Manche Werkstatt für Behinderte (WfB) scheint sich immer mehr zu einer Kopie des nach Gewinn strebenden industriellen Betriebes zu entwickeln. Ist die sozialpädagogische Förderung dabei noch gewährleistet? Behinderteninstitutionen befinden sich ja aufgrund der immer spärlicher fliessenden Subventionen in einem echten Dilemma; sollen sie doch einerseits einen immer grösser werdenden Teil ihrer Kosten selber tragen, andererseits sind sie gezwungen, ein aufwändiges und professionelles Qualitätsystem in der Betreuung zu gewährleisten. Der grosse wirtschafts- und sozialpolitische Wandel der Gesellschaft wirkt direkt und indirekt auf Arbeitschancen und Lebensqualität behinderter Menschen. Wie soll nun eine WfB mit ihren begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen diese neuen Ansprüche auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Wie kann man pädagogische Überlegungen mit dem Streben nach mehr Rentabilität in Einklang bringen? Brauchen Menschen mit einer Behinderung vielleicht gar keine so intensive Begleitung und Förderung? Sind sie gar zufrieden mit ihrer einfachen, oft monotonen Arbeit? Mit der vorliegenden Arbeit wird versucht, anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Sozialpädagogik und Werkstattpraxis die Frage des Förderungsanspruches auszuleuchten. Es wird aufgezeigt, mit welchen Mitteln es möglich ist, Menschen am geschützten Arbeitsplatz trotz Produktions- und Termindruck zu motivieren und zu fördern, um damit sowohl die sozialpädagogischen, als auch die unumgänglichen wirtschaftlichen Ansprüche im eng gesteckten Handlungsrahmen der leistungsorientierten Werkstatt abdecken zu können.
INHALT
1. EINLEITUNG
1.1 MEINE MOTIVATION ZU DIESEM THEMA
1.2 FRAGESTELLUNG DIESER ARBEIT
1.3 DAS ZIEL DIESER ARBEIT
1.4 ANGEWENDETE MITTEL UND METHODEN
1.5 VORSTELLUNG VON INSTITUTION UND EIGENEM ARBEITSPLATZ
2. DIE WERKSTATT FÜR BEHINDERTE - DEFINITION UND GESCHICHTE
2.1 DEFINITION UND AUFGABE DER WFB
2.2 GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG
2.3 DIE WFB - 1950 BIS HEUTE
3. DIE BEDEUTUNG DER ARBEIT
3.1 ÖKONOMISCHE ASPEKTE
3.2 SOZIALPSYCHOLOGISCHE ASPEKTE
3.3 WAS BEDEUTET ARBEIT KONKRET FÜR DIE MITARBEITER MEINER GRUPPE?
3.4 FAZIT
4. THEORIE
4.1 EIN BLICK AUF DIE RECHTLICHE SITUATION
4.2 DIE PERSÖNLICHKEITSTHEORIE VON CARL ROGERS
4.2.1 Die Selbstaktualisierung
4.2.2 Das Selbstkonzept
4.2.3 Die Wirkung des Selbstkonzeptes
4.2.4 Empathie, Wertschätzung, und Kongruenz
4.2.5 Persönliche Stellungnahme
4.3 MOTIVATION
4.3.1 Die Motivationstheorie nach Abraham Maslow
4.3.2 Die Zweifaktorentheorie der Arbeitsmotivation von Frederick Herzberg
4.3.3 Vergleich und persönliche Stellungnahme zur Theorie von Maslow und Herzberg
4.3.4 Die Bedeutung der intrinsischen und extrinsischen Motivation
4.3.5 Handlungskompetenz
4.3.6 Schlussbemerkung
5. DIE PRAXIS
5.1 PROBLEME UND CHANCEN
5.2 KONKRETE FÖRDERMÖGLICHKEITEN AM BEISPIEL UNSERER WERKSTATT
5.2.1 Die Arbeitsplatzgestaltung
5.2.2 Die wertschätzende Haltung
5.2.3 Vom Fokus des Teilschrittes zur Gesamtübersicht
5.2.4 Selbst- und Mitbestimmung
5.2.5 Freiräume für Projekte nutzen
5.2.6 Zulassen und Fördern sozialer Interaktionen
5.2.7 Belohnungssystem
5.2.8 Förderplanung
5.2.9 Auftragswechsel
5.2.10 Persönliche Gespräche und Feedback
5.3 HEUTIGER STAND DER GRUPPE
6. SCHLUSSBETRACHTUNGEN
6.1 STELLUNGNAHME
6.2 PERSPEKTIVEN
6.3 PERSÖNLICHES RESÜMEE ZUR ENTSTEHUNG DIESER ARBEIT
6.4 DANK
7. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Die Frage nach der ausgewogenen Konzeption einer Werkstatt für Behinderte (WfB) scheint schwer beantwortbar zu sein. Viele Ansprüche ziehen in gegenteilige Richtungen. Soll eine WfB wirtschaftlich oder eher sozialpädagogisch orientiert sein? Welchen gesellschaftlichen Auftrag hat sie eigentlich zu erfüllen? Vielerlei Entwicklungen weisen derzeit ja darauf hin, dass sich manche Werkstatt für Behinderte immer mehr zu einer Kopie des nach Gewinn strebenden industriellen Grossbetriebes entwickelt. Erfüllt sie in dieser Hinsicht noch ihren Kernauftrag als Institution im Behindertenbereich? Ist die professionelle sozialpädagogische Förderung der darin arbeitenden Menschen noch ein bewusst angestrebtes Ziel?
Es ist ja allgemein bekannt, dass sich die Behinderteninstitutionen diesbezüglich in einem Dilemma befinden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) trägt hier sicherlich seinen Teil dazu bei. Einerseits fliessen Subventionen aufgrund gigantischer Schuldenberge immer spärlicher und verlangen so von den Institutionen indirekt einen beachtlichen Teil an finanziellem Selbsttragen, andererseits stellt die Forderung nach der Erbringung eines regelmässigen Qualitätsnachweises bezüglich der Förderung und Betreuung von Menschen mit einer Behinderung aber auch im pädagogischen Sinn einen enormen Anspruch des BSV dar. Denn nur wer auch in Zukunft den geforderten Qualitätsnachweis erbringen kann, läuft nicht Gefahr, Opfer einer Beschneidung wichtiger Subventionen zu werden.
Unsere Gesellschaft befindet sich wirtschafts- und sozialpolitisch in einem grossen Wandel, dessen Entwicklung auch vor dem Integrationssystem Behindertenwerkstatt nicht halt macht. Diese Entwicklung wirkt unmittelbar auf die Arbeitschancen und die Lebensqualität behinderter Menschen. Gleichwohl sollte sie aber nicht nur in ihrer Gefahr, sondern auch in ihrem Nutzen betrachtet werden. Gerade der Qualitätsnachweis kann Menschen mit Behinderung in vielerlei Hinsicht vor Missbräuchen schützen. Er verhindert, dass Sub- ventionen, welche unmissverständlich für pädagogische Zwecke bereitgestellt wurden, nicht in anderen Kanälen verschwinden. Begleitung und Förderung werden somit garantiert. Und auch die wirtschaftliche Ausrichtung soll nicht nur von ihrer Schattenseite betrachtet werden. Denn gerade in einer Zeit, in der die Diskussion nach beruflicher Integration behinderter Menschen neu entfacht wird, stellt sie auch eine grosse Chance dar: Menschen sollen nicht nur sinn-entleerte "Behindertenarbeit" verrichten, sondern mit ihren persönlichen Fähig- keiten und Ressourcen Leistungen erbringen können, welche in der Gesellschaft einen wichtigen und echten Nutzen darstellen. Sie sollen auch in der WfB realitätsnahe, manchmal auch "harte" Arbeitsbedingungen erfahren, welche sie bei einer möglichen beruflichen Reintegration in die freie Wirtschaft nicht vor fremde und somit überfordernde Situationen stellen.
Dies sind sicherlich anspruchsvolle Aspekte, und beide haben ihre Berechtigung. Aber wie soll eine WfB mit ihren begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen solche Ansprüche auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Die momentanen Entwicklungen weisen ja tatsächlich auf eine einseitige und starke wirtschaftliche Orientierung hin. Wie kann man pädagogische Überlegungen mit dem Streben nach mehr Rentabilität in Einklang bringen? Geht das überhaupt? Die Gefahr besteht durchaus, dass pädagogische Ansprüche im "Zweifelsfall" zurückgestellt, und die Anliegen behinderter Menschen negiert werden. Brauchen Menschen mit einer Behinderung - besonders jene, welche einen sogenannten Dauerarbeitsplatz belegen (also nicht direkt in einer re-integrativen beruflichen Massnahme stehen) - vielleicht gar keine so intensive Begleitung und Förderung? Sind sie gar zufrieden mit ihrer einfachen, oft monotonen Arbeit?
Mein sozialpädagogisches Handeln, das in der direkten Beziehung und Begegnung zu Menschen eingebettet ist, steht im Spannungsfeld dieser komplexen Struktur von System- bedingungen und- grenzen. Als angehender Sozialpädagoge ist es in diesem System meine Aufgabe, der Arbeits- und Lebensqualität von Menschen mit Behinderung besondere Auf- merksamkeit zu schenken. Es gehört zu meinen Aufgaben, durch praktische wie theore- tische Erfahrungen immer wieder Überzeugungsarbeit zu leisten, damit die Anliegen dieser Menschen nicht überhört werden. Mit der vorliegenden Arbeit versuche ich anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Sozialpädagogik und meinen Werkstatterfahrungen die Frage des Förderungsanspruches auszuleuchten. Ich zeige auf, mit welchen Mitteln es möglich ist, speziell Menschen am geschützten Arbeitsplatz (GAP) trotz Produktions- und Termindruck zu motivieren und zu fördern, um damit sowohl die sozialpädagogischen, als auch die unumgänglichen wirtschaftlichen Ansprüche im eng gesteckten Handlungsrahmen der leistungsorientierten Werkstatt abdecken zu können.
1.1 Meine Motivation zu diesem Thema
Seit sechs Jahren gehöre ich nun schon zum Team der Mechanischen Werkstatt. Vieles ist geschehen, und vieles hat sich verändert in all diesen Jahren. Kleinere und grössere Umstrukturierungen fanden statt, neue Kollegen beglückten unser Team, während andere sich von uns verabschiedeten. Stetige Veränderungen - ob in struktureller, administrativer, oder einrichtungstechnischer Hinsicht - forderten immer wieder ihren Tribut von meinem ach so gewohnten Alltag und verlangten kontinuierlich nach Flexibilität und Anpassungs- bereitschaft. Mehr und mehr wurde mir innerhalb all dieser Veränderungen mein grosser persönlicher Handlungsspielraum als Gruppenleiter, sowie das Vertrauen, das mir beim Planen und Entwickeln meiner Ziele vom Team und von der Leitung entgegengebracht wurde, bewusst. Genau diese Aspekte waren es und sind es noch immer, die mich in meiner alltäglichen Arbeit motivieren. Sie geben mir Selbstvertrauen und Spass bei der Arbeit. Meine Haltung der Arbeit gegenüber ist letztlich entscheidend für den Grad meiner Motivation. Nicht primär das Wissen und Können, das mir in all diesen Jahren vermittelt wurde, sondern der gewährte grosse Handlungs- und Entscheidungsspielraum ermöglichte mir die Identifikation mit meiner Arbeit. Und das motivierte mich. Das untenstehende Zitat, welches mich schon seit Jahren begleitet und das ich sehr mag, widerspiegelt in diesem Sinne das Erziehungsideal, das ich vertrete.
Blick auf die mir anvertrauten Mitarbeiter meiner Gruppe stellte ich mir bezüglich die- ses Erziehungsbildes dann auch immer wieder die Frage: Was motiviert denn diese Menschen? Sind sie in ihrem oftmals eintönigen Arbeits- alltag überhaupt motiviert?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Sollte in dieser Hinsicht Unzufriedenheit vorherrschen, haben diese Menschen dann überhaupt die Kompetenz, sich zu Wort zu melden? Gewähre ich ihnen als Gruppenleiter eigentlich ein Mitbestimmungsrecht?
Es ist mir ein Anliegen, dass besonders jene Menschen, welche im geschützten Rahmen in unserer Werkstatt arbeiten, durch Förderung von Motivation zu Handlungskompetenz und dadurch letztlich zu mehr Arbeits- und Lebensqualität finden können. Auf dieser Basis möchte ich herausfinden, welche Möglichkeiten und Formen der Förderung im Rahmen un- serer produktionsorientierten Werkstatt möglich sind. Durch einen theoretischen wie prakti- schen "Bedürfnisnachweis" nach Förderung will ich das Bewusstsein für sozialpädagogi- sches Denken und Handeln in unserer Werkstatt sensibilisieren. Denn ich finde es wichtig, dass ein ausgewogenes Mass an ökonomischem und sozialpädagogischem Denken zugun- sten der Betreuten das Handeln unserer WfB bestimmt und sich nicht Befürchtungen von Monotonie, reinem Zahlendenken oder gar Ausbeutung zu Lasten unserer Mitarbeiter bewahrheiten.
1.2 Fragestellung dieser Arbeit
Arbeitsintegration und Begleitung von Menschen mit einer Behinderung verstehe ich als einen wichtigen Teil der Sozialpädagogik und somit auch als einen Teil des Kernauftrages der geschützten Werkstätten. Wird Arbeitsfähigkeit im Sinne von Motivation und Handlungskompetenz als Teil der Voraussetzung für Lebensqualität angesehen, dann sollen diese Ansprüche der Sozialpädagogik in den Arbeitsalltag der Werkstätten eingebettet und umgesetzt werden. Dies wirft für mich folgende Frageschwerpunkte auf:
- Welche Bedeutung, welchen Sinn hat Arbeit für den Menschen mit einer Behinderung? $ Besteht ein Recht und ein Anspruch auf Förderung am geschützten Arbeitsplatz? $ Warum sollen Menschen mit einer Behinderung arbeiten?
- Welche Möglichkeiten zur Förderung von Motivation und Handlungskompetenz als Voraussetzung für Lebensqualität sind in unserer Werkstatt umsetzbar, was bedeutet das für meine sozialpädagogische Praxis?
1.3 Das Ziel dieser Arbeit
- Ich will den Nachweis des sozialpädagogischen Förderanspruchs von Menschen mit einer Behinderung erbringen. Dadurch soll eine Sensibilisierung des Bewusstseins die- ses Anspruchs sowohl seitens der direkten Bezugspersonen als auch der Entschei- dungsträger erreicht werden.
- Ich will Möglichkeiten und Grenzen der Förderung von Motivation und Handlungs- kompetenz1 im Rahmen unserer produktionsorientierten Werkstatt erkennen.
- Ich will durch das Aufzeigen gezielter Fördermöglichkeiten deren Umsetzung in den Arbeitsalltag anstreben; als Produkt dieser Umsetzung soll dann sowohl die Steigerung von Lebens- und Arbeitsqualität seitens der Betreuten als auch eine Entlastung seitens der Gruppenleiter durch flexible und mitdenkende Betreute verwirklicht werden.
- Ich freue mich darüber, wenn diese Arbeit anderen Gruppenleitern dabei helfen kann, durch die vorgestellten Methoden und Haltungen sowohl die Lebens- als auch die Arbeitsqualität der ihnen anvertrauten Mitarbeiter verbessern zu können.
Als Adressaten sehe ich in erster Linie mein Team und meine direkten Vorgesetzen, da ich mit dieser Arbeit praktische Anreize zu Veränderungen meines direkten Umfeldes anbieten möchte. Meine Überlegungen sollen aber auch anderen Gruppenleitern zur Verfügung stehen, welche bewusst nach Veränderungsmöglichkeiten suchen. In diesem Sinn soll es sich um eine praktisch anwendbare und einfach verständliche Arbeit handeln.
1.4 Angewendete Mittel und Methoden
Der Ablauf dieser Arbeit gestaltet sich folgendermassen: Nach der Vorstellung meines Berufs- und Arbeitsfeldes folgt eine Definition der Werkstatt für Behinderte, sowie ein geschichtlicher Abriss zur Entstehung dieses Integrationssystems. Dabei habe ich bewusst - dem Umfang dieser Arbeit gerecht werdend - auf detaillierte Angaben von Zahlen und konkreten nationalen Entwicklungen verzichtet.
Ein Schwerpunkt der Arbeit bildet die Bedürfnisabklärung nach Förderung von Motivation und Handlungskompetenz bei Menschen mit einer Behinderung. Diese Frage werde ich sowohl aus sozialpsychologischer, persönlichkeits- und motivationstheoretischer, als auch aus rechtlicher Sicht betrachten.
Möglichkeiten, in welcher Form sozialpädagogische Förderung von Motivation und Handlungskompetenz in der produktionsorientierten Werkstatt anzutreffen und umzusetzen ist, bilden dann den zweiten Schwerpunkt; den Transfer von der Theorie zur Praxis.
Form
Die Form der Arbeit basiert auf Fragestellungen, welche ich anhand theoretischer Modelle und meinen praktischen Erfahrungen überprüfen werde. Eine grössere Anzahl konkreter Praxisbeispiele und Beobachtungen werden ebenso einfliessen wie einzelne Aussagen sowohl meiner Mitarbeiter als auch der Institutionsleitung.
Einschränkungen
Bewusst habe ich finanzielle Aspekte in dieser Arbeit weitgehend vernachlässigt. Der oftmals unüberschaubare Dschungel aus Finanzierungsmodellen, BSV-Reglementen, Löhnen, Ergänzungsleistungen, Rentenberechnungen, Berechnungsschlüsseln usw. würde eine eigene Diplomarbeit in Anspruch nehmen. Um einen einigermassen verständlichen Überblick darüber zu erhalten, genügen mir einige Einschübe in die bestehende Arbeit nicht.
Verwendung von Namen / allgemeine Erklärungen
- Begriffe wie "Klienten, Betreute, Behinderte" oder "Geistigbehinderte" werden durch "Mitarbeiter" oder "Menschen mit einer Behinderung" ersetzt.
- Die "Werkstatt für Behinderte" wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit "WfB" genannt.
- Personal, welches eine führende oder betreuende Aufgabe hat, wird als "Betreuer, Leiter, Gruppenleiter oder Teammitglied" bezeichnet.
- Alle in dieser Arbeit vorkommenden Namen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschut- zes geändert worden. Ich habe Namen gewählt, die nicht in unserer Werkstatt vorkom- men, um eventuellen Missverständnissen anderer Mitarbeiter vorzubeugen. Knappe Be- zeichnungen wie "M." oder "Z." erscheinen mir zu unpersönlich und für den Lesefluss nicht geeignet.
- Ich wählte die männliche Schreibweise, selbstverständlich sind damit aber immer beide Geschlechter angesprochen.
- Fotos und Aussagen wurden ausschliesslich im Einverständnis der betreffenden Personen in die Arbeit aufgenommen.
1.5 Vorstellung von Institution und eigenem Arbeitsplatz
Das Werkstätten- und Wohnzentrum Basel (WWB) ist eine Institution des Bürgerspitals Basel. Erklärtes Ziel des WWB ist, die Lebensqualität von beinahe 500 Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder psychischer Behinderung durch ein differenziertes Angebot an Ausbildungs-, Betreuungs-, Arbeits- und Wohnmöglichkeiten und durch Massnahmen zur Eingliederung in die Gesellschaft zu fördern. Das WWB gliedert sich wie folgt in vier Abteilungen:
a) Wohnheim
b) Berufliche Abklärungsstelle (BEFAS)
c) Eingliederungsstätte (ES)
d) Werkstätten wie z.B. Mechanische Werkstatt, Schreinerei, Gärtnerei, Orthopädie, Textilwerkstatt, Grafische Betriebe, Mikrofilmdienst, Kreativwerkstatt.
Die Mechanische Werkstatt ist das Arbeitsfeld, in welchem ich tätig bin. Dem ahnungslosen Besucher erscheint dieser Ort der Späne auf den ersten Blick wie ein urtypischer, den Gesetzen der freien Wirtschaft gehorchender Industriebetrieb. Gestützt durch einen sehr modernen und vielseitigen Maschinenpark (wie beispielsweise einer grossen Anzahl computergesteuerter Bearbeitungsmaschinen) produziert dieser Betrieb anspruchsvolle Einzelkomponenten oder Serienaufträge für die Industrie der umliegenden Regionen und des nahen Auslandes. In dieser Werkstatt finden - und dies erkennt unser Besucher nach einem Gespräch nun auf den zweiten Blick - Anlehren, BBT2 -anerkannte Vollehren, Arbeitstrainings, Umschulungen und Angebote des geschützten Arbeitsplatzes statt - meist im Auftrag der Invalidenversicherung (IV). Ein grosser Teil unserer Mitarbeiter besteht aus Menschen mit körperlicher und/oder psychischer Behinderung, welche durch ihre früher ausgeübten Berufe, durch Unfall oder Krankheit in ihren psychischen und physischen Fähigkeiten behindert wurden. Das Ziel dieser Mitarbeiter besteht primär in der Rehabilitation bzw. in der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt gemäss der Praxis der Invalidenversicherung: "Eingliederung vor Rente". Ferner stehen für Menschen, welche aufgrund ihrer stärkeren Beeinträchtigung nicht bzw. momentan nicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind, etwa 15 sogenannte "geschützte Arbeitsplätze" unbefristete Arbeitsplätze zur Verfügung.
Mein Arbeitsfeld
Meine Aufgabe besteht in der selbständigen Führung und Betreuung einer sechsköpfigen Montagegruppe, deren Mitarbeiter (geistige, körperliche und psychische Behinderungen) alle im Rahmen eines GAP angestellt sind. Gemeinsam produzieren wir hier für ein weltweit tätiges Unter- nehmen anspruchsvolle elektromechanische Klein- apparate in immerwiederkehrenden Kleinserien. Neben den sozialpädagogischen Aufgaben wie dem Führen und Fördern umfasst mein Arbeitsgebiet auch die Gestaltung des Arbeitsplatzes z.B. in ergo- nomischer, sicherheitstechnischer und produktionsbezogener Hinsicht.
(GAP), also zeitlich
Die Konzeption, die Entwicklung und der Bau von behinderten- und produktionsgerechten Montagewerkzeugen gehört ebenso zu meinem Verantwortungsbereich wie die Erstellung und Aktualisierung von Montageanleitungen. Der administrative Anteil meiner Arbeit ist hoch: er umfasst die komplette Bewirt- schaftung (Anfrage, Einkauf und Lager) der für die Apparate benötigten fast 200 Einzelkomponenten. Und auch sämtliche Kontakte zu unseren Lieferanten und Kunden gehören dazu.
Auch das Festhalten von Beobachtungen, Mitarbeiter- gespräche, Absenzlisten, Berichte für den Sozialdienst, Entwicklungen und Aktualisierungen von Formularen für die Qualitätssicherung sowie die auf Ende 2001 geplante Einführung der Entwicklungs- und Förderplanung sind Auf- gaben, die dazu beitragen, dass lange Sitzungen vor dem PC immer mehr zu meinem Alltagsprogramm hinzugerechnet werden müssen.
Aber trotz der oftmals kräfte- zehrenden Doppelbelastung von Betreuung und Produkti- on arbeite ich sehr gerne in dieser Werkstatt. Pädago- gisches Handwerk mit meinen "mechanischen Wurzeln" zu verbinden empfinde ich als äusserst attraktive und herausfordernde Kombination. Beziehungs- u. Entwicklungsarbeit mit einem Wirtschaftsauftrag in Einklang zu bringen motiviert mich täglich neu.
2. Die Werkstatt für Behinderte - Definition und Geschichte
2.1 Definition und Aufgabe der WfB
In meinem Gespräch vom 13. Dezember 2000 mit dem Stv. Leiter Werkstätten des WWB äusserte sich dieser auf meine Frage nach der Aufgabe unserer Mechanischen Werkstatt folgendermassen:
"Das Ziel der Mechanischen Werkstatt des WWB ist generell die Wiederintegration von Menschen mit einer Behinderung in den offenen Arbeitsmarkt. Aber es geht uns nicht darum, alle Personen um jeden Preis zu re-integrieren. Es ist durchaus möglich, dass bestimmte Menschen durch die Umstände ihrer Behinderung bzw. durch ihr Bedürfnis nach einer schützenden Struktur einen Dauerarbeitsplatz einnehmen, den sie unter Umständen bis zum Erreichen ihres Rentenalters beibehalten."
Im Entwurf des neuen Betriebs- u. Betreuungskonzeptes 2001 heisst es u.a. auch:
"...Das Ziel besteht darin, den Mitarbeitern eine optimale Förderung, Begleitung und Anleitung zu gewähren und so für jedes Individuum die grösstmögliche Selbständigkeit zu erlangen und zu erhalten. Dieses soziale Anliegen wollen wir unter Einbezug wirtschaftlicher Verantwortung verwirklichen." (Entwurf Betriebs- u. Betreuungskonzept WWB, 12.2000)
Es bestehen also klar ersichtliche Schwerpunkte in unserer WfB: Die Wiederintegration, der Dauerarbeitsplatz sowie die wirtschaftliche Ausrichtung. Die Aufgabe der WfB sehe ich darin, Lernsituationen für die nötigen Kompetenzen und Qualifikationen zu schaffen, um eine Trennung von beruflicher Bildung und Persönlichkeitsentwicklung zu verhindern. Lernsituationen sollen nach Möglichkeit realen Situationen in der freien Wirtschaft entsprechen: eine Forderung, welche vom zweiten Schwerpunkt, nämlich der heute starken wirtschaftlichen Orientierung der WfB mit all ihren negativen Folgen (Zeitdruck, hohe Qualitätsansprüche, wirtschaftliche Abhängigkeit, straffe Strukturen) paradoxerweise geradezu mustergültig erfüllt wird. Mit diesem zentralen Aspekt der Persönlichkeits- entwicklung in beruflichen Bezügen wird die Werkstatt für Behinderte der Ort der beruflichen Rehabilitation und der Integration für Menschen mit Behinderungen.
Peter Bernhart schreibt dazu in seinem Buch: "Die Hauptaufgabe der Erziehung geistigbehinderter Erwachsener ist es, Hilfe zu leisten auf dem Weg zu wachsender Mündigkeit im Spannungsfeld zwischen Eigenwelt und Umwelt. Speziell in der Werkstatt wäre das Hilfe zur menschlichen Selbstverwirklichung durch sinnvolle Arbeit." (Bernhart 1977, S. 22).
Persönliche Stellungnahme
Wenn Selbstverwirklichung durch sinnvolles Tätigsein im beruflichen Leben als Leitidee des gesetzlich weitgehend abgesicherten Anspruchs (vgl. auch Kapitel 4.1) auf berufliche Rehabilitation und Integration in der Praxis zum Tragen kommen soll, dann sind Konzepte zu entwickeln, die folgende, meiner Meinung nach sehr wichtige Aspekte abdecken müssen:
- Ein offengelegtes und ausformuliertes Menschenbild als Grundlage des Handelns $ Orientierung sowohl an beruflicher als auch sozialer Rehabilitation und Integration $ Klare Vorstellungen zur Qualifikation der Fachkräfte für die Arbeits-, Berufs-, und
Persönlichkeitsförderung
- Auf die Bedürfnisse u. Fähigkeiten der Mitarbeiter abgestimmte Lehr- u. Lernmaterialien
Im nächsten Kapitel möchte ich nun das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Leser in einem kurzen Überblick in die Zeit vor etwa 200 Jahren zurückführen; wie lebten damals die Menschen mit einer Behinderung, wie veränderte sich die Haltung der Gesellschaft diesen Menschen gegenüber und wie entstand und entwickelte sich das Integrationssystem WfB?
2.2 Geschichtliche Entwicklung
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es für Menschen mit einer Behinderung (damals Schwachsinnige, Taubstumme oder Krüppel genannt) kaum Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wurden diese Menschen aufgrund des damals vorherrschenden Menschenbildes nicht schon bald als "seelenlose oder besessene Kreaturen" versteckt oder gar umgebracht, dann fristeten sie - verstossen von Angehörigen und Gesellschaft - hinter den verschlossenen Türen der damals aufkommenden Zucht- und Tollhäuser ein unwürdiges Dasein. Litten sie an besonders auffälligen Behinderungen, dann wurden sie von Fahrenden und Schaustellern manchmal sogar dazu benutzt, auf Jahrmärkten für grosses Staunen und Entsetzen zu sorgen. Nicht selten wurden diese Menschen aber auch von ihren eigenen Angehörigen für wenig Geld verkauft und von speziellen Händlern als billige Arbeitskräfte in ferne Länder verschifft. Ein bisschen mehr Glück bedeutete es da für jene, welche die Möglichkeit hatten, zum Beispiel auf dem elterlichen Bauernhof eine Tätigkeit zu finden, die ihren Fähigkeiten entsprach. Ausserhalb dieser Welt gab es für "Schwachsinnige und Krüppel" aber kaum nennenswerte und sinnvolle Beschäftigungen. Und das Leben in den "Schwachsinnigenanstalten" war zur damaligen Zeit vorwiegend auf Verwahrung, Pflege und - aus heutiger Sicht - folterähnliche Therapien ausgerichtet.
Erst im Jahre 1920 änderte sich diese Situation entscheidend: In Holland gründete ein engagierter Sonderschuldirektor eine Art Vorläufer der heutigen "geschützten Werkstatt". In dieser beschäftigte er Schulabgänger, welche aufgrund der Schwere ihrer Behinderung keine Chance hatten, jemals einen Arbeitsplatz zu finden. Das Bewusstsein der Bildungsfähigkeit von Menschen mit einer geistigen Behinderung entwickelte sich. Kaum zwei Jahre später entstanden dann in Deutschland weitere Werkstätten dieser Art. 1927 wurde in Düsseldorf die erste geschützte Werkstatt in Form einer GmbH gegründet; diese Form unterstützte die wirtschaftliche Ausrichtung des Unternehmens. Jugendlichen wurde hier Erziehung sowie die Möglichkeit zum eigenen Broterwerb geboten. Arbeitsleistung wurde von nun an nicht mehr nur als Produktionsfaktor, sondern auch als Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Diese Sichtweise verbreitete sich schnell in weiten Teilen Europas. Doch während sich z.B. in Skandinavien und ganz besonders in Holland das neue Denken rasant weiterentwickeln konnte, bereiteten die Nationalsozialisten in Deutschland allen sonderpädagogischen Initiativen ein jähes Ende (vgl. Krispin 1997, S. 93).
2.3 Die WfB - 1950 bis heute
Schon bald nach dem Ende des 2. Weltkrieges erkannten insbesondere Kirchen und private Wohlfahrtsorganisationen die Dringlichkeit der Beschäftigung und Förderung von Menschen mit eingeschränktem Leistungsvermögen. Ich nehme an, dass dies auch mit der grossen Zahl kriegsinvalider Menschen im Zusammenhang stand. Aber auch die wirtschaftliche Situation, d.h. der starke Ruf nach Arbeitskräften in den 50er Jahren sowie die Überzeugung, dass Menschen mit einer Behinderung durch Arbeit sehr wohl zum Abbau sozialer Lasten beitragen können, liessen die Werkstätten für Behinderte - damals fast ausschliesslich für Menschen mit geistiger Behinderung geplant - entstehen. Öffentliche Gelder flossen zu jener Zeit aber kaum. Die Institutionen waren in grossem Masse von Spendengeldern, Bazaren und Bettelaktionen abhängig.
Bereits Ende der 60er Jahre wurde es dann fast als selbstverständlich angesehen, dass in den Werkstätten neben den Menschen mit einer geistigen Behinderung auch Unfallgeschä- digte sowie Menschen mit Lern-, psychischer oder körperlicher Behinderung eine Beschäftigung fanden. In diesen Jahren kristallisierte sich das pädagogische Denken weiter aus; losgelöst vom Gedanken der reinen Beschäftigung wurden nun verstärkt drei Grund- sätze in die Handlungsphilosophie der WfB`s mit einbezogen (vgl. Krispin 1997, S. 95):
1. Die WfB als pädagogische Massnahme:
Die Arbeit ist begleitet von andauernder Betreuung und Förderung der Persönlichkeit.
2. Die WfB als soziale Massnahme:
Durch die Arbeit in der WfB soll eine Einbindung in die Gesellschaft erfahren werden, die der anders strukturierten Persönlichkeit durch den geschützten Raum Rechnung trägt.
3. Die WfB als psychologische Massnahme:
Durch Zuwendung, Bestätigung, Erfolg und Erfüllung sollen Bedürfnisse erfahren werden, um die Bereiche, welche Probleme bereiten, in ihrer Auswirkung zu mildern.
Da es in diesen "Pionierjahren" aber noch wenig staatliche Richtlinien in Bezug auf Form und Art der WfB`s gab und die Trägervereine dieser Betriebe meist nur sich selbst verant- wortlich waren, entwickelten sich durch die oben erwähnten Grundsätze eine grosse Vielfalt von Werkstattformen, welche immer noch deutlich zu erkennen sind; die Palette reicht auch heute von der rein sozialpädagogisch orientierten Werkstatt, in welcher Spiel und Beschäftigung einen hohen Stellenwert haben, über die Anlehr- und beschützende Werk- statt bis hin zur "Kopie" des industriellen Grossbetriebes; die Werkstatt der "harten Produktion".
Mitte der 60er Jahre wurden die WfB`s dann allmählich den Heimen und Anstalten gleichge- stellt. Dadurch wurde die Finanzierung und Existenz eines immer grösser werdenden Personenkreises gesichert. Aber in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten belasteten die hochtechnisierten Werkstattformen durch ihre moderne und teure Infrastruktur mehr und mehr die Institutionen und Leistungsträger. Schnell einmal wurde den Sozialversicherungen klar: durch Wiedereingliederung der WfB-Mitarbeiter in den allgemeinen Arbeitsmarkt könnten die hohen Ausgaben gedrosselt werden. "Eingliederung vor Rente" wurde zum Zauberwort: bevor die Versicherungen womöglich jahrzehntelang hohe Rentenleistungen erbringen müssen, sollen gezielte Rehabilitationsmassnahmen dem Betroffenen den Weg in die offene Arbeitswelt wieder ermöglichen. So entstand der Begriff der "Wieder- eingliederungs-" oder "Rehabilitationwerkstätten".
Abklärungen, Arbeitstraining, Anlehren, Vollehren oder Umschulungsangebote im Auftrag der IV bilden heute in vielen WfB`s die Hauptaufgabe und auch die finanzielle Hauptein- nahmequelle, während die sogenannten geschützten Arbeitsplätze, also Menschen, die auf- grund der Schwere ihrer Behinderung als nicht mehr vermittelbar gelten, vielerorts aus be- triebswirtschaftlichen Gründen verdrängt werden. Die Kostenträger fordern heute von den WfB`s eindeutig einen Trend in Richtung Qualität und somit fast zwangsläufig auch mehr Rentabilität; dies unter Beibehaltung der sozialpädagogischen Orientierung. Eine schwierige Aufgabe in Anbetracht begrenzter finanzieller Mittel. Ich glaube, zu Recht sehen daher viele Pädagogen und Entscheidungsträger eine Gefährdung der sozialpädagogischen Zielset- zung gerade gegenüber den geistig- und psychisch behinderten Menschen, welche aus wirtschaftlicher Sicht keine oder nur im geringen Umfang verwertbare Arbeit leisten können.
Die Frage, welche Form der WfB denn nun die richtige ist, ist schwierig zu beantworten und führt immer wieder zu hitzigen Diskussionen. Viele Bedürfnisse müssen aus wirtschaftlicher, pädagogischer und sozialpolitischer Sicht befriedigt werden, und ich denke, einseitige Pau- schalantworten sind wenig hilfreich. Ich bin der Meinung, dass eine vielfältige Palette von Angeboten eine gute Lösung ist, die Förderung und Entwicklung der darin Beschäftigten jedoch immer oberste Priorität haben muss. Sonst erfüllt eine soziale Institution ihren Kernauftrag nicht und verliert aus meiner Sicht ihre existenzielle Berechtigung.
3. Die Bedeutung der Arbeit
Um die Frage nach der Berechtigung von Förderung am Arbeitsplatz beantworten zu können, erachte ich es als wichtig, im Vorfeld der nachfolgenden Kapitel zunächst einmal den Grundsätzen der Bedeutung von Arbeit nachzugehen. Ein Grund zur Entstehung dieser Frage ist freilich auch die oft gehörte Äusserung, dass alleine der finanzielle Anreiz den Menschen dazu motiviert, einer Arbeit nachzugehen. Arbeitet der Mensch also nur des Geldes wegen? Arbeitet er nur, um seine materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können?
Könnte man diese Behauptung bejahen, dann müsste man sich doch ernsthaft die Frage stellen, warum Menschen mit einer Behinderung überhaupt einer Arbeit nachgehen sollen. Nur sehr wenigen von ihnen ist es doch möglich, mit ihrem oftmals taschengeldähnlichen, im geschützten Rahmen erwirtschafteten Lohn überleben zu können. Sozialversicherungen und Ämter für Zusatzleistungen bestreiten ja einen Grossteil der benötigten Mittel. Kommt hinzu, dass diese Institutionen von keinem Menschen mit einer 100%-igen Rente eine berufliche Tätigkeit fordern. Warum also ist man trotzdem davon überzeugt, dass gerade auch diese Menschen arbeiten sollen?
Ich glaube, dass dem Faktor Arbeit Werte zugrunde liegen, welche die rein wirtschaftlichen Beweggründe weit überragen. Es erscheint mir darum wichtig, in den folgenden Ausführungen die Bedeutung der Arbeit in ihrem psychosozialen Nutzen hervorzuheben. In Anlehnung an die Folgekapitel versuche ich damit auch, den Anspruch auf Arbeit und Förderung zu verdeutlichen. Was also bedeutet nun der Faktor Arbeit? Was bedeutet er für den Menschen mit einer Behinderung?
3.1 Ökonomische Aspekte
Auf diese Thematik gehe ich hier nur kurz ein, da ich als Gruppenleiter nur sehr begrenzt Einflussmöglichkeit auf diesen Faktor habe. Trotzdem bin ich mir darüber im klaren, dass Unlust und Unzufriedenheit meiner Mitarbeiter auch mit finanziellen Überlegungen zu tun haben können. Will ich das Handeln eines Menschen verstehen und professionell darauf reagieren, dann soll mein Ziel ein ganzheitliches Verstehen sowohl des Menschen als auch seines Umfeldes sein. Dazu gehören eben auch die ökonomischen Aspekte.
Meine Erfahrungen in der Werkstatt zeigen, dass für viele Mitarbeiter der verdiente Lohn einen hohen Stellenwert hat. Gerade auch Mitarbeiter mit einer geistigen Behinderung haben die konsumorientierten Wertvorstellungen der Gesellschaft übernommen und sind sich darüber bewusst, dass ihnen der verdiente Lohn diesbezüglich einen gewissen Freiraum ermöglicht. Obwohl die Entlöhnung in einer WfB generell äusserst gering ist (in meiner Gruppe betragen die Stundenlöhne zwischen Fr. 4.20 und Fr. 6.50) scheint doch gerade dieser verdiente Stundenlohn eine besondere Bedeutung zu haben. Wie wir im Kapitel 3.3 in den von meinen Mitarbeitern gemachten Aussagen erkennen können, sehen die Menschen im verdienten Lohn besonders die Anerkennung ihrer eigenen Leistung.
Aber wie bereits erwähnt: Kaum jemand könnte alleine damit seinen Lebensunterhalt bestreiten. Das Einkommenstotal setzt sich letztlich ja aus Renten, Ergänzungs- und diversen Zusatzleistungen zusammen. Fatal an diesem System: Steigt der Stundenlohn, dann werden Zusatzleistungen neu berechnet und nach unten angepasst. "Unter dem Strich" bleibt also - für die Meisten frustrierend - alles beinahe beim Alten. Der Mitarbeiter hat somit über seine persönliche Leistung kaum eine Chance, real mehr Lohn zu erhalten. Als Motivationsfaktor kann Geld in einer WfB daher nur sehr begrenzt eingesetzt werden.
Meine Stellungnahme
Das System der heutigen Entlöhnung empfinde ich persönlich als bedauerlich. Denn obwohl die Bemühungen einer modernen WfB gerade in der Schaffung realitätsnaher Arbeitsbedingungen liegen, schleppt sich das Lohnsystem im Sozialwesen in dieser Beziehung bedenklich nach. Wo in der privaten Wirtschaft um jeden Rappen gefeilscht wird und erfolgreiches Ringen sich später bar in der Lohntüte auswirkt, ist dies in geschützten Werkstätten nur als Scheinhandlung möglich. Schmerzlich empfinde ich dabei auch, dass durch die geringe Bezahlung die Menschen mit einer Behinderung unnachsichtig an ihre Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit erinnert werden. Geradezu unmissverständlich werden sie durch dieses System dazu angehalten, illusionäre Hoffnungen auf eine allzu selbständige Lebensführung aufzugeben.
In der heutigen Situation allgemeiner sozialpolitischer Umbrüche und finanzieller Engpässe der Leistungsträger bin ich Realist genug, um zu sehen, dass dieses System so schnell nicht zu ändern ist. Wohl gäbe es aus meiner Sicht kleine machbare Schritte wie z.B. Stundenlöhne nicht voll in die Berechnungen der Renten und Zusatzleistungen mit einzubeziehen. So wären Lohnerhöhungen in der Tat "unter dem Strich" spürbar und blieben nicht bloss eine psychologische Augenwischerei. Doch wie bereits erwähnt: In dieser Hinsicht sind mir als angehender Sozialpädagoge die Hände gebunden, und ich muss andere Mittel zur Motivation meiner Mitarbeiter in meine Handlungsplanungen einbeziehen.
3.2 Sozialpsychologische Aspekte
Unbestritten ist die Tatsache, dass Arbeit in unserer Kultur einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Wer keine berufliche Beschäftigung hat, der fühlt sich schnell einmal nutz- und wertlos, auch wenn seine Existenz in finanzieller Hinsicht vielleicht gar nicht bedroht ist. Mit dem folgenden Zitat können wir vielleicht erahnen, welche sozialen Elemente bei einem Verlust des Arbeitsplatzes betroffen sein könnten:
"Die Erwerbsarbeit ist zum einen das Mittel, durch das die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen; zum anderen zwingt sie bestimmte Kategorien der Erfahrung auf. Sie gibt dem Tag die Zeitstruktur, sie erweitert die sozialen Beziehungen über Familie und Nachbarschaft hinaus und bindet die Menschen in Ziele und Leistungen der Gemeinschaft ein...sie weist einen sozialen Status und klärt die persönliche Identität" (agogis "Arbeitspsychologische Überlegungen zur Bedeutung von Arbeit", Berset 1999, S. 2)
Neben den ökonomischen Aspekten ist die soziale Grösse des Faktors Arbeit also von zentraler Bedeutung. Gerade in meiner Zusammenarbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung beobachte ich das immer wieder. Stolz wird da nach einem Arbeitstag beim Arbeitskollegen mit der eigenen Produktionsleistung geprahlt. Besuchern wird gerne erklärt, welche Länder dieser Welt mit unseren Produkten beliefert werden, welche Funktionen die Geräte aufweisen oder welche Qualitätsanforderungen bei der Montage erfüllt werden müssen. In diesem Zusammenhang interessant: Durch all die Jahre meiner Werkstattätigkeit beobachtete ich immer wieder, wie mit steigender Selbständigkeit und verbesserten beruflichen Fähigkeiten auch die Identifikation der Mitarbeiter mit den hergestellten Produkten wuchs.
Auch Zeitstrukturen scheinen im Werkstattalltag sehr bedeutend zu sein. Oft beobachte ich rege Diskussionen und intensive Beschäftigungen mit den Faktoren Arbeitszeitbeginn und- ende, Ferien, ritualisierte Anlässe wie Bundesfeier, Santichlaus, Weihnachten, Ostern, Geburtstage von Mitarbeitern oder regelmässigen Werkstattausflügen. Tage werden gezählt, bis diese Ereignisse eintreffen, Tage werden gezählt, wie weit diese Ereignisse nun schon wieder zurückliegen. Gerade auch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung beobachte ich Rat- und Orientierungslosigkeit, wenn solche Fixpunkte des Alltages Veränderungen oder Abschaffung erfahren müssen. Zeitliche Rahmenbedingungen geben gerade diesen Menschen mehr noch als dem Nichtbehinderten Sicherheit und Struktur und helfen ihnen, sich im Begriff des Arbeitsjahres zu orientieren und zurechtfinden zu können.
Nicht zuletzt stelle ich auch fest, wie wichtig es für den Einzelnen ist, seinen Anteil im Gruppenprozess wahrzunehmen oder auch die sozialen Kontakte in Form von Pausenaktivitäten oder gar Wochenend- oder Ferienplanungen mit Arbeitskollegen auszuarbeiten.
Meine Stellungnahme
Auch Menschen mit einer Behinderung leben nicht in einer Welt, die von den Wertvorstellungen und Normen der Gesellschaft abgeschirmt ist. Auch sie haben ein Verständnis davon, was sie mit ihrem Gang zur Arbeit erreichen wollen. Selbstbestätigung, Erfolgserlebnisse, Strukturen und soziale Kontakte sind zentrale Erfahrungen, welche sehr bedeutend sind und darum auch angestrebt werden. Die Fachliteratur bestätigt diese Darstellungen. Nach SEMMER & UDRIS 1993 (aus: Ulich E. 1998, S. 438) sind fünf psycho- soziale Funktionen der Erwerbstätigkeit wissenschaftlich nachgewiesen und decken sich mit meinen alltäglichen Beobachtungen:
- Aktivität und Kompetenz: Die Aktivität, die mit Arbeit verbunden ist, ist eine wichtige Vorbedingung für die Entwicklung von Qualifikationen. In der Bewältigung von Arbeitsaufgaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, zugleich aber auch das Wissen um diese Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl der Handlungskompetenz.
- Zeitstrukturierung: Die Arbeit strukturiert unseren Tages-, Wochen- und Jahresablauf, ja die gesamte Lebensplanung. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele zeitbezogene Begriffe wie Freizeit, Urlaub, Rente nur in ihrem Bezug zur Arbeit definierbar sind.
- Kooperation und Kontakt: Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden. Das bildet eine wichtige Grundlage für die Entwicklung kooperativer Fähigkeiten und schafft ein wesentliches soziales Kontaktfeld.
- Soziale Anerkennung: Durch die eigene Leistung sowie durch die Kooperation mit anderen erfahren wir soziale Anerkennung, die uns das Gefühl gibt, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
- Persönliche Identität: Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgabe sowie die Erfahrung, die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Beherrschung der Arbeit zu besitzen, bil- den eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität und Selbstwertgefühl.
Einer Erwerbstätigkeit nachzugehen stellt für die meisten Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit dar, am sozialen Leben teilzunehmen, die eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und schliesslich auch eine begrenzte ökonomische Selbständigkeit zu erlangen. Wie Nichtbehinderte erheben auch Menschen mit einer Behinderung den Anspruch, sich durch die Berufsarbeit verwirklichen zu können um dadurch Befriedigung zu erhalten. Diese Berufstätigkeit dient als Instrument, um die Anerkennung als ein vollständiges Mitglied der Gesellschaft zu erringen. Der ökonomische Faktor scheint also tatsächlich nicht eine übergeordnete Rolle zu spielen; von noch grösserer Bedeutung scheint es zu sein, den Status einer vollwertigen Person innezuhaben. Diese Position kann meiner Ansicht nach erst durch einen Leistungsbeweis errungen werden. In diesem Sinn ist es meine Aufgabe, als angehender Sozialpädagoge in einer WfB die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Selbstverwirklichung und die Bestätigung der sozialen Rolle durch Arbeit ermöglicht wird. Meine persönliche Haltung und meine Rückmeldungen gegenüber den Mitarbeitern ist entscheidend für Erfolg bzw. Misserfolg dieser Bestrebungen. Ich muss mir immer wieder darüber bewusst werden, welche Macht ich diesbezüglich ausüben kann. Dieses Bewusstsein entscheidet schliesslich auch über die Wahl meiner eingesetzten Mittel und Methoden.
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1 Begriffserklärung siehe Kapitel 4.3.5
2 Bundesamt für Berufsbildung und Technologie
- Arbeit zitieren
- Bertram Meisinger (Autor:in), 2001, Möglichkeiten der Motivationsförderung bei Menschen mit Behinderung in der produktionsorientierten, geschützten Werkstatt, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/43356