Korporatistische Verbände sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil der österreichischen politischen Landschaft. Die langfristige gemeinsame Zusammenarbeit, Konzertierung und Interessenakkordierung der großen Dachverbände der ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnenorganisationen mit den jeweiligen Regierungen beweisen die Einzigartigkeit und Schlagkräftigkeit der österreichischen Sozialpartnerschaft, welche als beispielhaft für eine gelebte Konkordanzdemokratie gilt. Im Rahmen dieses Papers möchte ich im Besonderen auf die österreichischen ArbeitnehmerInnenverbände eingehen und ihre Rolle im Gefüge der Sozialpartnerschaft analysieren. Durch ihre Funktion und Bedeutung für die Gesellschaft, sowie ihren Einfluss in den wirtschafts- und sozialpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozess sowie die Gesetzgebung sind sie oftmals mit Rollenkonflikten konfrontiert und befinden sich daher in einem Spannungsfeld zwischen Mitgliederinteressen und Systemzwängen. Diese Problematik herauszuarbeiten wird Ziel dieser Arbeit sein.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Rollendefinition
1.1 Die strukturfunktionalistische Rollentheorie
1.2 Die interaktionistische Rollentheorie
2. Die Rolle der Gewerkschaft in der österreichischen Sozialpartnerschaft
2.1 Der ÖGB und die Arbeiterkammern
2.2 Der ÖGB und die Paritätische Kommission
2.3 Der ÖGB und die Betriebe
3. Rollenkonflikte
3.1 Der Intrarollenkonflikt
3.1.1 Mitgliedschafts- und Einflusslogik
3.2 Der Interrollenkonflikt
3.2.1 Parteizwänge
3.2.2 BetriebsrätInnen zwischen ArbeitnehmerInneninteressen, Gewerkschaftszielen und Ar beitgeberInnenloyalität
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Korporatistische Verbände sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil der österreichischen politischen Landschaft. Die langfristige gemeinsame Zusammenarbeit, Konzertierung und Interessenakkordierung der großen Dachverbände der ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnenorganisationen mit den jeweiligen Regierungen beweisen die Einzigartigkeit und Schlagkräftigkeit der österreichischen Sozialpartnerschaft, welche als beispielhaft für eine gelebte Konkordanzdemokratie gilt. (Vgl. Tálos/Stromberger 2004, 157)
Im Rahmen dieses Papers möchte ich im Besonderen auf die österreichischen ArbeitnehmerInnenverbände eingehen und ihre Rolle im Gefüge der Sozialpartnerschaft analysieren. Durch ihre Funktion und Bedeutung für die Gesellschaft, sowie ihren Einfluss in den wirtschafts- und sozialpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozess sowie die Gesetzgebung sind sie oftmals mit Rollenkonflikten konfrontiert und befinden sich daher in einem Spannungsfeld zwischen Mitgliederinteressen und Systemzwängen. Diese Problematik herauszuarbeiten wird Ziel dieser Arbeit sein.
1. Rollendefinition
Eine rollentheoretische Einordnung zu Beginn soll zum Verständnis der Bedeutung und Funktion des österreichischen Gewerkschaftsverbandes als politischer Akteur mit Kollektivbewusstsein beitragen.
1.1 Die strukturfunktionalistische Rollentheorie
Folgt man der strukturfunktionalistischen Schule Talcott Parsons‘, dessen Rollenbegriff auch der deutsche Soziologen Ralf Dahrendorf verwendet, sind Rollen vorgegebene Verhaltenserwartungen, welche an ein Subjekt in einer bestimmten Situation von einer konkreten Bezugsgruppe herangetragen werden (vgl. Bahrdt 2003, 67). Bezieht man dies auf die Gewerkschaft als Subjekt, so sind ihre Bezugsgruppe die ArbeitnehmerInnen, welche bestimmte Erwartungen an sie herantragen – nämlich sich um ihre Interessen zu kümmern und sie in Konfliktsituationen zu unterstützen und zu vertreten.
Rollen haben dieser Theorie folgend den Sinn, Verhalten vorhersehbar zu machen und somit eine planbare Interaktion zu ermöglichen (vgl. Bahrdt 2003, 67). Diese Aussage ist ebenfalls passend, wenn man bedenkt, dass die Sozialpartnerschaft auf einem Grundkonsens fußt, ihre Ziele in der Sozial- und Wirtschaftspolitik durch Kooperation und gemeinsamen Dialog zu erreichen und nicht über eine offene Konfliktaustragung, wie z.B. Streiks. (Vgl. Die Sozialpartner Österreichs, online)
Abgestützt werden Rollenerwartungen durch Sanktionsmöglichkeiten, d.h. passt ein gewisses Verhalten nicht zu einer von der Bezugsgruppe vorgegebenen Rolle, hat diese eine Bestrafungsmacht gegenüber dem/der RollenträgerIn (vgl. Bahrdt 2003, 67). Fühlen sich also die ArbeitnehmerInnen nicht mehr von ihrem Interessenverband, der Gewerkschaft, vertreten, können sie diesen verlassen, womit dieser seine Organisationsfähigkeit und infolge dessen seine Verhandlungsmacht gegenüber dem Interessenverband der ArbeitgeberInnen und der Regierung einbüßt.
Der strukturfunktionalistische Rollenbegriff ist zwar in Bezug auf den österreichischen Gewerkschaftsbund durchaus anwendbar, doch meiner Meinung nach zu eng gefasst. Dies hat folgende Gründe:
Der Strukturfunktionalismus orientiert sich am Status quo und hat den stetigen sozialen Wandel kaum zum Thema (vgl. Korte 2011, 182). Gerade die österreichischen Interessenverbände waren aufgrund der in den letzten beiden Jahrzehnten massiven politischen und soziokulturellen Veränderungen einem folgenreichen Strukturwandel ausgesetzt, weshalb sich neue Formen der Interessendurchsetzung etabliert haben, was auch zu einer Änderung des Rollenverständnisses und des Vertretungsstils der Verbände geführt hat (vgl. Karlhofer 2005, 20ff).
1.2 Die interaktionistische Rollentheorie
Der symbolische Interaktionismus erscheint mir hier doch eine geeignetere Theorie, diese Rollenveränderung zu erklären, da er die soziale Wirklichkeit als instabil, fragil und ständigen Veränderungen unterworfen sieht (vgl. Hosner 2014, 20).
Zudem sind Gewerkschaften ein kollektiver Akteur im politischen Prozess. Kollektive Akteure sind Vereinigungen, welche gemeinsam Handlungen tätigen um gemeinsame Interessen durchzusetzen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus einer Vielzahl von Individuen bestehen (vgl. Mikl 1977, 21). Aus diesem Umstand heraus wäre es zu einfach, Gewerkschaften als reines „Produkt einer bestimmten Gesellschaftsordnung“ (Mikl 1977, 21) zu beschränken. Vielmehr sind sie ein Kollektiv aus Individuen, welche gem. Herbert Blumer entsprechend der Bedeutung handeln, welche die Umwelt auf sie hat und diese Bedeutung ergibt sich aus der sozialen Interaktion (vgl. Eberle/Maindok 1984, 56).
Mikl schreibt dazu: „Bezieht man gewerkschaftliches Handeln auf die Interessen und Bedürfnisse der Arbeitnehmer […], so erscheint es als Gruppenhandeln unabhängig davon, ob die formale Organisation „Gewerkschaft“ das Handeln initiiert oder nicht. Die Gewerkschaft selbst wird dann zur Umwelt und wirkt sozialisierend auf die Mitglieder und ihre Möglichkeit und Bereitschaft, ihre Interessen autonom durch Nutzung der formalen Organisation oder durch kollektives Handeln zu artikulieren.“ (Mikl 1977, 26)
Gewerkschaften sind soziale Bewegungen, welche sich durch kollektives Handeln, Organisation und Gruppenbewusstsein auszeichnen. Menschen schließen sich auf Basis gemeinsamer Wert- und Glaubensvorstellungen der Gewerkschaft an. Daher existieren ein starkes Gruppengefühl sowie ein hohes Maß an Solidarität. Maßgeblich bei kollektivem Verhalten ist, dass es sich um nicht-institutionalisiertes Verhalten handelt, was bedeutet, dass die Rolle der Gewerkschaft nicht von institutionellen Strukturen und Normen einer Gesellschaft vorbestimmt ist. Es sind vielmehr soziale Bewegungen, wie z.B. die frühe Arbeiterbewegung, welche sozialen Wandel herbeiführen. (Vgl. Mikl 1977, 75)
Gewerkschaftliches Handeln kann also „in zwei Aspekte[n] derselben Wirklichkeit beleuchtet“ werden (van de Vall 1966, 2): Die strukturfunktionalistische Rollentheorie hat eher die Gewerkschaft als Organisation und Teil des Systems zum Thema, untersucht „das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gewerkschaft“ (van de Vall 1966, 2) und bewegt sich im Gegenstandsbereich der Makrosoziologie. Sie erklärt gewerkschaftliche Vereinigung und gewerkschaftliches Handeln durch vorgegebene Strukturen. Die interaktionistische Rollentheorie hingegen geht tiefer und befasst sich mit dem „Kern“ – nämlich mit den Gewerkschaftsmitgliedern an sich. Die Rolle der Gewerkschaft erklärt sich aus kollektiven Handlungen und die Organisation ist quasi die Außenhülle bzw. der institutionelle Rahmen. Sie untersucht also „das Verhältnis zwischen der Gewerkschaft und ihren Mitgliedern“ (van de Vall 1966, 2). Hier steht die mikrosoziologische Perspektive im Zentrum der Betrachtungsweise.
Wenn wir uns in der Folge jedoch mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und dessen Rolle im Rahmen der österreichischen Sozialpartnerschaft beschäftigen, so wird deutlich, dass eine ausgeprägte institutionelle Einbettung im sozialpolitischen System vorliegt. Somit ist gewerkschaftliches Handeln in Österreich großteils institutionalisiert und trägt damit auch zur Stabilisierung des politischen Systems bei. Aus diesem heraus Blickwinkel betrachtet, muss wohl der strukturfunktionalistischen Ansatz höher gewichtet werden, obgleich es auch Bezugspunkte zur interaktionistischen Rollentheorie gibt, da es auch in Österreich zu einer strategischen Neuausrichtung der Gewerkschaften gekommen ist. Es sind schlussendlich immer noch die AkteurInnen selbst, welche durch ihre Entscheidungen auch in einem institutionalisierten Rahmen für einen Wandel im formalen, starren Gefüge institutionalisiert Regeln sorgen (vgl. Stern 2010, 8).
2. Die Rolle der Gewerkschaft in der österreichischen Sozialpartnerschaft
Der österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) ist ein überparteilicher und unabhängiger Verein zur Interessenvertretung unselbständiger Erwerbstätiger, beruht auf freiwilliger Mitgliedschaft und umfasst aktuell 1,2 Millionen Mitglieder. Der ÖGB agiert als Dachverband über aktuell sieben branchenübergreifenden Teilorganisationen. Da Mitglieder aller Konfessionen, politischer Ansichten, sozialer Herkunft und beruflichem Status vertreten sind (auch Arbeitslose und PensionistInnen) spricht man von einer Einheitsgewerkschaft (vgl. Bolkovac/Vlastos/Mitter 2009, 18ff).
Der ÖGB zeichnet sich durch einen hohen Zentralisierungs- und Hierarchierungsgrad und mit hoher Machtkonzentration an der Spitze aus. Zudem besteht er aus Fraktionen unterschiedler parteipolitischer Ausrichtung, wobei die Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen die stärkste und mächtigste Gruppe bildet (vgl. Mikl-Horke 2007, 296/Lang 1982, 863). Dadurch ist ein ausgeprägtes Naheverhältnis zu den politischen Großparteien nicht von der Hand zu weisen. Dieser Umstand äußert sich auch dadurch, dass es personelle und organisatorisch-institutionelle Überlappungen gibt. So haben einzelne Funktionäre Funktionen in Gewerkschaft und Partei inne (vgl. Lang 1982, 863). Um einige Beispiel anzuführen: Die aktuelle Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ) war auch lange Zeit im Spitzengremium des ÖGB tätig, ebenso ist der Nationalratsabgeordnete der SPÖ, Josef Muchitsch, gleichzeitig ÖGB-Funktionär. Auch Fritz Neugebauer übte lange Zeit die Ämter des Nationalratsabgeordneten und des Präsidenten des ÖAAB (Anm: Österreichischer Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund – Fraktion Christlicher GewerkschafterInnen) parallel aus (vgl. Parlamentsdirektion der Republik Österreich/BMG 2015, online).
Somit existiert ein enges Beziehungsgeflecht zwischen Gewerkschaft und Politik – wenngleich es auch keine direkten finanziellen Beziehungen gibt. Der ÖGB finanziert sich größtenteils aus den Mitgliedsbeiträgen selbst und gibt diese finanziellen Mittel an die verschiedenen Teilgewerkschaften weiter. Indirekt profitieren die Parteien jedoch finanziell sehrwohl von der Fraktionsarbeit im ÖGB, da diese gleichzeitig ja auch Parteiarbeit ist und diese sonst auf ihre Kosten finanzieren müssten (vgl. Lang 1980, 863/Pelinka 1980, 104 in: Lang 1982, 866).
2.1 Der ÖGB und die Arbeiterkammern
Der österreichische Gewerkschaftsbund arbeitet zudem eng mit der gesetzlichen Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, der Arbeiterkammer (AK), zusammen, welche die gesetzliche Kollektivvertragshoheit besitzt. Jedoch hat die AK dieses Recht weitgehend an die Gewerkschaft abgetreten und übt dieses nur noch in vereinzelten Bereichen aus, wo die ArbeitnehmerInnen noch nicht gewerkschaftlich organisiert sind (vgl. Lang 1982, 861/Österreichischer Gewerkschaftsbund 2014, online).
Dagegen zählen Lehrlingsvertretung, Konsumentenschutz, wissenschaftliche Arbeit und Gesetzesbegutachtungen zu den Aufgaben der Arbeiterkammern (vgl. Lang 1982, 861/Bolkovac/Vlastos/Mitter 2009, 25).
Es existiert eine Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammer insofern, „ daß (sic!) der ÖGB primär das dynamische, fordernde, verändernde Element ist, während die Arbeiterkammern das vor allem sichernde, infrastrukturelle Element bilden“ (Pelinka 1980, 126, in: Lang 1982, 861).
Beide bilden ein starkes Gegengewicht zu den anderen Verhandlungspartnern aus Regierung und Wirtschaft (vgl. Bolkovac/Vlastos/Mitter 2009, 25).
2.2 Der ÖGB und die Paritätische Kommission
Eine Schlüsselrolle in der österreichischen Sozialpartnerschaft kommt der zentralistischen und autonom handelnden Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen zu, deren Mitglieder die Präsidenten der drei Kammerorganisationen (Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer und Landwirtschaftskammer), und des ÖGB, sowie der Bundeskanzler und die Bundesminister für Inneres, Wirtschaft und Soziales sind. Der Paritätischen Kommission kommt die Kontrolle über Preise und Löhne zu, wobei die Entscheidung über Preis(erhöhungen) direkt erfolgt und Lohnfragen indirekt mittels Freigabe für den Eintritt in Kollektiverhandlungen behandelt werden. Voraussetzung für die Beschlussfassung ist eine Konsensentscheidung. Regierungsvertreter sind nicht stimmberechtigt. (Vgl. Mikl-Horke 2007, 305)
Die Schwerpunkte gewerkschaftlicher Tätigkeit im Rahmen der österreichischen Sozialpartnerschaft liegen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In diesen Bereichen bleibt dem Parlament, den Parteien und der Staatsverwaltung nur die Ausführung der in der Paritätischen Kommission gefassten Beschlüsse. (Vgl. Lang 1982, 869)
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