Baudelaire äußert programmatisch schon in seinem "Salon de 1846", dass die beste Würdigung eines Bildes ein Sonett oder eine Elegie sei und Kunstkritik sich als Kunstinterpretation verstehe. Baudelaire war selber ein durchaus begabter Zeichner mit karikierender Tendenz und ein hervorragender Kenner der Malerei. Die neu erfundene Fotografie als Medium exakter Reproduktion oder Imitation der vorgegebenen Natur, lehnt Baudelaire ab. Der realistischen Abbildungstheorie entgegnet er mit der Schöpfung eines völlig Neuen durch Einbildungskraft: der Imagination, von ihm auch « la reine des facultés » genannt.
Im Vergleich dazu war Louis Daguerre erst begabter Maler und habe dann versucht, mit der Erfindung des ersten fotografischen Verfahrens (Daguerreotypie), ebenfalls die Malerei zu überwinden. Man hatte es allerdings noch nicht geschafft diese neue Erfindung in Worte zu fassen, die einen zivilisatorischen Fortschritt darstellte und bediente sich deshalb dem herkömmlichen Vokabular aus der Malerei: « (…) les tableaux sur lesquels la lumière engendre les admirables dessins de M. Daguerre, (…) » Diese, in der Dunkelkammer (chambre obscure) entstandene, Fotografie (« l‘œuvre de génie » ) dient auch dem Dichter als Studien für seine Kunst.
Die Moderne sei, laut Jonathan Crary, daher einerseits untrennbar mit einer Neuschaffung des Betrachters und andererseits mit der Vermehrung von kursierenden Zeichen und Objekten verbunden, deren Wirkungen mir ihrer Sichtbarkeit – oder dem, was Adorno Anschaulichkeit nennt – zusammenfallen würden. Auf politischer Ebene zeichnet sich der Anbruch des Sozialismus und Kommunismus mit Karl Marx‘ Idee der „kapitalistischen Produktionsweise“ ab. Das Privateigentum an Produktionsmitteln solle aufgehoben werden und eine Gütergemeinschaft beziehungsweise klassenlose Gesellschaft entstehen, die alles gleich und Kunst der Masse zugänglich mache.
Crary ergänzt, dass das, was Marx über das Geld sagte, auch auf die Fotografie zutreffe: Sie sei eine große Gleichmacherin, eine Demokratisiererin, ein „bloßes Zeichen“, eine Fiktion, „durch die sogenannte allgemeine Übereinstimmung der Menschen“ sanktioniert.
Inhalt
1 Einleitung
2 Baudelaire und die Pariser Bohème
3 Der Wein als Weg in les paradis artificiels
4 Der Symbolismus
4.1 Das Symbol ville
4.2 Poesie zwischen réalité und idéal
4.3 Rêve parisien
5 Die Rückkehr in die Zivilisation
6 Schluss
1 Einleitung
« Je veux, pour composer chastement mes églogues,
Coucher auprès du ciel, comme les astrologues,
Et, voisin des clochers, écouter en rêvant
Leurs hymnes solennels emportés par le vent.
Les deux mains au menton, du haut de ma mansarde,
Je verrai l’atelier qui chante et qui bavarde;
Les tuyaux, les clochers, ces mâts de la cité,
Et les grands ciels qui font rêver d’éternité. (…) » [1]
Diese Gedichtstrophe aus den Fleurs du mal von Charles Baudelaire zeugt in eindrucksvoller Weise von der Reflexion des dichterischen Schaffensprozesses in der Großstadt Paris.
Es wird eine schöne Atmosphäre beschrieben und das lyrische Ich[2] plant, Hirtenweisen (églogues) zu verfassen. Der erhabene Dichter, der hier von einem hohen, fast spirituellen Ort auf die Großstadtlandschaft (Paysage parisien[3]) blickt, sammelt visuelle Eindrücke einer Stadt, der man die industriellen und architekturellen Umwälzungen in dieser Zeit anmerken kann.
Er schreibt in seinem Salon de 1859, wie schnell die Gesellschaft den Weg des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts einschlage.[4]
Man könnte bei diesem Blick des Dichters von der Mansarde seines Zimmers im Dachgeschoss aus, Assoziationen zum „Berg der Musen“[5] aus der griechischen Mythologie bekommen, einem heiligen Ort, der von Musen und dem Gott Apollon bewohnt ist. Baudelaire selbst gehörte den Parnassiens, einer französischen Dichtergruppe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an, deren Grundgedanke das Prinzip des l’art pour l’art[6] war.[7]
Paris habe sich damals unter dem Second Empire sehr stark durch die Verschönerung und Modernisierung aufgrund der Konzepte von Baron Haussmann und Napoléon III., den Grands Travaux Haussmanniens, verändert.[8] Diese prägen das Stadtbild bis heute, werden von Baudelaire jedoch in seinem Salon de 1859 angefochten.
Er fordert in seinen kritischen Arbeiten zu Kunst und Literatur, dass die Malerei stärker die Veränderungen der Landschaft durch die industrielle Revolution berücksichtigen sollte.
Dieser im 19. Jahrhundert beginnende Fotografie-Diskurs[9], der bis heute noch nicht abgeschlossen ist, beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Literatur (Kunst) und technisch/ wissenschaftlichen Medien (Intermedialität).
Mme de Girardin[10] begrüße in ihren „Pariser Briefen“[11] die Fotografie wie folgt:
„Man beschäftigt sich derzeit viel mit der Erfindung des Herrn Daguerre, und nichts ist possierlicher als die seriösen Erläuterungen, die unsere Salongelehrten von ihr zu geben wissen.“[12]
Baudelaire äußert programmatisch schon in seinem Salon de 1846, dass die beste Würdigung eines Bildes ein Sonett oder eine Elegie sei und Kunstkritik sich als Kunstinterpretation verstehe. Baudelaire war selber ein durchaus begabter Zeichner mit karikierender Tendenz und ein hervorragender Kenner der Malerei.[13] Die neu erfundene Fotografie als Medium exakter Reproduktion oder Imitation der vorgegebenen Natur, lehnt Baudelaire ab. Der realistischen Abbildungstheorie entgegnet er mit der Schöpfung eines völlig Neuen durch Einbildungskraft: der Imagination, von ihm auch « la reine des facultés »[14], genannt.
Im Vergleich dazu war Louis Daguerre erst begabter Maler und habe dann versucht, mit der Erfindung des ersten fotografischen Verfahrens (Daguerreotypie), ebenfalls die Malerei zu überwinden.[15]
Man hatte es allerdings noch nicht geschafft diese neue Erfindung in Worte zu fassen, die einen zivilisatorischen Fortschritt darstellte und bediente sich deshalb dem herkömmlichen Vokabular aus der Malerei: « (…) les tableaux sur lesquels la lumière engendre les admirables dessins de M. Daguerre, (…) »[16] Diese, in der Dunkelkammer (chambre obscure) entstandene, Fotografie (« l‘œuvre de génie »[17] ) dient auch dem Dichter als Studien für seine Kunst.
Die Moderne sei, laut Jonathan Crary, daher einerseits untrennbar mit einer Neuschaffung des Betrachters und andererseits mit der Vermehrung von kursierenden Zeichen und Objekten verbunden, deren Wirkungen mir ihrer Sichtbarkeit – oder dem, was Adorno[18] Anschaulichkeit nennt – zusammenfallen würden.[19]
Auf politischer Ebene zeichnet sich der Anbruch des Sozialismus und Kommunismus mit Karl Marx‘[20] Idee der „kapitalistischen Produktionsweise“[21] ab. Das Privateigentum an Produktionsmitteln solle aufgehoben werden und eine Gütergemeinschaft beziehungsweise klassenlose Gesellschaft entstehen, die alles gleich und Kunst der Masse zugänglich mache.
Crary ergänzt, dass das, was Marx über das Geld sagte, auch auf die Fotografie zutreffe: Sie sei eine große Gleichmacherin, eine Demokratisiererin, ein „bloßes Zeichen“, eine Fiktion, „durch die sogenannte allgemeine Übereinstimmung der Menschen“ sanktioniert.[22]
Der Franzose Michel Foucault stellt fest, dass die Gesellschaft in das Räderwerk der panoptischen beziehungsweise überall einsehbaren Maschine, das sie selber in Gang halte, eingeschlossen sei.[23]
Und Walter Benjamin[24] bedauert , dass im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, seine Aura, das heißt, seine wahrnehmbare Ausstrahlung und Einzigkeit, verkümmere.[25]
Im Folgenden soll nun eine Antwort auf die Frage gefunden werden, inwiefern die Fotografie als neue Erfindung Einfluss auf den Dichter Baudelaire nimmt beziehungsweise wie er darauf in seiner literarischen und theoretischen Rede und Reflexion über Poetik und Ästhetik, der wahrnehmbaren Schönheit und Harmonie[26] in Natur und Kunst, reagiert, und mit welchen Mitteln er bei seiner Imagination arbeitet, die man als Antwort und anti-objektive Gegenströmung (anti-réalisme) zum aufkommenden Realismus, der für den Dichter eine Problematik darstellt, betrachten kann.
Mein besonderes Interesse liegt dabei darin, den dichterischen Schaffensprozess Baudelaires nachzuzeichnen. Die Ausgangsbasis für dieses Vorgehen bildet das erste Kapitel, in dem die Situation des Künstlers innerhalb der Pariser Gesellschaft dargestellt wird. Durch verschiedene Mittel wird dann im Laufe des Hauptteils auf den Höhepunkt im dritten Kapitel, dem Pariser Traum, klimaktisch hingearbeitet. Zum Schluss hin, im vierten Kapitel, kehrt der Dichter dann wieder in die Realität zurück und findet sich in der Menschenmasse wieder, was insgesamt einen Rahmen in Bezug auf den Anfang darstellen soll.
2 Baudelaire und die Pariser Bohème
Der Dichter Baudelaire gehörte zu der sogenannten literarischen Pariser « Bohème »[27], einer Subkultur des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um intellektuelle gesellschaftliche Randgruppen von individuellen Künstlern und Literaten mit antibürgerlicher Einstellung, Geldsorgen und Identitätsfindung. Sie hatten alle Selbstverwirklichung und kreative Freiheit als Wunsch und fielen durch ein exzentrisches Wesen auf (vgl. « Le Dandysme »[28]). Ihre leidenschaftliche Hingabe zur Kunst schreckte sie nicht vor der Tatsache ab, dass diese nicht zum Verdienst reichte.
Paul Verlaine führte für den Dichter, der sich am Rande der Gesellschaft befindet und das gewöhnliche und unkultivierte der Welt verachtet, den Begriff « Poète maudit »[29] (deutsch „verfemter Dichter“) ein.
In seinem Salon de 1859 geht Baudelaire auch auf die Künstlerproblematik und das ennui urbain des Großstadtmenschen ein. Die Stadt wird zu einem Raum radikaler Entfremdung gegenüber dem Dasein, der Dichter fühlt sich wie in einer Art Exil und entfremdet sich von sich selbst (« goût du néant ») [30] . Dieser Konflikt des Poeten zwischen Melancholie, Modernität, Schwermut und Sehnsucht nach idéal (spléen) versucht Baudelaire in seinen Fleurs du mal (1857) zu verarbeiten.[31] Es handelt sich dabei um einen künstlerisch-esoterischen Protest und eine Reaktion auf die von ihm verhasste materialistische Kauf- und Warenwelt und deren Wertesystem.
[...]
[1] Paysage (Tableaux parisiens), in: Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les fleurs du mal. Französisch/ Deutsch, Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1998, S. 168, V. 1-8
[2] Autobiographisch.
[3] Ursprünglicher Titel des Gedichts, der zuerst andere Erwartungen beim Leser erfüllt, als das Gedicht selbst.
[4] Vgl. Baudelaire, Charles: Salon de 1859. Lettres à M. le directeur de la « Revue Française », in: Claude Pichois (Hrsg.): Œuvres complètes II, Gallimard, Paris, 1976, S. 616: « Aussi admirons avec quelle rapidité nous enfonçons dans la voie du progrès (…)».
[5] Parnassos.
[6] Die Kunst um der Kunst willen.
[7] Vgl. Narteau, Carole/ Irène Nouailhac: La littérature française – Les grands mouvements littéraires du XIXe siècle, Librio, Paris, 2009.
[8] Vgl. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 1. Auflage (Nachdruck), hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main, 1997, S. 34.
[9] Vgl. Baudelaire, Charles: 1976, S. 608: « Mon cher M****, (…) ».
[10] Französische Dichterin.
[11] Feuilleton.
[12] Benjamin, Walter: 1997, S. 25.
[13] Vgl. Baudelaire, Charles: 1998, S. 485 (Nachwort).
[14] Baudelaire, Charles: 1976, S. 619.
[15] Vgl. Janin, Jules: Le Daguerotype. L‘artiste, 1839, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.): Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, Fink, München, 1990, S. 203.
[16] Arago, François: Rapport à la Chambre des députés, 1839, in: André Rouillé (Hrsg.): La photographie en France. Textes & controverses. Une anthologie, 1816-1871 (Histoire de la photographie), Macula, Paris, 1989, S. 39.
[17] Ebenda, S. 36.
[18] Theodor W. Adorno => deutscher Philosoph und Soziologe.
[19] Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/ Basel, 1996, S. 22.
[20] Ökonom und Führer der Arbeiterbewegung.
[21] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, zweite Fassung, in: R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Band I, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1977, S. 473 (Vorwort).
[22] Vgl. Crary, Jonathan: 1996, S. 24.
[23] Ebenda, S. 28.
[24] Deutscher Übersetzter und Kritiker u.a. der Werke Baudelaires.
[25] Vgl. Benjamin, Walter: 1977, S. 477.
[26] Vgl. unmittelbar vorangegangene Romantik.
[27] Vgl. Benjamin, Walter: 1997.
[28] Brague, Rémi: Image vagabonde. Essai sur l’imaginaire baudelairien, Les Éditions de la Transparence, Chatou, 2008, S. 117.
[29] Vgl. Verlaine, Paul: Les poètes maudits. Introduction et notes par Michel Decaudin (Hrsg.), Sedes, Paris, 1982.
[30] Adatte, Emmanuel: Les fleurs du mal et Le spleen de Paris. Essai sur le dépassement du réel, Libraire José Corti, Paris, 1986, S. 39.
[31] Vgl. Baudelaire, Charles: 1976, S. 661: « Dans leur monotone laideur, tous ces petits parias ont une prétention philosophique, mélancolique et raphaélesque. ».