zeigt sich ein Beispiel für den totalitären Charakter dieses Erziehungsbegriffs (ebd., S. 95). Damit das Kind seine Situation als naturgemäß ansieht, muss der soziale Charakter der Beziehung zum Erzieher vernachlässigt werden; der Erzieher darf nicht als der für die Arrangements Verantwortliche erscheinen.
Ein zentrales Prinzip der „negativen Erziehung“ ist das Gesetz der Notwendigkeit: „[das Kind] darf nicht aus Gehorsam tun, sondern nur aus Notwendigkeit“ (Rousseau, 1998, S. 67).
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