Somalia gilt seit langem nicht nur im regionalen Kontext, sondern weltweit als Prototyp des „failed state“ . Die Wirren und Umbrüche zunächst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dann noch einmal um die Jahrtausendwende haben einen Rückfall in traditionelle Gesellschaftsstrukturen hervorgebracht, welche nach allgemeinen, zumindest aber nach westlichen Maßstäben in vielerlei Hinsicht nicht denen eines geordneten Staates entsprechen. Gleichzeitig üben quasistaatliche Akteure in unterschiedlicher Intensität (Staats-)Gewalt aus. Sämtliche Aspekte des Lebens – der soziale Bereich, aber auch der bloße Lebenserhalt – werden von verschiedensten Faktoren mit schwankender Verlässlichkeit bestimmt und reguliert. Eine Staatlichkeit, welche im Sinne eines Gewaltmonopols körperliche Sicherheit, individuelle Rechte und Mechanismen zu ihrer Durchsetzung bietet existiert – wenn überhaupt – nur lokal, jedenfalls aber nicht flächendeckend. Stattdessen konkurrieren verschiedenste Gruppen im Rahmen verschiedener Systeme darum, alleinbestimmend oder als Faktor in einem pluralistischen System regulierend zu wirken. Der Versuch der Etablierung einer auf einer Verfassung basierenden Staatsgewalt über das gesamte (völkerrechtliche) Staatsgebiet Somalias wird sowohl aus Teilen der Bevölkerung selbst als auch maßgeblich von externen Akteuren betrieben, gleichzeitig spielt auf lokaler Ebene noch immer das überkommene, seit Jahrhunderten gelebte Gewohnheitsrecht eine ausschlaggebende Rolle in der Regelung der Beziehungen zwischen einzelnen Individuen und zwischen den sozialen Gruppen. Auch das ebenfalls seit langer Zeit einflussreiche islamische Recht gewinnt vor allem seit der Jahrtausendwende wieder erheblich an gesellschaftlicher Relevanz, nachdem es zwischenzeitlich während der Diktatur Siad Barres einen Bedeutungsverlust erlitten hatte. Schließlich stellen auch Initiativen aus der Zivilgesellschaft und Bestrebungen auf der Ebene der internationalen Staatengemeinschaft Faktoren in der Ausgestaltung des somalischen Rechtssystems dar, welche einen lebhaften Rechtspluralismus begünstigen. Vor dem Hintergrund dieses pluralistischen Feldes unternimmt die vorliegende Arbeit den Versuch, die unterschiedlichen Rechtsquellen und Durchsetzungsmechanismen zu skizzieren und die hierbei bestehenden Interdependenzen darzustellen. Hierzu wird zunächst in einem einleitenden Teil die Frage nach dem Inhalt und der Bedeutung von „Rechtspluralismus“ umrissen.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Was ist Rechtspluralismus?
- Rechtspluralismus in Afrika
- Historischer Kontext und traditionelles Recht
- Kolonialisierung und Dekolonialisiserung
- Einfluss von Religion
- Islam
- Christentum
- Afrika: Pluralismus versus Konstitutionalismus?
- Rechtspluralismus und Paralleljustiz in Somalia
- Somalia im Überblick
- Historische Hintergründe
- Die Somali vor und während der Kolonialisierung
- Frühe Unabhängigkeit und Diktatur
- Umsturz und Chaos
- Ursprüngliche Quellen des Rechts und historische Einflüsse auf das Rechtssystem
- Traditionelles Recht
- Islamisches Recht
- Einflüsse während der Kolonialzeit
- Britisches Recht - Common Law
- Italienisches Recht
- Die verschiedenen Perioden seit der Unabhängigkeit
- Die Republik
- Die Diktatur
- Der Sturz
- Somalia heute - ein Potpourri paralleler (Rechts-)Systeme
- Staatliches Recht
- Verfassungsrechtlicher Rahmen der Bundesrepublik Somalia
- Institutionelle Strukturen auf Bundesebene
- (Republik) Somaliland
- Puntland
- Traditionelles Recht
- Islamisches Recht
- Private Initiativen und Milizen
- Internationale Einflüsse
- Staatliches Recht
- Interdependenzen der Systeme in Somalia: „Failed state\" oder ein Beispiel für funktionierenden Rechtspluralismus?
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die komplexe Rechtslandschaft Somalias und analysiert, inwieweit sich der Rechtspluralismus in diesem Kontext als ein funktionierendes System erweisen kann. Die Arbeit beleuchtet den historischen Kontext und die unterschiedlichen Einflüsse auf das Rechtssystem Somalias, von traditionellen Rechtsquellen über islamisches Recht bis hin zu Kolonialisierung und modernen staatlichen Strukturen.
- Entwicklung und Charakteristika des Rechtspluralismus in Somalia
- Die Rolle des traditionellen Rechts und des islamischen Rechts im somalischen Rechtssystem
- Der Einfluss der Kolonialisierung und der modernen Staatlichkeit auf den Rechtspluralismus
- Die Herausforderungen und Chancen des Rechtspluralismus in einem Kontext von Instabilität und Gewalt
- Die Frage, ob Somalia als ein „Failed state\" oder als ein Beispiel für funktionierenden Rechtspluralismus betrachtet werden kann.
Zusammenfassung der Kapitel
- Vorwort: Die Arbeit führt in das Thema Rechtspluralismus und Paralleljustiz in Somalia ein und skizziert die Problematik des Landes im Kontext von Krieg, Instabilität und fehlender Staatsgewalt.
- Was ist Rechtspluralismus?: Dieses Kapitel definiert den Begriff Rechtspluralismus und erläutert seine verschiedenen Formen und Funktionen. Es wird die These aufgestellt, dass Rechtspluralismus in verschiedenen Kontexten eine wichtige Rolle spielt, sowohl als Katalysator für Konflikte als auch als Instrument zur Konfliktlösung.
- Rechtspluralismus in Afrika: Dieser Teil der Arbeit beleuchtet den historischen Kontext und die Entwicklung des Rechtspluralismus in Afrika. Die Arbeit fokussiert auf die Wechselwirkungen zwischen traditionellem Recht, Kolonialisierung und modernen Staatlichkeit.
- Rechtspluralismus und Paralleljustiz in Somalia: Dieses Kapitel analysiert die spezifischen Herausforderungen des Rechtspluralismus in Somalia. Die Arbeit analysiert die verschiedenen Rechtsquellen, die in Somalia parallel nebeneinander existieren, und untersucht die Interdependenzen zwischen diesen Systemen. Hierbei werden die verschiedenen Formen der Paralleljustiz sowie ihre Auswirkungen auf die somalische Gesellschaft beleuchtet.
Schlüsselwörter
Rechtspluralismus, Paralleljustiz, Somalia, Traditionelles Recht, Islamisches Recht, Staatliches Recht, Kolonialisierung, Dekolonisierung, Failed state, Konfliktlösung, Rechtsentwicklung.
- Arbeit zitieren
- Dipl.-Jur. Jakob Reinecke (Autor:in), 2017, Rechtspluralismus und Paralleljustiz in Somalia. Pluralistische Strukturen des Rechts unter Einfluss von Staatlichem Recht, Xeer und Scharia, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/433477