In den vergangenen Jahren wurde das Internet immer häufiger zum Schauplatz eines sozio-politischen Engagements und eines Aufbegehrens gegen politische Machthaber. Im Arabischen Frühling belagerten Demonstranten den Tahrir-Platz und stürzten den amtierenden Präsidenten Mubarak. Zu einem solchen Ausmaß der Proteste, hätte es ohne soziale Netzwerke nicht kommen können.
Der Anthropologe John Postill hält eine Methode zur Untersuchung sozialer Proteste deshalb für dringend notwendig. Im Zuge seiner Feldforschung in Barcelona zur Indignados-Bewegung entwickelte er ein Forschungsdesign, das diese Lücke füllen soll. Die sogenannte Medienepidemiographie soll die Verbreitung und Verwendung digitaler Inhalte erklären. Die Arbeit wirft einen kritischen Blick auf seine Methoden. Was nutze ihm diese hinsichtlich seines Forschungsinteresses? Welche Rolle spielt die digitale Ethnographie? In der Analyse seiner Arbeitskonzepte arbeitet der Autor mögliche Antworten heraus. Als Grundlage dient sein Postills Text „Democracy in an Age of Viral Reality".
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsgegenstand
3. Forschungsinteresse
4. Medienepidemiographie als Methode
4.1. Wissenschaftliche Herleitung
4.2. Analyse der Arbeitskonzepte
4.2.1. Campaign Virals Forschungsvorgehen
4.2.2. Viral Campaigns Forschungsvorgehen
4.2.3. Niche Virals Forschungsvorgehen
4.2.4. Sustainable Virals Forschungsvorgehen
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Aufkommen und der Anstieg sozialer Medien brachte eine neue Dimension mit sich. Nicht zuletzt aufgrund des mobilen Internets und der mobilen Endgeräte wie das Smartphone, entwickelte sich eine Kultur des Teilens beziehungsweise Sharens. Diese Kultur zeichnet sich durch routiniertes und dauerhaftes Liken und (Re-)tweeten aus. Dabei entscheiden die Nutzer selbst, welche digitalen Informationen oder Kommentare sie mit wem teilen. Die Geschäftsmodelle sozialer Medien und sogar die Mobiltelefone selbst sind auf das Prinzip des Teilens von digitalen Inhalten ausgelegt (Postill, 2015, S. 164).
Der Anthropologe John Postill (2015, S. 164) spricht daher von einer sogenannten „viral reality“, angelehnt an den Begriff virtual reality. Er meint damit die beschleunigte und ständige (Re-)produktion von Nachrichten und Meinungen durch Medienschaffende und Amateure in sozialen Medien. Ein herausragender Punkt dieser neuen Kultur des Teilens ist, dass nicht mehr nur Tech-Nerds Inhalte produzieren und verbreiten, um ein freieres Internet sowie politische und finanzielle Transparenz zu unterstützen. Auch der Mainstream der Internetnutzer beteiligt sich, indem politischer Content in den sozialen Medien weiterverbreitet wird (Postill, 2015, S. 164).
Sichtbar wurde das sozio-politische Engagement der Internetnutzer in den vergangenen Jahren im Aufbegehren gegen politische Machthaber und das politische Status Quo. Im Arabischen Frühling belagerten Demonstranten den Tahrir-Platz und stürzten den amtierenden Präsidenten Mubarak. Zu einem solchen Ausmaß der Proteste, hätte es ohne soziale Netzwerke nicht kommen können, welche aufgrund ihrer viralen Eigenschaften große Menschenmassen mobilisieren konnten. Inspiriert von dieser Macht der Ausdehnung, folgte die Occupy-Bewegung, deren bankenkritische Demonstrationen sich von der Wall Street in New York in 911 Städte in 82 Ländern verbreiteten (Kraushaar, 2012).
Die Erforschung dieser neuen Art des Protestes, vor allem dessen Ausbreitung, sprich die Viralität, ist noch nicht weit entwickelt in der Wissenschaft. Da es weiterhin zu Krisen und Demonstrationen kommen wird – in Anbetracht der aktuellen Situation in der Türkei oder England (Anm. d. Autorin) – hält der Anthropologe John Postill eine Methode zur Untersuchung sozialer Proteste für dringend notwendig (Postill, 2015, S. 166). Im Zuge seiner Feldforschung in Barcelona zur Indignados-Bewegung, welche zu den Occupy-Protesten gehört, entwickelte er ein Forschungsdesign, das diese Lücke füllen soll. Die Medienepidemiographie, wie er sie nennt, soll, einfach formuliert, die Verbreitung und die Verwendung digitaler Inhalte erklären (Postill, 2014, S. 55). Aufgrund verschiedener Untersuchungsvorgehen, online sowie offline, stellt sich die Frage, warum er sich für die jeweiligen Methoden entschieden hat. Was nutzt ihm dies, hinsichtlich seines Forschungsinteresses? Welche Rolle spielt die digitale Ethnographie? Diese Fragen sollen in einer Analyse seiner Arbeitskonzepte herausgearbeitet werden. Als Grundlage dient sein Text „Democracy in an Age of Viral Reality” (Postill, 2014).
Zunächst werden dafür Gegenstand und Interesse der Forschung skizziert. Anschließend wird Postills wissenschaftliche Herleitung der Medienepidemiographie nachvollzogen, worauf eine Erklärung und Analyse seiner vier Arbeitskonzepte Campaign Virals, Viral Campaigns, Niche Virals und Sustainable Virals hinsichtlich der genannten Forschungsfragen folgt. Im Fazit werden die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst.
2. Forschungsgegenstand
Wie schon einleitend erwähnt, entwickelte John Postill seinen Forschungszugang im Rahmen seiner Feldforschung zur Indignados-Bewegung in Barcelona. Letztere fand ihren Höhepunkt am 15./16. Mai 2011, als sich Aktivisten in zahlreichen spanischen Städten versammelten, um gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise wie die hohe Arbeitslosenrate junger Spanier, den Kollaps des Immobilienmarktes sowie Korruption in der Politik und gegen das Zweiparteiensystem zu protestieren. Anstatt sich am Abend aufzulösen, entschied eine Gruppe von Aktivisten – inspiriert von den Bewegungen in Ägypten und Tunesien – auf dem Puerta del Sol in Madrid zu campen. Aus Angst, die Regierung könnte sie gewaltsam beseitigen, rief sie in den sozialen Netzwerken um Unterstützung auf. Dem Aufruf folgten am nächsten Tag 200 Menschen und bis zum 20. Mai waren um die 30.000 Protestanten am Platz. Nachdem andere spanische Städte folgten, entwickelte sich die Indignados-Bewegung zu einem globalen Medienevent (Postill, 2014, S. 52ff.).
Die landesweiten Proteste waren Monate vorher von Aktivisten größtenteils in den sozialen Netzwerken, aber auch auf der eigenen Plattform Real democracy now! organisiert worden. Auf Twitter kursierten Hashtags wie 15M, No Les Votes, Movimiento15M und Real Democracy now. Aus den Protesten heraus entstanden öffentliche Bürgerforen, welche eine Liste konkreter Forderungen an die Regierung erstellten. Die Indignados-Bewegung bestand den ganzen Sommer 2011 hindurch weiter und inspirierte ähnliche Proteste unter anderem in Großbritannien, Kanada und Deutschland (Postill, 2014, S. 52).
3. Forschungsinteresse
Die Zahlen aus dem vorhergehenden Kapitel zeigen die Macht der Verbreitung von digitalen Inhalten in Echt-Zeit, insbesondere, wenn es sich um Vorstellungen unter gleichgesinnten Bürgern handelt. Von Staatseingriffen geschützte Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter oder Flickr unterstützen diese Form der offenen Zusammenarbeit. John Postills Intention war es nun, diese Macht der Viralität zu verstehen und herauszufinden, welches Potential in diesen ‚neuen‘ Bewegungen steckt.
Mit der Medienepidemiographie möchte er erstens eine Möglichkeit schaffen, die komplexen Interaktionen zwischen Versammlungen an einem physischen Ort und online stattfindenden Austauschen zu verstehen. Denn diese Kommunikationswege sind untrennbar. An dieser Stelle sind ethnographische Untersuchungen von verschiedenen Perspektiven aus notwendig, welche dabei den Gebrauch von viralen und nicht-viralen Inhalten online und offline berücksichtigen (Postill, 2014, S. 64f.).
Zweitens soll der Zugang die Verbreitung und Aufnahme der digitalen Inhalte zwischen den professionellen Medien und den Amateuren verfolgen. Wichtig sind hierbei die Zwischenakteure wie Blogger, Intellektuelle und Prominente, die als neue Mediatoren agieren (Postill, 2014, S. 64f.).
Und drittens kann das Forschungsdesign helfen, die traditionellen Wege der öffentlichen Kommunikation und politischen Partizipation zu überdenken, indem die Bedeutung von nano-stories (siehe Kapitel 4) hervorgehoben wird (Postill, 2014, S. 64f.).
Die Medienepidemiographie legt also den Anspruch darauf zu untersuchen, welche Rolle Kommunikation via Internet im Zusammenspiel mit nicht-virtueller Kommunikation spielt und berücksichtigt dabei, wer welche Inhalte teilt. Die Erkenntnisse sollen dazu dienen, die Partizipation von Bürgern in Demokratien zu verbessern (Postill, 2014, S. 64f.). Postill bringt somit den digitalen Aspekt in seinen neu entwickelten Forschungszugang mit ein, nämlich die sozialen Medien, weshalb sein Vorgehen von Strategien der digitalen beziehungsweise virtuellen Ethnographie geprägt ist. Dies wird in seinen Arbeitskonzepten deutlich, welche im folgenden Kapitel hinsichtlich der in der Einleitung formulierten Forschungsfragen analysiert werden sollen.
4. Medienepidemiographie als Methode
Bevor nun die Arbeitskonzepte erläutert und analysiert werden, wird in einer wissenschaftlichen Herleitung gezeigt, worauf Postill seine Medienepidemiographie aufbaut.
4.1. Wissenschaftliche Herleitung
John Postills Intention ist es, die Viralität, also die Ausbreitung von Protesten zu untersuchen. Dabei orientiert er sich an früheren Arbeiten in der Medienanthropologie über die soziale und kulturelle Verbreitung von Medien und nutzt die Erkenntnisse aus seiner Feldforschung in Barcelona, um einen neuen Zugang zur Erforschung der Politik in der digitalen Sphäre zu entwickeln. Er geht davon aus, dass soziale Medien virale Medien sind, welche dafür ausgelegt sind und aktiv dafür genutzt werden, digitale Inhalte epidemisch, in routinierter Aktivität – das heißt, von Freund zu Freund durch liken, retweeten, emailen – zu verbreiten. Aus epidemiographischer Sicht ist also das Teilen/Sharen synonym mit verbreiten. Demnach liegt der Schwerpunkt seines Zugangs auf der erhöhten Viralität der heutigen Medienlandschaft (Postill, 2014, S. 55f.).
Postills Begriff der Medienepidemiographie ist ein Neologismus aus den Termini Epidemiologie und Ethnographie, um deutlich zu machen, wie man Proteste, die sich viral verbreiten und sich in neue soziale Bewegungen verwandeln, untersuchen kann (Postill, 2014, S. 55f.). Er richtet sich dabei nach Dan Sperber (1998), der den Begriff Epidemiologie in neutralem Sinne verwendet, das heißt in Bezug auf die Verbreitung einer sogenannten „cultural representation“ (Sperber, 1998, S. 33f.) innerhalb einer Bevölkerung. Darunter versteht Sperber unter anderem Wörter, Lieder, Gedichte, Bilder und Rezepte. Er versucht damit die menschliche Kultur mithilfe der mentalen und sozialen Mikroprozesse zu erklären (Postill, 2014, S. 55f.).
In seiner „epidemiology of representations“ (1998, S. 1f.) möchte Sperber darlegen, warum und wie es dazu kommt, dass manche Gedanken ansteckend sind. Denn für ihn besteht die Kultur aus ebensolchen Gedanken und cultural representations, welche von einer Person zur nächsten weitergegeben werden. Ein epidemiologischer Zugang würde deren Verteilung in einer Population beschreiben und erklären. Von Bedeutung ist, dass die Epidemiologie allgemein und vielschichtig ist, das heißt sie ist in verschiedenen Fachrichtungen und Kontexten anwendbar. Außerdem erklärt sie Phänomene auf Makroebene als kumulative Auswirkungen von Mikroprozessen (Sperber, 1998, S. 1f.). Sperbers epidemiology of representations bietet sich als Grundlage für die Medienepidemiographie an, denn sie ist allgemein, offen für jedes Thema und lässt sich auf die viralen Inhalte in sozialen Netzwerken übertragen, wie im ersten Absatz des Kapitels beschrieben. So entsprechen bei Postill die geteilten digitalen Inhalte den cultural representations.
4.2. Analyse der Arbeitskonzepte
John Postill schlägt in seinem Forschungsdesign vier Arbeitskonzepte vor, mit denen man virale Inhalte sowie deren Verbreitung und Verwendung auf verschiedene Art und Weise untersuchen kann. So betrachtet er die zu erforschenden Elemente, also die viralen Inhalte, aus unterschiedlichen Blickwinkeln:
Mit den Campaign Virals und den Viral Campaigns schaut Postill auf die Größenordnung der Elemente. Ersteres untersucht sie aus der Mikroperspektive, indem es die einzelnen kampagnenbezogenen Gegenstände herausgreift; letzteres konzentriert sich auf die Makroperspektive, da es ganze Kampagnen zur Untersuchung heranzieht. Bei den Niche Virals und Sustainable Virals geht es Postill mehr um die Eigenschaften der viralen Inhalte. Denn Niche Virals werden zwar verbreitet, aber nicht in dem Maße, dass sie für die ganze Welt bekannt sind. Sustainable Virals hingegen, sind so populär, dass sie über Monate oder Jahre hinweg beständig bleiben. Nichtsdestotrotz setzt der medienepidemiographische Zugang alle Arbeitskonzepte in einen makrotheoretischen Kontext, indem er die vielen Mikroprozesse – also das viele Teilen eines digitalen Inhalts – als eine Anhäufung in einer Population betrachtet.
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