Ziel dieser Hausarbeit ist es, anhand von Thomas Manns Der Tod in Venedig zum einen literaturwissenschaftliche und zum anderen literaturdidaktische Perspektiven des Symbolverstehens und Symbolverständnisses aufzuzeigen. Thema des ersten Teils ist dabei zunächst die Frage danach, was eine Novelle im Besonderen ausmacht. Da eines der typischen Merkmale darin besteht, dass dem Dingsymbol eine herausragende Funktion zukommt, ist darüber hinaus, von einer Betrachtung des Symbol-Begriffs ausgehend, zu klären, wie der Begriff des Dingsymbols zu verstehen ist, um schließlich verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die sich mit den Erdbeeren, die Aschenbach an zwei Stellen der Novelle verzehrt, ergeben, herauszuarbeiten.
Im zweiten Teil befasse ich mich mit dem Symbolverstehen im Literaturunterricht, ausgehend von den Positionen, die Abraham und Spinner vertreten. Dabei ist besonders der Prozesscharakter des Symbolverstehens hervorzuheben. Den Schülerinnen und Schülern solle nicht suggeriert werden, dass Symbolen eine bestimmte, korrekte Bedeutung zuzuschreiben ist, sondern, dass das Deuten und Verstehen von Symbolen in einen Deutungsprozess eingebunden ist, der von den Schülerinnen und Schülern mit Unterstützung der Lehrkraft vollzogen werden soll. Zudem werden auf der Grundlage von drei Aspekten literarischen Lernens nach Spinner Perspektiven der Umsetzung des im literaturwissenschaftlichen Teil Herausgearbeiteten aufgezeigt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Literaturwissenschaftliche Perspektiven
1.1 Die Novelle
1.2 Das Dingsymbol
1.3 Die Erdbeeren als Dingsymbol
1.3.1 Die vollreifen Erdbeeren
1.3.2 Die überreifen Erdbeeren
2. Literaturdidaktische Perspektiven
2.1 Symbolisches Verstehen als Prozess – Ulf Abraham
2.2 Symbolisches Verstehen nach Kaspar Spinner
2.3 Drei von elf Aspekten des literarischen Lernens nach Spinner
2.3.1 ,,Metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen verstehen“
2.3.2 ,,Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres“
2.3.3 ,,Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln“
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Ziel dieser Hausarbeit ist es, anhand von Thomas Manns Der Tod in Venedig zum einen literaturwissenschaftliche und zum anderen literaturdidaktische Perspektiven des Symbol-verstehens und Symbolverständnisses aufzuzeigen. Thema des ersten Teils ist dabei zunächst die Frage danach, was eine Novelle im Besonderen ausmacht. Da eines der ty-pischen Merkmale darin besteht, dass dem Dingsymbol eine herausragende Funktion zu-kommt, ist darüber hinaus, von einer Betrachtung des Symbol-Begriffs ausgehend, zu klä-ren, wie der Begriff des Dingsymbols zu verstehen ist, um schließlich verschiedene Deu-tungsmöglichkeiten, die sich mit den Erdbeeren, die Aschenbach an zwei Stellen der No-velle verzehrt, ergeben, herauszuarbeiten.
Im zweiten Teil befasse ich mich mit dem Symbolverstehen im Literaturunterricht, ausgehend von den Positionen, die Abraham und Spinner vertreten. Dabei ist besonders der Prozesscharakter des Symbolverstehens hervorzuheben. Den Schülerinnen und Schülern solle nicht suggeriert werden, dass Symbolen eine bestimmte, korrekte Bedeutung zuzuschreiben ist, sondern, dass das Deuten und Verstehen von Symbolen in einen Deu-tungsprozess eingebunden ist, der von den Schülerinnen und Schülern mit Unterstützung der Lehrkraft vollzogen werden soll. Zudem werden auf der Grundlage von drei Aspekten literarischen Lernens nach Spinner Perspektiven der Umsetzung des im literatur-wissenschaftlichen Teil Herausgearbeiteten aufgezeigt.
1. Literaturwissenschaftliche Perspektiven
In diesem Kapitel befasse ich mich mit den literaturwissenschaftlichen Perspektiven des Symbolverständnisses und Symbolverstehens in Bezug auf Der Tod in Venedig von Thomas Mann. Dabei geht es zunächst um die Erzählform der Novelle und darum, was typische Merkmale dieser Erzählform sind. Darüber hinaus werde ich auf den Begriff des Dingsymbols eingehen und untersuchen, was gerade die von Aschenbach verzehrten Erdbeeren zu einem solchen Dingsymbol machen und welche Deutung die jeweiligen Textstellen, in denen sie erscheinen, ermöglichen.
1.1 Die Novelle
Welche Merkmale sind typisch für eine Novelle (wenn auch nicht für jede) und welche dieser Merkmale treffen auf Thomas Manns Der Tod in Venedig zu?
Eine Novelle ist der Erklärung von Thomas Degering zufolge eine bestimmte Erzählform, die sich von anderen wie dem Roman vor allem durch ihren geringeren Umfang unterscheidet und darin ,,in konzentrierter Form eine bedeutende, ungewöhnliche, ,unerhörte', dabei jedoch wahr scheinende ,Begebenheit' zur Darstellung bringt.“[1] Vielen Novellen könne zudem zugeschrieben werden, dass sie einen Konflikt thematisieren, der durch eine Wende in der Handlung in ihrem Ausgang entschieden wird. Ein bedeutender Bestandteil vieler Novellen ist Degering zufolge das ,,,Dingsymbol', welches in den Erzeugnissen der novellistischen Kunst die ,unerhörte Begebenheit' bildhaft beleuchtet oder funktional stützt.“[2] Zudem ähnele der Aufbau von Novellen dem des Dramas.
Bekanntlich besteht die Dramenpyramide nach Gustav Freytag aus (1) der Expo-sition, (2) einer Steigerung im Handlungsverlauf, (3) einem Höhepunkt der Handlung, (4) einem Wendepunkt (Peripetie) und schließlich (5) der Katastrophe.[3] Diesem formalen Aufbau entspricht jedoch Werner Frizen zufolge Thomas Manns Der Tod in Venedig nicht in exakt dieser Weise. Manns Novelle ist zwar ebenfalls in fünf Kapitel unterteilt, sie beginnt jedoch Frizen zufolge mit einem Prolog (erstes Kapitel): – Aschenbach entschließt sich, zu verreisen.[4] Das zweite Kapitel enthält nach Frizen die ,,nachgetragene Exposition“. Hier wird anhand von Aschenbachs Biographie und Ausführungen zu seiner Persönlichkeit die Ausgangssituation dargelegt. Das dritte Kapitel enthält die Peripetie und endet mit dem Wendepunkt der Handlung. Im vierten Kapitel wir der geistige Verfall Aschenbachs thematisiert und das fünfte Kapitel endet schließlich in der Katastrophe.
Dabei erlebt Gustav Aschenbach in Der Tod in Venedig einen inneren Konflikt, den er mit sich selbst austrägt. Die unerhörte Begebenheit besteht darin, dass er sich in den polnischen Jungen Tadzio verliebt, der mit seiner Familie in Venedig Urlaub macht. Diese Knabenliebe versucht er zunächst noch zu sublimieren und nach dem Vorbild des Sokrates auf eine höhere Ebene zu überführen. Der Anblick Tadzios, dem er sich fasziniert hingibt, dient ihm in seinem künstlerischen Schaffen zunächst noch als Inspiration. Doch ergibt sich der tragische Wendepunkt schließlich dadurch, dass er eine verhängnisvolle Entscheidung trifft, die zu seinem Tod führt. Der Abstieg in den Wahnsinn, dem Aschenbach verfällt, beginnt mit der Entscheidung, seinen Aufenthalt in Venedig zu verlängern, um sich der verbotenen Liebe zu Tadzio vollkommen hinzugeben. Dies führt letztlich zur Katastrophe: Aschenbach stirbt an der Cholera.
Es ist auffällig, dass die Handlung gerade nicht durch soziale Interaktion und inter-personale Konflikte[5] vorangetrieben wird. So gibt es keine zentralen Missverständnisse oder Konflikte, durch welche die Figuren der Novelle ihre Entscheidungen treffen, die dann wiederum erfreuliche, zu Erfolg oder Misserfolg führende oder tragische Kon-sequenzen haben. Alles hängt letztlich von Aschenbach selbst ab. So betrachtet er Tadzio, dessen Schönheit er zunehmend verfällt, zunächst nur aus der Ferne, später folgt er ihm und seiner Familie durch Venedig. Ein Austausch zwischen beiden findet aber nicht statt, vielmehr ist die Beziehung von Einseitigkeit geprägt. Aschenbachs Existenz hat somit keinerlei Einfluss auf das Leben Tadzios. Zudem besteht der Grund für Aschenbachs geis-tige Zerrüttung in ihm selbst. Der entstehende und sich kontinuierlich zuspitzende Kon-flikt, der in der Novelle thematisiert wird, ist deshalb ein intrapersonaler Konflikt, den Aschenbach mit sich selbst austrägt und an dem er zugrunde geht. Tadzio ist daran in keiner Weise aktiv beteiligt.
1.2 Das Dingsymbol
Ein bedeutendes Element vieler Novellen ist, wie oben bereits angemerkt, nach Degering das Dingsymbol. Dabei handelt es sich um einen Gegenstand, der einen zentralen Aspekt der Erzählung bildlich oder funktional hervorhebt. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Frage zu stellen: Was ist (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) ein Symbol? Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden, allerdings unternehme ich im Folgenden den Versuch einer Annäherung an den Begriff des Symbols.
In der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie heißt es dazu:
[…] In der neueren analytischen Ästhetik, vor allem bei N. Goodman, steht dem lo- gisch-sprachphilosophischen Begriff […] ein spezifischerer S[ymbol]begriff gegen- über, der aus der Literaturtheorie des 18. Jhs. stammt. J. W. v. Goethe unterscheidet das S[ymbol] von der Allegorie, insofern bei dieser das Besondere lediglich als Illustration einer allgemeinen Idee dient, während das S[ymbol] ein Besonderes ausspricht, dessen Bedeutung begrifflich unausschöpfbar ist. [...][6]
Eine Allegorie veranschaulicht also eine allgemeine Idee und ein Symbol drückt in konkreter Gestalt etwas aus, das in seiner Bedeutung nicht begrifflich gefasst werden kann, d. h. es entzieht sich einer eindeutigen Bedeutungszuschreibung.
Eine allgemeine Definition liefert Christine Hummel:
Als Symbol bezeichnet man eine Sache oder eine Handlung, die in der Realität oder der erzählten Welt auf etwas anderes verweist (was von einer in [sic!] ähnlich sozialisierten Rezipientengruppe aufgrund des Bilderreservoirs im kollektiven Gedächtnis verstanden wird), wie der Fisch auf die jungen Christen, die National- flagge auf einen Staat, die Rose auf die Liebe [...].[7]
Hier wird der Verweischarakter des Symbols hervorgehoben, so dass nun gesagt werden kann, dass das Symbol, das sich in einer Sache oder einer Handlung ausdrückt auf etwas anderes verweist bzw. für etwas anderes steht. So steht die Rose nicht für sich selbst, sondern für das Konzept der Liebe. Diese andere Bedeutung ergibt sich durch Kon-ventionen, die in einer bestimmten Rezipientengruppe gelten, so dass die gleiche Sache oder Handlung in unterschiedlichen Rezipientengruppen auch unterschiedlich gedeutet werden kann. Darüber hinaus zitiert sie an dieser Stelle Goethe: ,,Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen und unaus-sprechlich bliebe.“[8]
Durch Goethes Formulierung wird an dieser Stelle deutlich, dass zwischen der Idee und dem Bild keine eindeutige Beziehung besteht, d. h. die Idee, ist zwar im Bild vorhan-den, sie ist dabei aber nie ganz zu fassen oder zu fixieren auf etwas, von dem man sagen könnte, dass in diesem einen Bild genau diese eine bestimmte Idee steckt.
Für das Dingsymbol als Bestandteil der Novelle nach Degering gilt nun, dass es sich um ein Ding oder einen materiellen Gegenstand handeln muss, der auf etwas anderes verweist und damit nicht, wie beim allgemeinen Begriff des Symbols um eine Sache oder eine Handlung.[9] Ob es sich bei dem, was als Symbol auf etwas anderes verweist um ein Ding handelt oder nicht, muss hier zunächst offen bleiben und sollte meiner Ansicht nach im Einzelfall entscheiden werden, da es zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann, ob ein angemessenes Kriterium darin besteht, dass es sich z. B. um einen physikalischen Gegenstand handeln muss. So kann eine Pflanze, die im Kontext einer Novelle als Dingsymbol gedeutet wird, durchaus unter den Oberbegriff des physikalischen Gegenstands gefasst werden. Menschen jedoch können ebenfalls als physikalische Gegenstände angesehen werden, da sie eine bestimmte Dichte, ein bestimmtes Volumen und eine bestimmte Masse haben, jedoch würde man sie deshalb nicht als Dinge bezeichnen, da man ihnen darüber hinaus Gefühle und Gedanken zuschreibt. Aber auch die Hirnaktivität, könnte man jedoch wiederum einwenden, ist physikalisch messbar, so dass auch Emotionen und Gedanken auf physikalisch messbare Zustände reduziert werden könnten. Zudem könnte man die Frage stellen, ob ein Roboter, der menschliches Verhalten auf perfekte Weise imitiert, als Ding anzusehen ist oder nicht. Es wären weitere Szenarien und Gedankenexperimente möglich, die diese Problematik auf vielfältige Weise explizieren würden. Darauf möchte ich hier jedoch nicht weiter eingehen.
Deshalb schlage ich vor, bei Antworten auf die Frage, ob es sich in einem bestimmten Fall um ein Ding handelt oder nicht und damit um ein Dingsymbol, sofern dieses Ding symbolisch gedeutet werden kann, den Kontext der Erzählung zu berück-sichtigen. Damit ist für eine solche Frage entscheidend, ob man gute Gründe dafür angeben kann, dass das Ding im Kontext der Novelle als solches wahrgenommen und behandelt wird und eine ebensolche Funktion hat.
[...]
[1] Thomas Degering: Kurze Geschichte der Novelle: Von Boccaccio bis zur Gegenwart. Dichter, Texte Analysen. München. 1994. S. 9.
[2] Ebd.
[3] Vgl.: Sabina Becker, Christine Hummel, Gabriele Sander: Grundkurs Literaturwissenschaft. Stuttgart. 2006. S. 179 f.
[4] Vgl.: Werner Frizen: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretation von Werner Frizen. 1. Aufl. München. 1993. S. 23.
[5] Damit meine ich selbstverständlich Konflikte zwischen den Figuren.
[6],,Symbol". In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschafstheorie Bd. 4. Hg. v. Jürgen Mittelstraß. Unveränderte Sonderausgabe. Stuttgart 2004. S. 159.
[7] Becker, Hummel, Sander: Grundkurs Literaturwissenschaft. S. 71.
[8] Ebd. S. 71f. [Goethe: Maximen und Reflexionen. Aphorismus 1113.]
[9] Hier wäre dann noch die Frage zu stellen, was genau mit einer ,,Sache" gemeint ist, da die Ausdrücke ,,Sache" und ,,Ding" in der Umgangssprache zum Teil synonym verwendet werden.