Welche Verantwortung hat die Wissenschaft im vielzitierten "postfaktischen" Zeitalter? Welche Funktion hat die Wissenschaft und welche Rolle spielt Sie in unserer Gesellschaft? Wo stößt die Wissenschaft an ihre Grenzen, und was hat das zur Folge? Diese Fragen werden in diesem Essay unter Bezug auf den wissenschaftstheoretischen Diskurs in den Sozialwissenschaften kritisch beleuchtet.
Die Antworten geben interessante Eindrücke zum Thema "alternative Fakten" und aufgeklärte Verortung (sozial-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein konstruktivistischer Appell an die zwingende Integration des Forschers in die eigene Forschungsarbeit.
Inhalt
Ethik der Wissenschaft im „postfaktischen“ Zeitalter
Zeichnung, Photographie oder Karikatur? - die Grenzen der Wissenschaft
Zwischen IST-Sätzen und SOLL-Sätzen - Die Funktion von Wissenschaft
Pop Science und Marketing-Orientierung: Das Management von Wissenschaft
„Jetzt sind wir alle Hurensöhne“ - Die Verantwortung von Wissenschaft
Wer ist „Mutter“, wer ist „Vater“ - Fazit
Ethik der Wissenschaft im „postfaktischen“ Zeitalter
“Postfaktisch” wurde dieses Jahr zum Wort des Jahres in Deutschland gekürt. Grund dafür war das von Medien und Gesellschaft allgegenwärtig rezipierte neue “postfaktische” Zeitalter, in welchem wir uns in der westlichen Welt nun scheinbar befinden. “Postfaktisch”, das setzt sich zusammen aus dem lateinischen Präfix post (=zeitlich nach) und dem Begriff faktisch, also auf Fakten beruhend. Damit ist der Trend gemeint, dass durch die zunehmend komplexere Informationsflut in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung Menschen scheinbar eher auf ihre Gefühle vertrauen denn auf Tatsachen, sprich wissenschaftlichen Fakten. Oder wie unsere Kanzlerin Angela Merkel es zu beschreiben versuchte:
“Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“ (zitiert nach Handelsblatt, 2016)
Wenn es stimmt, dass wir heute in postfaktischen Zeiten leben, dann müssten wir vor nicht allzu ferner Vergangenheit in einer faktischen Zeit gelebt haben. Die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen haben uns zu mehr Verständnis geführt bezüglich Natur und Mensch. Die Wissenschaft als Ganzes - so wird in säkularen Industriestaaten wie Deutschland allgemein angenommen - hat sich seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts als zentrale Glaubensinstitution entwickelt und die Religionen zum Teil verdrängt und ersetzt (Kaeser, 2010). Diese faktische Zeit, in der die wissenschaftliche Erkenntnis die oberste, einzige und allgemeingültigste Erfahrungsdimension für das Weltverständnis darstellt, scheint es also tatsächlich gegeben zu haben. Wie kam es nun zu der Veränderung, die zweifellos eine Macht- und Einflussreduktion der etablierten wissenschaftlichen Institutionen postuliert und damit als direkte Kritik an die Wissenschaft und deren Erkenntnis zu verstehen ist? Vorab sei anzumerken, dass etwaige Antworten auf komplexe, dynamische, gesellschaftliche Fragen immer nur durch die Integration mehrerer Sichtweisen tatsächlichen Aufschluss bieten. Dieser Essay möchte seinen Teil zum Thema beitragen, indem er die Rolle der Wissenschaft im System Gesellschaft und die Grenzen ihrer Erkenntnisse in einem kritischen Licht beleuchtet.
Zeichnung, Photographie oder Karikatur? - die Grenzen der Wissenschaft
Welchen Anteil hat wissenschaftliche Erkenntnis am potenziellen Gesamtverständnis der Wirklichkeit? Diese erkenntnistheoretische Frage ist nicht neu, hat beispielsweise schon im Platon’schen Höhlengleichnis in dessen Werk Politéia vor ca. 2400 Jahren ihre Anerkennung widerfahren (Platon, 1985). Damals wie heute beschreibt das Thema das Zustandekommen von Wissen und Überzeugungen auf Seiten des Menschen über dessen Umwelt. Mit (natur)wissenschaftlicher Forschung ließe sich laut Dürr (1988) die Wirklichkeit nicht und niemals ganzheitlich abbilden. Dies sei auch faktisch unmöglich, da hinter jeglicher wissenschaftlichen Perspektive bereits eine Wirklichkeitsverengung stattfinde. Das liege zum einen daran, dass Methodik und Untersuchungsgegenstand immer wechselseitig voneinander abhängig seien. Die „Denkschemata“, mit denen Wissenschaftler die Wirklichkeit zu erfassen versuchen, sind schon durch die „Struktur der eigentlichen Wirklichkeit“ geprägt, so Dürr (1988, S. 35). Zum anderen rühre die Wirklichkeitsverengung vom menschlichen Wesen der Wissenschaftler: Dieses Wesen sei in seinem Verstehen durch begrenzte Lern- und Anpassungsfähigkeiten gekennzeichnet, sodass die Überwindung dieser Begrenzung zwangsläufig in einer Fokussierung auf einzelne Bereiche - weg von der eigentlichen ganzheitlichen Wirklichkeit - erfolgen müsse. Die Grenzen der Wissenschaft sind also laut Dürr in den Grenzen der wissenschaftlich-deduktiven Methodik sowie den Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit zu finden.
Die dahinterliegende Grundannahme basiert auf den Paradigmen des Konstruktivismus, nach dem es a) eine objektive, das heißt bewusstseinsunabhängige, Wirklichkeit gibt, und b) der Mensch nicht nicht bewusst etwas erfassen kann und ihm damit auch der Zugang zu Wirklichkeit verwehrt bleibt, weshalb er sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Laut Dürr kann die Wissenschaft daher lediglich aufgrund ihres Projektionscharakters „Zeichnungen“ oder allenfalls „Photographie“ der Wirklichkeit abbilden (Dürr, 1988, S.32). Jahoda bezeichnet die Projektionen der Wirklichkeit als „Karikatur“ (Jahoda, 1994, S.298) und beansprucht für ihre Forschung - selbstkritisch eher als utopisch denn real beschrieben - allerhöchstens ein „Porträt zu liefern, das als solches erkennbar ist“ (Jahoda, 1994, S.298). Dieses Abbildungsproblem findet sich in der Wissenschaftstheorie überall und vor allem dort, wo quantitativ gemessen wird: Die eindeutige Zuordnung einer Zahl zu einem Objekt wird hier auch Repräsentationsproblem oder Eindeutigkeitsproblem genannt.
Am Beispiel Jahodas Ansatz einer „nichtreduktionistischen Sozialpsychologie“ ist der Versuch zu erkennen dieser reduzierenden Erkenntnisgewinnung entgegenzutreten, um so der objektiven Realität ein Stück weit näher zu kommen. Auch systemtheoretische Ansätze wie die soziale Systemtheorie von Niklas Luhmann und deren Weiterentwicklungen von Hellmut Willke versuchen unter Bezug auf kybernetische Theorien und Begrifflichkeiten ein ganzheitlicheres Abbild der Wirklichkeit zu erstellen und die Differenz zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit zu minimieren.
Aus der Perspektive der historischen Entwicklung der Wissenschaft lassen sich diese Ansätze auch als Antwort auf die zunehmende Aufspaltung in immer kleinere Einzelbereiche der Wissenschaftsdisziplinen erklären. Exponentieller Wissenszuwachs und die Vernetzung der Welt haben uns ein Komplexitätsniveau der Wirklichkeit offenbart, in dem „das Gesetzmäßige nicht mehr auszumachen“ (Dürr, 1988, S.27) war. Die heutige Wissenschaft arbeitet daher - sozusagen als allgemein anerkannter Kompromiss - in allen Bereichen zunehmend eklektizistisch, das heißt man bedient sich in wissenschaftlichen Teilbereichen den Erkenntnissen anderer interdependenter Teilbereiche. Zudem findet die Idee des Mixed- Methods-Ansatzes - wie ich finde - zu Recht großen Zuspruch im wissenschaftlichen Diskurs. Ob in diesem Eklektizismus die tatsächliche Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf andere Forschungsfragen und Disziplinen immer sorgfältig überprüft wird und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht und für angemessen befunden wurde, und ob beim Einsatz verschiedener Methoden die Wechselwirkungen von Methode und Denkschema beachtet werden, soll hier nur als offene Frage formuliert werden. Fest steht meiner Ansicht nach allemal, dass auch die „Summe der Teilchen“ (Dürr, 1988, S.28ff) nie das Ganze, also die Wirklichkeit, abbilden kann. Einen „Spiegel der Wirklichkeit“ (Jahoda, 1994, S.298) kann die Wissenschaft also nie darstellen.
Die Herausstellung der Grenzen der Wissenschaft sind keineswegs als Kritik an dieser zu verstehen. Vielmehr ermöglicht die Untersuchung der Potenziale eine genauere Einordnung und Bewertung des wissenschaftlichen Beitrags zu einem umfassenderen Gesamtverständnis der Wirklichkeit. Darüber hinaus kann und muss die Frage zu den Fähigkeiten („Was kann Wissenschaft“?) Grundlage für die eigentliche Frage dieses Essays sein („Was soll Wissenschaft?“).
Zwischen IST-Sätzen und SOLL-Sätzen - Die Funktion von Wissenschaft
Dürr (1988) geht in der Einleitung seines Werkes „Das Netz des Physikers“ auf das ursächliche Motiv der wissenschaftlichen Erkenntnis ein: Es ginge darum, „sich die Natur dienstbar zu machen“ (Dürr, 1988, S. 26). Die Funktionalität jeglicher Erkenntnis liege also in der Nutzbarmachung der Umwelt, in der Herausstellung von Kausalität. Gerade die Naturwissenschaft habe mit der Technik besonders nützliches Wissen hervorgebracht, dies jedoch nicht ohne den Preis der möglichen Zerstörung der Umwelt, so Dürr weiter. Zweifelsohne haben auch die Sozialwissenschaften (z.B. mit der humanistischen Philosophie der Aufklärung) nützliches Wissen hervorgebracht, wenn auch teils weniger greifbar, als das der Naturwissenschaften. Welchen Preis diese zu entrichten hat, dazu später mehr. Die Herausstellung von Kausalketten jedenfalls ist nichts anderes als Bemühung um eine möglichst genaue Erklärung der Umwelt. Möchte man die Funktion der Wissenschaft der reinen Tatsachenbeschreibung zuordnen, so findet man Zuspruch in den Statuten der Royal Society zum wissenschaftlichen Ethos von 1663: „Gegenstand und Ziel (...) ist es, die Kenntnisse von natürlichen Dingen, von allen nützlichen Künsten, Produktionsweisen, mechanischen Praktiken, Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern - ohne sich in Theologie, Metaphysik, Moral, Politik (...) einzumischen.“ (zitiert nach Kaeser, 2010). Auch Luhmann spricht sich in seiner struktur-funktionalistischen Systemtheorie gegen den Einfluss von Moral aus, da diese nur den eigentlichen Funktionszweck von Systemen behindern würde. Seine Systemtheorie bezweckt ebenfalls ausschließlich die Erklärung der Umwelt, wenn auch auf ganzheitlicherem Niveau (Navas, 1993). Ein anderes Argument findet man bei Karl Poppers Paradigma des kritischen Rationalismus. Poppers Beweisführung liegt in den Grenzen der menschlichen Objektivität begründet: Der Mensch als Wissenschaftler vermag es nicht, wertfrei zu handeln. Dieses Unvermögen ist gegeben und kann nicht verändert werden im Sinne eines objektiven wissenschaftlichen Agierens. Daher müsse sich die Wissenschaft damit begnügen, Objektivität in Form einer möglichst genauen Trennung (nicht Ausschaltung) zwischen der Werte-Dimension und Tatsachen-Dimension sicherzustellen.
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