"Die moderne Semantik ist ein Produkt der Aufklärung und umfasst von Anfang an neben einer deskriptiven Bedeutung ein normatives Element: Die aufklärerische Rede von Öffentlichkeit meint immer auch, die Dinge des Staates sollen offen, d.h. einer Allgemeinheit zugänglich sein, sie sollen an das Räsonnement der Bürger, an deren Meinungen gebunden werden." (Gerhards/Neidhardt 1990: 4)
Angesichts des Fehlens soziologischer Forschungsergebnisse, die sich explizit dem Öffentlichkeitsphänomen widmen, erscheint ein Rückgriff auf eine vielbeachtete Gesellschaftstheorie und den Stellenwert, den diese der Öffentlichkeit einräumt, sinnvoll (vgl. ebd.: 4). Die systemtheoretische Forschung vermeidet die Bezugnahme auf ein bestimmtes Konzept von Öffentlichkeit. Dementsprechend sind die theoretischen Diskussionen zum Thema Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum durch die Arbeiten von Jürgen Habermas bestimmt (vgl. Gerhards 1997: 1). Das von ihm entworfene Gesellschaftsmodell ist in vielfacher Weise dazu geeignet, im Hinblick auf den betrachteten Untersuchungsgegenstand erkenntnisfördernd zu wirken: Zum einen konstituieren auch Normen als Wertehorizont eine Gesellschaft, und zwar im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und die Vorstellung darüber, welchen Antriebskräften und Funktionsmechanismen das Gemeinwesen folgen sollte. Das Ideelle ist integraler Bestandteil des Phänomens Gesellschaft, und sei es nur aufgrund der Möglichkeit, Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit darzulegen. Peters (1994: 49) bezeichnet Normativität in ihren unterschiedlichen Artikulationsformen als "ein wichtiges Element der symbolischen Verfassung moderner Gesellschaften".
Zum anderen muss bei der Klärung des Stellenwertes von Öffentlichkeit für ein Kollektiv den Charakteristika des politischen Systems Rechnung getragen werden. Schließlich bezeichnet Öffentlichkeit in der Redeweise des staatsrechtlichen Diskurses "die moderne rechtlichpolitische, staatliche Gemeinschaft" (Peters 1994: 43).
Ausgehend vom Postulat Habermas’, "die sozialstaatlichen Massendemokratien dürf[t]en sich [...] nur solange in einer Kontinuität mit den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates sehen, wie sie das Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ernst nehmen" (Habermas 1990a: 33), soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Funktion eine emphatische Konzeption von Öffentlichkeit für eine demokratisch verfasste Gesellschaft auszuüben vermag. Beleuchtet werden soll die Vereinbarkeit eines ideengeschichtlich entwickelten Modells wie der Habermasschen Konzeption mit den institutionellen bzw. sozialpsychologischen Strukturen einer modernen Demokratie; im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit soll die Realisierung bzw. Realisierbarkeit des Modells stehen und darüber hinaus das Leistungspotential des Ansatzes im kommunikationswissenschaftlichen Forschungsverfahren ins Blickfeld rücken.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Modell emphatischer Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas
2.1 Historischer Abriss
2.2 Strukturmerkmale und Funktionen von Öffentlichkeit
2.3 Die diskursive Öffentlichkeit und die institutionalisierten Entscheidungsprozesse
3. Kritische Auseinandersetzung
3.1 Das Modell unter den realen Kommunikationsbedingungen einer modernen Gesellschaft
3.1.1 Gleichheit und Reziprozität der kommunikativen Beziehungen
3.1.2 Offenheit und adäquate Kapazität der öffentlichen Sphäre
3.1.3 Diskursivität
3.2 Theoretische und methodologische Kritik
4. Schlussbetrachtung
5. Quellennachweis
1. Einleitung
Die Kommunikationswissenschaft versteht sich ihrem heutigen Selbstbild nach als eine theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Zügen (vgl. Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2001). Um dem sozialwissenschaftlichen Anspruch der Disziplin Rechnung zu tragen, ist es erforderlich, das Forschungsinteresse auf solche Gegenstände zu lenken, die relevante Bezugsgrößen gesellschaftlicher Kommunikation darstellen. Zweifelsohne konstituiert der Begriff bzw. das Phänomen[1] Öffentlichkeit eine derartige Bezugsgröße - sind doch das Handeln institutionell legitimierter politischer Entscheidungsträger ebenso wie die Aktivitäten der Bürgerinitiativen als Inbegriff der sog. Zivilgesellschaft auf das Ziel gerichtet, „die Öffentlichkeit“ für ihre Standpunkte zu gewinnen bzw. zu mobilisieren.
Beachtenswert erscheint, dass trotz der gesellschaftlichen Relevanz von Öffentlichkeit bislang fruchtbare Klärungsansätze von sozialwissenschaftlicher Seite im Hinblick auf Begrifflichkeit und Struktur fehlen. Auf dem Alltagsverständnis des Öffentlichkeitsbegriffes fußende Definitionen weisen unterschiedliche Bedeutungskerne auf; entweder wird auf die öffentlichen Angelegenheiten als Aufgaben des Gemeinwesens, die Bevölkerungsmehrheit als Majorität im Wahlverfahren oder die Massenmedien abgestellt; bisweilen werden Fragen der allgemeinen Zugänglichkeit im juristischen Sinne berührt, wenn von Öffentlichkeit die Rede ist (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990: 4). Neidhardt (1994: 7) definiert sie als ein „offenes Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“. Als ein entscheidendes Merkmal der Rede von Öffentlichkeit[2] verdient die Normativität besondere Aufmerksamkeit:
„Die moderne Semantik ist ein Produkt der Aufklärung und umfasst von Anfang an neben einer deskriptiven Bedeutung ein normatives Element: Die aufklärerische Rede von Öffentlichkeit meint immer auch, die Dinge des Staates sollen offen, d.h. einer Allgemeinheit zugänglich sein, sie sollen an das Räsonnement der Bürger, an deren Meinungen gebunden werden.“ (Gerhards/Neidhardt 1990: 4)
Angesichts des Fehlens soziologischer Forschungsergebnisse, die sich explizit dem Öffentlichkeitsphänomen widmen, erscheint ein Rückgriff auf eine vielbeachtete Gesellschaftstheorie und den Stellenwert, den diese der Öffentlichkeit einräumt, sinnvoll (vgl. ebd.: 4). Die systemtheoretische Forschung vermeidet die Bezugnahme auf ein bestimmtes Konzept von Öffentlichkeit. Dementsprechend sind die theoretischen Diskussionen zum Thema Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum durch die Arbeiten von Jürgen Habermas bestimmt (vgl. Gerhards 1997: 1). Das von ihm entworfene Gesellschaftsmodell ist in vielfacher Weise dazu geeignet, im Hinblick auf den betrachteten Untersuchungsgegenstand erkenntnisfördernd zu wirken: Zum einen konstituieren auch Normen als Wertehorizont eine Gesellschaft, und zwar im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und die Vorstellung darüber, welchen Antriebskräften und Funktionsmechanismen das Gemeinwesen folgen sollte. Das Ideelle ist integraler Bestandteil des Phänomens Gesellschaft, und sei es nur aufgrund der Möglichkeit, Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit darzulegen. Peters (1994: 49) bezeichnet Normativität in ihren unterschiedlichen Artikulationsformen[3] als „ein wichtiges Element der symbolischen Verfassung moderner Gesellschaften“.
Zum anderen muss bei der Klärung des Stellenwertes von Öffentlichkeit für ein Kollektiv den Charakteristika des politischen Systems Rechnung getragen werden. Schließlich bezeichnet Öffentlichkeit in der Redeweise des staatsrechtlichen Diskurses „die moderne rechtlich-politische, staatliche Gemeinschaft“ (Peters 1994: 43). Politik fungiert als Problemadressat für die Gesellschaft, hat allerdings auch – in der Terminologie der Systemtheorie Niklas Luhmanns und Talcott Parsons[4] - eine „Sonderstellung als Problemlösungssystem, als Steuerungsakteur der Gesamtgesellschaft“ (Gerhards/Neidhardt 1990: 9) inne. Dieser besonderen Position als Steuerungsakteur entspricht ein Recht, mittels legitimer Gewalt auf die anderen sozialen Teilsysteme zuzugreifen, Rahmenbedingungen für deren Akteure zu schaffen (vgl. ebd.: 9). Hier drängt sich die Frage auf, auf welche Weise ein derartig privilegiertes Teilsystem wie die Politik wirksam kontrolliert werden kann. Gerhards und Neidhardt (vgl. ebd.: 9) weisen darauf hin, dass selbst bei fehlender institutioneller Verankerung der Demokratie – wie beispielsweise in den sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks - die Absicherung der politischen Entscheidungsträger nicht ohne Rückgriff auf die Öffentlichkeit vonstatten geht, mag diese auch lediglich in Form demokratischer Rituale simuliert sein. Es gilt auch dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass auch durch den tatsächlich freien Wahlakt – das demokratische Ritual schlechthin – die punktuelle Einflussnahme der Bürger auf die Dauer einer Legislaturperiode ausgedehnt wird, ohne Möglichkeit der Revision der parlamentarischen Kräfteverhältnisse. Der Öffentlichkeit kommt somit eine ergänzende Funktion neben der Institutionalisierung von Volkssouveränität in Form von Abstimmungsverfahren zu (vgl. ebd.: 10 f.).
Die historische Perspektive bietet eine Betrachtung der bürgerlichen Öffentlichkeit unter Emanzipationsaspekten und damit einen Brückenschlag zu den liberalen Ideen der Aufklärung, mithin zu Konzepten normativen Gehalts, die sich im 19. Jahrhundert gestalterisch auf das politische Gemeinwesen auswirken sollten.
Der dargelegte Facettenreichtum des Gegenstands erlaubt die Schlussfolgerung, dass eine Auseinandersetzung mit dem Kommunikationssystem Öffentlichkeit aus normativer Perspektive Rückschlüsse auf die Sinnorientierung einer Gesellschaft zulässt. Ausgehend vom Postulat Habermas’, „die sozialstaatlichen Massendemokratien dürf[t]en sich [...] nur solange in einer Kontinuität mit den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates sehen, wie sie das Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ernst nehmen“ (Habermas 1990a: 33), soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Funktion eine emphatische Konzeption von Öffentlichkeit für eine demokratisch verfasste Gesellschaft auszuüben vermag. Beleuchtet werden soll die Vereinbarkeit eines ideengeschichtlich entwickelten Modells wie der Habermasschen Konzeption mit den institutionellen bzw. sozialpsychologischen Strukturen einer modernen Demokratie; im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit soll die Realisierung bzw. Realisierbarkeit des Modells stehen und darüber hinaus das Leistungspotential des Ansatzes im kommunikationswissenschaftlichen Forschungsverfahren ins Blickfeld rücken.
2. Das Modell emphatischer Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas
2.1 Historischer Abriss
In seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit, die 1962 erschien, zeichnet Habermas die historische Leitlinie nach, auf die sich seine Konzeption emphatischer Öffentlichkeit gründet. Er führt die Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit ein, die er als Nachfolgerin der sog. repräsentativen Öffentlichkeit modelliert. Die Herrschaft des Fürsten im Zeitalter des Feudalismus zeichnet sich durch die öffentliche Repräsentation in Form von Statusmerkmalen aus; sie kulminiert während des Absolutismus (vgl. Habermas 1990a: 58 ff.). Erst mit der wachsenden Bedeutung der bürgerlichen Honoratiorenkabinette setzt das Bürgertum selbstbewusst die Exklusivität und Autonomie des privaten Bereichs gegen die Öffentlichkeit der staatlichen Hoheitsträger[5]. Das Publikum vollzieht den Wandel zur räsonierenden Öffentlichkeit, der erstmals eine Trennung von Staat und Gesellschaft mit sich bringt (vgl. Habermas 1990a: 69 ff.). Becker charakterisiert den Entwicklungsprozess politischer Öffentlichkeit, den Habermas zunächst im England des beginnenden 18. Jahrhunderts zu beobachten glaubt (vgl. Habermas 1990a: 122 ff.), folgendermaßen:
„Der Versuch, Herrschaft rational zu gestalten, wird [...] im öffentlichen Räsonnement privater Bürger Gestalt annehmen. Der Gedanke der ratio, instrumentalisiert über die Gesetzgebung, soll polemisch der absolutistischen Herrschaft, die voluntas ist, gegenübertreten.“ (Becker 2003: 80)
In Deutschland folgt man dieser Entwicklung erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Gründung von Lesegesellschaften[6]: „Das politisch räsonierende Publikum findet vor allem in den privaten Zusammenkünften der Bürgerlichen seinen Ort.“ (Habermas 1990a: 140) Der Prozess der Emanzipation des Bürgertums erreicht mit der Institutionalisierung des Willensbildungsprozesses in den Parlamenten seinen Abschluss: „Die politisch fungierende Öffentlichkeit erhält den normativen Status eines Organs der Selbstvermittlung der bürgerlichen Gesellschaft mit einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsgewalt.“ (Habermas 1990a: 142) Private Autonomie beansprucht angesichts der mit der Verankerung der Demokratie korrespondierenden Entwicklung hin zur Marktwirtschaft lediglich noch der Wirtschaftssektor (vgl. Keulartz 1995: 160).
Jedoch hatte der soziale Strukturwandel im späten 19. Jahrhundert gar zur Folge, dass der Staat regulativ in den privaten Sektor eingriff; der Staat wurde vergesellschaftet und die Gesellschaft verstaatlicht. Damit war der Kategorie bürgerlicher Öffentlichkeit die Existenzgrundlage entzogen (vgl. Becker 2003: 85 f.): „Mit der Entwicklung sozialstaatlicher Massendemokratien nun wird Öffentlichkeit, obwohl formal ausgeweitet, ihrer kritischen Funktion beraubt und gleichsam ‚refeudalisiert’“ (Kunstmann 1977: 28).
Die Etablierung der Public Relations in der öffentlichen Sphäre differenzierter Gesellschaften betrachtet Habermas als Abkehr vom Prinzip der Herstellung von Öffentlichkeit mittels Räsonnement des bürgerlichen Publikums:
„Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Maße ihrer Gestaltung durch public relations wieder feudale Züge an: die ‚Angebotsträger’ entfalten repräsentativen Aufwand vor folgebreiten Kunden: Publizität ahmt jene Aura eines persönlichen Prestiges und übernatürlicher Autorität nach, die repräsentative Öffentlichkeit einmal verliehen hat.“ (Habermas 1985: 337)
Inwiefern die epochaltypische Kategorie bürgerlicher Öffentlichkeit den Hintergrund bildet, vor dem Habermas sein normatives Modell entwickelt, wird im folgenden dargelegt.
2.2 Strukturmerkmale und Funktionen von Öffentlichkeit
Habermas legt seine Gedanken zur Öffentlichkeit erstmals 1962 in seiner Habilitationsschrift nieder. Er entwickelt sie insbesondere im Vorwort zur Neuauflage 1990 und in der Monographie Faktizität und Geltung (1992) zu einem kohärenten Modell weiter, das er unmittelbar mit der Beschreibung eines demokratischen Staatswesens verbindet. Mithin verknüpft er mit seiner Untersuchung explizit die Frage nach der Funktion von Öffentlichkeit innerhalb einer demokratisch verfassten politischen Ordnung (vgl. Gerhards 1997: 9) und betreibt auf diese Weise eine „Repolitisierung des Öffentlichkeitskonzeptes“ (Wieland/Baltes-Schmitt 2003: 70).
Den grundlegenden Zugang zum Phänomen Öffentlichkeit im normativen Modell bildet die Annahme, dass Kommunikation unter Akteuren stattfindet. Dies resultiert unmittelbar aus der Überzeugung Habermas’, Gesellschaft nur im Handeln einzelner Menschen fassen zu können, sowie aus seinem Verständnis von Gesellschaft als Netzwerk kommunikativer Handlungen (vgl. Horster 1999: 37). Mithin handelt es sich um einen handlungstheoretisch orientierten Ansatz, der sich grundsätzlich von der systemtheoretischen Betrachtungsweise unterscheidet[7]. Das kommunikative Geschehen spannt einen sozialen Raum auf, der die „Öffentlichkeit“ des Kollektivs konstituiert.
Der Öffentlichkeitsbegriff erfährt bei Habermas verschiedene Ausprägungen:
„In Habermas’s usage, Öffentlichkeit can mean the political principle of openness or publicity, the means of publication (the media) and the sociological groupings which are the object of such publication (the body of citizens or readers)“ (Peters 1993: 543)
Das Kollektiv schafft Öffentlichkeit, indem es Angelegenheiten von allgemeinem Interesse thematisiert. Die Agenda der relevanten Themen umfasst nicht nur politische Debatten im engeren Sinne – also unmittelbar entscheidungsbedürftige Fragen – sondern darüber hinaus auch Orientierungen und Reflexionen allgemeinerer Art wie kollektive Vergangenheitsbewältigung oder Kulturkritik (vgl. Peters 1994: 46). Hervorzuheben ist weiterhin, dass Problemlösung nicht allein im Sinne einer Beurteilung bzw. Handhabung instrumenteller Handlungsspielräume, sondern auch durch die Beschäftigung mit Bezugsgrößen normativen Gehalts, beispielsweise durch den Austausch über Wertvorstellungen oder die Schaffung eines Interessenausgleichs, betrieben wird. Ziel ist die kollektive Meinungs- und Willensbildung (vgl. ebd.: 46).
Die im Rahmen des Modells stattfindenden Kommunikationen weisen bestimmte Qualitäten auf, die Habermas als normative Gütekriterien definiert (vgl. Gerhards 1997: 8 sowie Peters 1994: 46). Zunächst sind die kommunikativen Beziehungen von Gleichheit und Reziprozität geprägt. Gleichheit stellt auf die Möglichkeit der Partizipation ab; sie impliziert, dass die Hörer- und Sprecherrollen reziprok sind. Mithin existieren im normativen Modell keinerlei Vorrechte formalen Charakters. Faktische Beeinträchtigungen von Gleichheit und Reziprozität sind möglichst einzudämmen (vgl. Peters 1994: 46).
Weiterhin besteht eine Eigenschaft in der prinzipiellen Offenheit für Themen und Redebeiträge. Über die bereits angesprochene Frage nach der kollektiven Relevanz wird in der öffentlichen Debatte selbst entschieden. Dem Anspruch nach werden die als relevant erachteten Themen nicht nur überhaupt zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht, sondern darüber hinaus auch auf angemessene Art und Weise behandelt. Die adäquate Kapazität der öffentlichen Sphäre spiegelt diese Kompetenz des Publikums, die bei der Themenbehandlung zum Tragen kommt, wider (vgl. ebd.: 47).
[...]
[1] Die Frage, ob es sich bei „Öffentlichkeit“ um einen empirisch erfassbaren sozialen Gegenstand oder vielmehr lediglich um eine Bezugsgröße sozial folgenreicher Rhetorik handelt, muss annahmegemäß zugunsten der ersten Definition entschieden werden, um Öffentlichkeit als Funktionssystem der Gesellschaft analysieren zu können. Denn von der sozialen Realität abstrahierte Betrachtungsweisen sind einer Erfahrungswissenschaft nicht zugänglich. Vgl. Gerhards/Neidhardt 1990: 15.
[2] An dieser Stelle lässt sich der in Fn. 1 dargestellte Dualismus klar aufzeigen; deutlich wird hier, dass eine Betrachtung auf mehreren Ebenen – durch die Unterscheidung von Öffentlichkeit und der Rede von Öffentlichkeit - nicht nur legitim, sondern einzig adäquat erscheint, um dem sozialen Phänomen gerecht zu werden.
[3] Als solche führt er u.a. die Kommunikationsgrundrechte des Grundgesetzes und ihre Ausgestaltung in den Pressegesetzen, journalistische Professionsnormen und Forderungen nach der Transparenz politisch-administrativen Handelns sowie nach „öffentlichem Gehör“ für Minoritäten an.
[4] Der Gebrauch systemtheoretischer Begriffe scheint hier angebracht, um die Funktionen des Analysefelds Politik für die Gesellschaft herauszuarbeiten. Diese Beobachterperspektive ermöglicht mittels Differenzbildung die Zuordnung systemspezifischer Eigenschaften.
[5] Habermas zeichnet in Strukturwandel der Öffentlichkeit diese Entwicklung auch literaturgeschichtlich nach: Durch den Verweis auf den Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von Johann Wolfgang von Goethe exemplifiziert er die Abkehr von der bürgerlichen Welt aufgrund der mangelnden Möglichkeiten der Bürger zur Repräsentation: „In unserem Zusammenhang ist Goethes Beobachtung wichtig, dass das Bürgertum nicht mehr repräsentieren, sich von Haus aus eine repräsentative Öffentlichkeit erwirken kann.“ (Habermas 1990a: 68)
[6] Die literarische Öffentlichkeit fungiert als Bindeglied zwischen Intimsphäre und politischer Öffentlichkeit, indem sie in Form von Salons, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften eine Plattform für Diskussionen bietet. Vgl. Keulartz 1995: 162.
[7] In diesem Zusammenhang sei auf die sog. Luhmann-Habermas-Kontroverse 1971 verwiesen, deren Inhalt auf die Formel – dem Titel einer Veröffentlichung Habermas’ folgend - „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ gebracht werden kann.
- Arbeit zitieren
- Natalie Jurewitz (Autor:in), 2005, Normative Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas - Utopie oder Maßstab staatsbürgerlichen Handelns?, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/43728