Der realistische Autor Wilhelm Raabe ist bekannt für seine ablehnende Haltung gegenüber Industrialisierungs- und Modernisierungsprozessen. In einem Großteil seiner Werke erinnert er mittels einer "Fortschritt-Gesellschaft an aufgelöste Traditionen“, wie auch in "Pfisters Mühle".
Raabe beschreibt in der 1884 erschienenen Erzählung "Pfisters Mühle" mit Hilfe der Mehrschichtigkeit und Schwierigkeit des Untergangs einer Idylle den Kampf des vorindustriellen Deutschland gegen die unaufhaltbare Industrialisierung und Kapitalisierung. Er setzt sich dabei kritisch mit der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands auseinander und ist sich dennoch darüber bewusst, dass er mit ihr verhaftet ist. In dem "Sommerferienheft" dominiert der beschriebene historische Prozess, "der die Figuren lediglich zu seinen Exponenten werden lässt".
Wie bereits zu Beginn der Erzählung beschrieben wird, handelt sie von "alten und neuen Wundern“ (Pfisters Mühle, S.5). Dies ist bereits eine Vorausdeutung auf die kommenden Geschehnisse, die sich in und um Pfisters Mühle abspielen, da alte Wunder die noch unbeseelte Natur meinen, neue Wunder hingegen die Industrialisierung. Die bereits auf der ersten Seite der Erzählung genutzte Doppeldeutigkeit von Begriffen bzw. ihr ambivalenter Einsatz ziehen sich durch die gesamte Erzählung und stellen so immer wieder die idyllische Beschreibung der Mühle und ihre Zerstörung gegenüber. Hierbei verzichtet Raabe auf jegliche Idealisierung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. DefiŶitioŶ ‚IdLJlle‘
3. Idylle in Pfisters Mühle
4. Zerstörung in Pfisters Mühle
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der realistische Autor Wilhelm Raabe ist bekannt für seine ablehnende Haltung gegenüber Industrialisierungs- und Modernisierungsprozessen.1 In einem Großteil seiner Werke eriŶŶert er ŵittels eiŶer „FortsĐhritt-GesellsĐhaft aŶ aufgelöste TraditioŶeŶ“2 wie auch in „Pfisters Mühle“.
Raabe beschreibt in der 188ϰ ersĐhieŶeŶeŶ ErzähluŶg „Pfisters Mühle“ mit Hilfe der Mehrschichtigkeit und Schwierigkeit des Untergangs einer Idylle den Kampf des vorindustriellen Deutschland gegen die unaufhaltbare Industrialisierung und Kapitalisierung. Er setzt sich dabei kritisch mit der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands auseinander und ist sich dennoch darüber bewusst, dass er mit ihr verhaftet ist. IŶ deŵ „SoŵŵerferieŶheft“ dominiert der beschriebene historische Prozess, „der die Figuren lediglich zu seinen Exponenten werden lässt“3.
Wie ďereits zu BegiŶŶ der ErzähluŶg ďesĐhrieďeŶ ǁird, haŶdelt sie ǀoŶ „alteŶ uŶd ŶeueŶ WunderŶ“ ;Pfisters Mühle, S.5)4. Dies ist bereits eine Vorausdeutung auf die kommenden Geschehnisse, die sich in und um Pfisters Mühle abspielen, da alte Wunder die noch unbeseelte Natur meinen, neue Wunder hingegen die Industrialisierung. Die bereits auf der ersten Seite der Erzählung genutzte Doppeldeutigkeit von Begriffen bzw. ihr ambivalenter Einsatz ziehen sich durch die gesamte Erzählung und stellen so immer wieder die idyllische Beschreibung der Mühle und ihre Zerstörung gegenüber. Hierbei verzichtet Raabe auf jegliche Idealisierung.
Bei der Definition der Idylle wird ausschließlich Sekundärliteratur genutzt. In den folgenden KapitelŶ „IdLJlle iŶ Pfisters Mühle“ uŶd „)erstöruŶg iŶ Pfisters Mühle“ ǁird ǀor alleŵ das close reading dominieren, in dem es vor allem um die Analyse von Textstellen geht, die die Gestaltung der Idylle schildern oder deren Bedeutung für die einzelnen Individuen in und um Pfisters Mühle herausstellen. Darüber hinaus wird jedoch weiterhin Sekundärliteratur geŶutzt, uŵ )usaŵŵeŶhäŶge ǀoŶ „Pfisters Mühle“ zuŵ allgemeinen Idyllenbegriff herzustellen.
2. Definition ‚Idylle‘
Die Idylle als literarische Gattung wurde vor allem Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts dazu genutzt, ungestörtes Glück und Ruhe darzustellen. Sie ist schwer von anderen Gattungen abzugrenzen, da sie vor allem durch Motive und Gestaltungszüge geprägt ist uŶd „es sĐhǁierig zu eŶtsĐheideŶ ist, iŶǁieǁeit eiŶzelŶe Motiǀe sĐhoŶ geŶügeŶ uŵ eiŶeŶ Tedžt als IdLJlle aŶzuspreĐheŶ“5. Wie Hegel iŶ seiŶeŶ „VorlesuŶgeŶ üďer die Ästhetik“ forŵuliert, sieht die IdLJlle „ǀoŶ alleŶ tiefereŶ allgeŵeiŶereŶ IŶteresseŶ des geistigeŶ uŶd sittliĐheŶ LeďeŶs [aď] uŶd [stellt] deŶ MeŶsĐheŶ iŶ seiŶer UŶsĐhuld [dar]“6.
Das antike Gattungsmuster, welches vor allem durch Theokrit und Vergil geprägt wurde, verband die Idylle vorwiegend mit der Hirtenszenerie.7 Auch das Landleben und Land- oder Feldgedichte wurden genutzt, um ein Gegenbild zu der zivilisierten Welt zu entwickeln.8 In engem Zusammenhang mit dem idyllischen Raum in der Antike steht der literarische Topos des locus amoenus, lat. der liebliche Ort, der für Beschreibungen einer idealisierten Landschaft, wie zum Beispiel Vogelsang, schattige Bäume oder Gras, genutzt wird.9 Durch die Idealisierung kommt es vor allem zur Beschreibung glücklicher )ustäŶde, „die LaŶdsĐhaft ist frei ǀoŶ alleŶ ǁidrigeŶ )ustäŶdeŶ“10. Deshalb wird der locus amoenus auch als „LaŶdsĐhaft des GlüĐkes“11 bezeichnet.
Salomon Geßner beruft sich in seiner Idyllendichtung auf Theokrit und dessen Naturnähe.12 Er wendet sich mittels Arkadienvisionen der Natur und Ländlichkeit zu und preist Hirten und Schäfer an, die dazu fähig sind, ein einfaches Leben mit wenig materiellen Bedürfnissen zu führen.13 GeßŶer ŵöĐhte ǁeder die „Widerspiegelung noch Verklärung der ländlichen Realität“14 erreichen, sondern das Bewusstsein der eigenen Tugendhaftigkeit in den Mittelpunkt stellen. Laut GeßŶer siŶd die IdLJlleŶ für ihŶ „die FrüĐhte eiŶiger [seiŶer] vergnügtesten Stunden“, da sie ihŵ dazu ǀerhelfeŶ, siĐh „aus uŶserŶ SitteŶ ǁeg, iŶ eiŶ
goldŶes Weltalter“15 zu versetzen.
Im Gegensatz zu Geßner beschreibt Johann Heinrich Voß vor allem den Typus der bürgerlichen Idylle, in dessen Mittelpunkt das harmonische Zusammenleben von Familien steht.16 DurĐh die BesĐhreiďuŶg des tägliĐheŶ LeďeŶs erreiĐheŶ Voß‘ IdLJlleŶ die Ruhe und Statik, wie sie für eine Idylle typisch ist.
In der neuen Idyllentradition meiden Dichter die kalte Künstlichkeit Arkadiens und begeistern sich „aŶ deŶ wahren Schönheiten des vorhandenen Landlebens“17. Es geht um deŶ „ǀertrauteŶ UŵgaŶg eiŶfaĐher, geŶügsaŵer uŶd uŶsĐhuldiger MeŶsĐheŶ soǁohl untereinander als auch mit einer freundlichen, Geborgenheit und Nahrung spendenden Natur“18. Dennoch kann die Idylle auf Grund radikaler gesellschaftlicher Veränderungen häufig nicht mehr ihren unschuldigen Glanz erhalten.
Der idyllische Raum ist laut Uwe Heldt durch drei Eigenschaften charakterisiert, die im Folgenden näher beschrieben werden.
Typisch für die Darstellung des idyllischen Raumes ist die Abgrenzung desselbigen. Jede Idylle ist gekennzeichnet durch ihre Autonomie, die nur dadurch entstehen kann, dass es eine räumlich-begrenzte Welt gibt, an die die Personen und ihr Leben mit all seinen Ereignissen gebunden sind. Auch das Leben verschiedener Generationen findet an diesem Ort statt. Eine Idylle lässt daher nur eine geringe Anzahl von Räumen zu.19 Des Weiteren kommt es in der Idylle durch die Abgrenzung des Raumes zu einer gewissen Ruhe, die die ‚ǁeite Welt‘ ŵit ihreŶ KoŶflikteŶ ausspart. Die Idylle schildert weder Unbekanntes noch Neues. Dies verleiht ihr eine nostalgische Tendenz, da sie sich vor allem mit Dingen und Vorgängen aus der Vergangenheit befasst. Sie beschränkt sich auf wenige fuŶdaŵeŶtale RealitäteŶ des LeďeŶs, ǁie „Lieďe, Tod, Ehe, Arbeit, Essen und Trinken, AltersstufeŶ“20. Durch diese Begrenzung kommt es dazu, dass die Idylle ein Raum der Ruhe ist. Es gibt keinerlei externe Einflüsse und daher keine Angst vor einer ungewissen und bedrohenden Zukunft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht im Zentrum ganz die idyllische Empfindung des Erzählers, der seine subjektiven Eindrücke schildert.21
Die dritte EigeŶsĐhaft der IdLJlle geht eiŶher ŵit ihreŵ „positiǀeŶ GruŶdĐharakter für die iŶ ihŵ leďeŶdeŶ ďzǁ. ihŶ ďetraĐhteŶdeŶ PersoŶeŶ“22. Der idyllische Raum dient dazu, eine Identität zu suchen oder zu erreichen.
3. Idylle in Pfisters Mühle
„Pfisters Mühle“ haŶdelt von dem sich entfremdenden Objekt, das im Mittelpunkt der Handlung steht - die Mühle. Die Mühle befindet sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts im Besitze der Familie Pfister (vgl. PM 13). Die Mühle wird als idyllischer Ort beschrieben, bevor die Zerstörung dessen eintritt. So wird bereits zu BegiŶŶ ǁird auf „das alte roŵaŶtisĐhe LaŶd“ (PM 6) verwiesen, auf den himmlischen Morgen in Pfisters Mühle und die Wildtauben in den Bäumen. Die Taube ist eines der ältesten christlichen Symbole für Hoffnung und Frieden. So ist auch sie ein Bildnis für die Ruhe, die in der Mühle Einzug hält und charakteristisch für eine Idylle ist.23 Die Landschaft um Pfisters Mühle wird als malerisch ďesĐhrieďeŶ: Der ǁolkeŶlose ďlaue Hiŵŵel, die „GrilleŶ auf deŶ WieseŶ jeŶseits des BaĐhes“ (PM 25), Enten im Schilfrohr und der stille, grüne Mühlengarten beschreiben, wie bereits oben erwähnt, die Ruhe des Raumes (vgl. PM 25). Pfisters Mühle ist einsam und entlegen. Es scheint keinerlei Bedrohung von außen zu bestehen.
Der „VergŶüguŶgsgarten“ ;PM ϭϳϵͿ von Pfisters Mühle ist ein Platz der Geselligkeit: Die halbe Stadt findet sich in dem „[fröhliĐheŶ] Mühlgarten“ ;PM 46) ein, um den Abendzauber der Natur zu genießen (vgl. PM 26). Die Mühle ist als „guter, ǀergŶügliĐher ErdeŶfleĐk“ uŶd „grüŶe, lustige FeieraďeŶdstelle“ (beide PM 40) bekannt, an dem sich an Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen die Lehrer des städtischen Gymnasiums treffen und eine große Familie bilden (vgl. PM 38). Es ist eine Stätte des Zusammenkommens und Zusammenhalts. Dementsprechend wird auch Weihnachten „uŶter deŵ ǀäterliĐheŶ DaĐh“ gefeiert, um in „WohlďehageŶ“ ;beide PM 45) das neue Jahr zu beginnen. Der Mühlengarten verdeutlicht, dass es siĐh ďei Pfisters Mühle uŵ eiŶeŶ Ort haŶdelt, der „SĐhutz [uŶd )ufluĐht] ǀor der feiŶdliĐheŶ Welt“24 ďietet uŶd eiŶe „ErǁeiteruŶg des ďehüteteŶ WohŶrauŵs“25 darstellt.
Somit wird auch dieses Motiv genutzt, um die Ruhe des idyllischen Raumes in dieser Erzählung zu gestalten. Die Erweiterung des Wohnraumes wird auch dadurch deutlich, dass Emmy Pfister außerhalb des Hauses ihr Morgenkleid und ihre Pantoffeln trägt; Kleidungsstücke, die normalerweise nur innerhalb des Wohnraumes getragen werden (vgl. PM 75). UŶd auĐh Eďert ǀerďriŶgt eiŶe letzte WoĐhe iŶ „seiŶer Mühle“, uŵ Ruhe uŶd Zuflucht vor der bedrohlichen Welt zu bekommen. Die Mühle ist „ǀoll ǀoŶ alleŵ, ǁas zur BehagliĐhkeit des LeďeŶs gehört“ ;PM ϴϭͿ. Sie verschafft Schutz vor der Außenwelt, indem sie Wärme und Licht bietet und die Menschen vor der Kälte und Dunkelheit der Umgebung abschirmt.
Pfisters Mühle hat für seinen letzten Müller, Vater Pfister, noch eine größere Bedeutung. Für ihn beinhaltet die Mühle all seine Lust am Leben. Sie ist ein Teil seiner Existenz, er bezeichnet sie als seiŶ „Geǁerk uŶd LeďeŶ“ ;PM 92). Die Mühle ist für Vater Pfister ein Ort mit ausschließlich positiven Eigenschaften, in diesem Raum erfährt er seine Identität. Somit wird die Mühle zu einer Idylle für Vater Pfister persönlich.26
Im Gegensatz zu seinem Vater ist Pfisters Mühle für Ebert ausschließlich ein Ort der Erinnerung mit Beliebtheitscharakter. Er träumt noch von Pfisters Mühle, hat aber mit der Mühle, wie sie einst war, abgeschlossen, da er in der Lage ist, sich auch an anderen Räumen, wie Berlin oder die Universität, zu orientieren (vgl. PM 22). Dennoch bleibt Pfisters Mühle für ihŶ so, ǁie er sie ǀoŶ deŶ KiŶdheitseriŶŶeruŶgeŶ keŶŶt. „Es siŶd Ŷur Uŵrisse uŶd FarďeŶ, welche wechseln; RahŵeŶ uŶd LeiŶǁaŶd ďleiďeŶ“ ;PM 31). Diese Aussage, die er in Zusammenhang mit einer Kunstausstellung macht, lässt sich auf seine Mühle übertragen. Auch wenn die Mühle zu einer Fabrik umgebaut wird, so bleibt das Gelände, auf dem die Mühle stand, immer das gleiche: Ein mit den Kindheitserinnerungen behafteter „verzauďerter GruŶd uŶd BodeŶ“ ;PM 42).
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1 Vgl. Vormweg, Uwe (1993): Wilhelm Raabe. Die historischen Romane und Erzählungen. Paderborn: IGEL Verlag. S.40.
2 Ebd., S.40.
3 Heldt, Uwe (1980): Isolation und Identität: Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt am Main: Lang. S.182.
4 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Reclam Universal-Bibliothek, 2009 mit dem Kürzel PM.
5 Böschenstein, Renate (1967): Idylle. Stuttgart: J.B.Metzlersche Verlagsbuchhandlung. S.5.
6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. In Schneider (Hrsg.): Deutsche Idyllentheorien, 1988. S.209.
7 Vgl. Tanzer, Ulrike (2011): Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg: Königshausen und Neumann. S.178.
8 Vgl. ebd., S.178.
9 Vgl. Böschenstein 1967, Idylle, S.8.
10 Heidenreich, Joachim (1985): Natura delectat. Zur Tradition des locus amoenus bei Joseph von Eichendorff. Konstanz: Hartung-Gorre. S.23.
11 Ebd., S.23.
12 Vgl. Kluger, KariŶ ;ϮϬϬϭͿ: „Der letzte AugeŶďliĐk der hüďsĐheŶ IdLJlle“: Die ProďleŵatisieruŶg der IdLJlle ďei Wilhelm Raabe. New York (u.a.): Lang. S.13.
13 Vgl. Hämmerling, Gerhard (1981): Die Idylle von Geßner bis Voß: Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung. Frankfurt am Main (u.a.): Lang. S.110.
14 Kluger 2001, S.15.
15 Geßner 1973; zit. n. Kluger 2001, S.181.
16 Vgl. Kluger 2001, S.07.
17 Hämmerling 1981, S.110.
18 Ecker 1998, zit. n. Tanzer 2011, S.177.
19 Vgl. Heldt 1980, S.22.
20 Bachtin, Michail (1989): Formen der Zeit im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt am Main: Fischer. S.180.
21 Vgl. Heldt 1980, S.23.
22 Ebd.
23 Vgl. ebd., S.22.
24 Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G. (1995): Themen und Motive in der Literatur: ein Handbuch. Tübingen (u.a.): Francke. S.173.
25 Ebd.
26 Vgl. Heldt 1980, S.23.