Die Arbeit gibt einen Überblick sowohl über die Neurasthenie als Krankheitsbild als auch einen Einblick in die für die Alltagserfahrung jener Zeit paradigmatische Erfahrung einer allgemein empfundenen Nervosität. Was damals schon Realität war, kann in vielen Dingen auch für heute gelten.
Es war der New Yorker Nervenarzt George Miller Beard (1839-1883), der erstmals 1880 von einer allgemeinen Nervenschwäche sprach, die im Amerika seiner Zeit überall hervorbreche. Sein Konzept der Neurasthenie machte ihn berühmt und gelangte auch ins Deutsche Reich, wo viele Ärzte ähnliche Beobachtungen machten. Die Neurasthenie wurde zur Mode und für Viele war sie Sinnbild eines Kulturzustandes, der, bedingt durch Beschleunigung, Technik, Lärm und Reizüberflutung, allenthalben krisenhaft war und zugleich faszinierte.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Vorgehensweise und Fragestellung
1. Die Neurasthenie (Nervenschwäche) als unspezifisches Krankheitsbild
1.1 Vom Werden einer konstruierten Krankheit. Leidensdruck, Leidenserfahrung und Selbstvergewisserung
1.2 Die akute Neurasthenie
1.3 Die chronische Neurasthenie
2. Nervosität als ein Zeitgeist der Moderne
2.1 Allgemeines zur modernen Nervosität
2.2 Neue Erfahrungen, neues Bewusstsein: Tempo, Technik, Lärm und Reizüberflutung
Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung: Vorgehensweise und Fragestellung
„Nervös, wenn auch nicht im vollen Umfange des Begriffes, so doch etwas nervös ist heutzutage schliesslich jeder.“[1] So wie der Arzt Baumgarten, ein von dem Mönch Kneipp inspirierter Naturheiler, der sich dem Nervösen seiner Zeit in schwarzmalerischer Weise näherte,[2] hier einen Eindruck von der gesellschaftlichen Relevanz des Phänomens der Nervosität um 1900 gibt, so soll auch mit der vorliegenden Hausarbeit ein Versuch unternommen werden sich dieser vielschichtigen und polykausalen Erscheinung der beginnenden Moderne ein wenig zu nähern.
Nervosität war im deutschen Kaiserreich von 1871-1914, aber besonders ab dem Beginn der wilhelminischen Epoche 1890 eine Erfahrung und ein Zustand aller gesellschaftlichen Schichten vom Arbeiter bis hin zum etablierten Bildungsbürger, auch wenn der je eigene Erfahrungsgehalt selbstverständlich differierte. Der Umgang mit dieser Nervosität gleicht dabei einer sich in zwei Richtungen aufspaltenden Polarität. Auf der einen Seite wurde mit der Nervosität Innovatives verbunden, sie war spiegelbildlich für den Fortschritt und eine progressive Lebensweise, auf der anderen Seite gingen mit ihr Ängste und Unsicherheiten, aber auch Befürchtungen über eine unklare Zukunft einher. Auch wurde sie vollkommen verschieden bewertet. Die einen, so zum Beispiel die Ärzte mit der von ihnen propagierten Krankheit der Neurasthenie, wendeten sich ihr mit großem Ernst zu, während andere die Nervosität und den Leidenszustand daran, der sich im Krankheitsbild der Neurasthenie konzentrierte, eher belächelten und ihn nicht allzu ernst nahmen. So dichtete z. B. der Schriftsteller Otto Erich Hartleben Verse wie: „Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie.“[3] Ein sehr unterhaltendes Beispiel für den lockeren Umgang mit der Neurasthenie stellt ein auf die Melodie von „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ gedichtetes „neurasthenisch Lied“ von Adolph v. Naumburg dar:
Wir elenden Neurepigonen / Sind schlimmer dran wie noch nie: / Auch in den gemässigten Zonen / Quält masslos uns die Phobie. / O, wer uns Courage doch borgte / Bei unserer Neurasthenie! / Was giebt es, davor uns nicht forcht`te? / Das Dasein ist nichts wie Phobie! // Der Eine der focht`t sich vor Plätzen, / Da macht er linksrum gleich im Hui, / - Weiss frisch Luft nicht zu schätzen, - / Das heisst man Agoraphobie. / Der Andere schließt nicht die Laden / Trotz aller Klopophobie; / Viel mehr noch könnte ihm schaden / Beklemmende Klaustrophobie. // Den Einen bedrückt es im Thale, / Dem schwindelt auf steiler Partie: / Bedauerlich beide Male / Ist Batho- wie Hypsphobie. / Die Eisenbahn selbst wird gemieden / Von manchem verrückten Genie; / Wie kann man auch fahren in Frieden / Mit Siderodromophobie? // Der Eine kann keine Minute / Allein sein, er braucht Compagnie, / - Er forcht`t vor sich selbst sich, der Gute! - / Das nennt man dann Monophobie. / Ein Anderer wittert kaum Leute, / So läuft er davon, - fragt nicht wie? - / Wie Hirsche, gehetzt von der Meute; / Das macht die Anthropophobie. // Wer schliesslich vor Allem sich fürchtet, / Der leidet an Pantophobie, / Ja selbst vor der Furcht sich zu fürchten, / Kriegt fertig die Phobophobie. - / Ihr spottet, ihr „Parthenopolen“? / O spottet doch ja nicht zu früh! / Euch quälet ja selbst unverhohlen / Die Triskaidekaphobie.[4]
In Hinblick auf die Fragestellung ob Nervenleiden als ein Ausdruck einer Krise der Moderne gelten kann, ist es also wichtig, zu differenzieren. Neurasthenie, sprich allg. Nervenschwäche, war zwar ein unspezifisches Krankheitsbild, nichtsdestotrotz verbindet sich mit ihr eine reale Leidenserfahrung, die unabhängig von der Nervosität als ein Zeitgeist der Moderne betrachtet werden muss.[5] Auch wenn zur Zeit der wilhelminischen Ära die Begriffe nervös und „neurasthenisch“ von den Zeitgenossen oft synonym verwendet wurden, so betonte nervös doch meist eher das Moment der Überreizung, während „neurasthenisch“ für einen Zustand der Schwäche stand.[6] Vor diesem Hintergrund habe ich die vorliegende Hausarbeit in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Neurasthenie, der „reizbaren Schwäche“, als einem „Grenzzustand zwischen Krankheit und Gesundheit“[7] und fragt v. a. nach dem Wesen, dem geschichtl. Hintergrund und dem Wandel einer konstruierten Krankheit. Der zweite Teil wendet sich der Nervosität als ein Charakteristikum der beginnenden Moderne zu. Es wird gefragt nach den Gründen dieser Nervosität, die v. a. mit der neuen Raum- und Zeiterfahrung, aber auch mit der neuen Technik und der ‚Reizüberflutung‘ zusammenhängt. Dabei wird auch darauf einzugehen sein, inwieweit sich das Verständnis des Nervösen gewandelt hat. Am Ende soll in einem Fazit der Fokus weg von dem Begriff „Krise“ und hin zu dem Begriff einer „Ambivalenz der Moderne“ gelenkt werden. Auch wird im Fazit versucht werden die Neurasthenie zusammen mit ihren ‚nervösen Grundlagen‘ als eine Art Artikulation oder Versinnbildlichung eines Zeitgeistes, nämlich demjenigen der Nervosität, zu betrachten. Es ist wichtig zu zeigen, dass vor lauter Zivilisationskritik und auch intellektueller Wehleidigkeit nicht die positive Seite der Moderne vernachlässigt werden darf, die mit ihren Innovationen das Leben der Menschen entscheidend verbessert hat. Die geradezu das Thema sprengende Perspektive auf den 1. Weltkrieg hin wird ausgespart.
1. Die Neurasthenie (Nervenschwäche) als unspezifisches Krankheitsbild
1.1 Vom Werden einer konstruierten Krankheit. Leidensdruck, Leidenserfahrung und Selbstvergewisserung
Für die Beschreibung der Neurasthenie als einer Nervenschwäche ist erst einmal der Begriff der Nerven konstitutiv. Dieser wandelte sich von seiner Bezeichung für Muskeln und Sehnen seit dem 18. Jh. von Großbritannien ausgehend allmählich zu dem Begriffsfeld der Nerven als Reizübermittler. Das Gehirn mit seiner funktionellen Funktion als Schaltzentrale der Nerven trat den Menschen mehr ins Bewusstsein. Die Nerven wurden als Ausdruck des Lebensgeistes entdeckt. Jedoch standen sie noch in Verbindung mit der Muskelkraft und dem Blutkreislauf, die als Mittler der Lebenskraft fungierten. Erst mit Galvanis Entdeckung der tierischen Elektrizität (1789) traten sie in Verbindung mit derselbigen. Als im 19. Jh. dann auch noch das vegetative Nervensystem entdeckt wurde, kam es in Verbindung mit der „Elektrifizierung der Nerven“[8] zum Ende des Jahrhunderts hin zu einer regelrechten Konjunktur des Nervendiskurses, der sehr schnell eine Eigendynamik entwickelte und neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in gleichem Maße eine breite gesellschaftliche Basis hatte.[9] Eugen Diesel, der Sohn des Erfinders Rudolf Diesel, sprach neben der bekannten Formel vom „nervöse[n] Zeitalter“ auch in Hinblick auf die wilhelminische Epoche von der als „energetisches Zeitalter“ zu verstehenden Zeit, in der „die wachsende Kunst, Kraftquellen zu erschließen, eine Zwangshypnose“ bewirkt habe, „immer mehr Kraft zu entfesseln“, sei es bei Motoren oder im Menschen.[10] In diesen größeren Diskurs ist der mit diesem verbundenen Neurastheniediskurs eingebettet, wenn man nach dem Erfolg der Nervenschwäche als Krankheitsbild fragt.[11]
Es war der New Yorker Nervenarzt George Miller Beard (1839-1883), der erstmals 1880 mit seiner gleichnamigen Monographie über die Neurasthenie als eigenständige Krankheit sprach, die durch die moderne Zivilisation hervorgerufen werde.[12] Beard war der Sohn eines Predigers, der schon früh an Angstzuständen und Hypochondrie litt. Von seiner eigenen Leidenserfahrung, die vom Hin und Her zwischen Sündenangst und dem Drang nach Lebensgenuss geprägt war, wurde er so sehr inspiriert, dass er viele derjenigen Symptome, die er an sich selbst beobachtete, in sein Neurastheniekonzept aufnahm. Die Abkehr von der väterlichen Frömmigkeit hatte eine Emanzipation zur Folge, die sich in alternativen Lebensentwürfen äußerte. Ein eigentlich der Seelsorge vorbehaltener Bereich reservierte Beard nun ebenso sehr für die Medizin. Hinzu kam, dass sich Beard der Elektrizität und ihren therapeutischen Chancen zuwandte. In seiner Behandlung der von ihm angenommenen Neurasthenie als Zivilisationskrankheit spielte die Elektrotherapie eine wichtige Rolle. Er wandte darüber hinaus die Elektrizität als Sinnbild für seine neu entdeckte Krankheit an, wenn er 1881 schrieb, dass „Edisons elektrisches Licht […] die bestmögliche Illustration der Wirkungen der modernen Zivilisation auf das Nervensystem“ gebe. Denn wenn „neue Funktionen“ an den menschlichen Stromkreis angeschlossen würden, wie es die moderne Zivilisation ständig tue und auch erfordere, fingen bei gleichbleibender Energie die schwächeren Glühbirnen an zu flackern oder gingen ganz aus: „Dies ist die Philosophie der modernen Nervosität.“[13] Auch wenn solche Sätze aus heutiger Sicht eher etwas herbeigeholt anmuten, so darf doch nicht der Hintergrund auf dem sie möglich wurden vergessen werden, der eben aus einer tatsächlichen Leidenserfahrung bestand, der sich zu nähern versucht wurde.[14]
Die Schwäche des Beard‘schen Neurastheniekonzeptes lag sicherlich in seiner nur halbwissenschaftlichen Grundlage. Es kann nicht unterschlagen werden, dass ein Großteil des Entwurfes auch auf Suggestion beruhte und empirischer, klar definierter Symptomatik, Ätiologie und Pathologie entbehrte. Die Krankheit wurde vielmehr in ihrer Pathogenese beschrieben und wie z. B. aus Paul Bergers Monographie hervorgeht, erfolgte die Diagnose derselbigen meist lediglich per exklusionem, denn „wo wir nicht allein einen vollen Einblick in die Symptome der Krankheit besitzen, sondern sie auch scharf und prägnant von den ihnen verwandten Nervenleiden scheiden können“, meint er, „ist die Behandlung der Neurasthenie eine der dankbarsten und aussichtsreichsten für den Arzt und den Kranken […].“[15] Eine Schönfärbung des Unspezifischen wird hier sehr deutlich, denn die Abgrenzung zu anderen Krankheiten ähnlicher Art, wie z. B. denjenigen der Hypochondrie, Melancholie oder Hysterie waren meist fließend. So heißt es z. B. noch 1907 in Meyers Konversationslexikon: „[…] im allgemeinen leiden dagegen Frauen mehr an jener Art der N., die als Hysterie bezeichnet wird. Übrigens kommen Zwischen- und Übergangsformen zwischen Neurasthenie und Hysterie vor.“[16] Nichtsdestotrotz kam die Manifestierung des Neurastheniebegriffs v. a. aus der Sprechstundenpraxis, was noch einmal in sehr evidenter Weise für den Erfahrungsgehalt dieses Krankheitsbildes spricht.[17] Wenn man bedenkt, dass die zunehmende Individualisierung seit der zweiten Hälftes des 18. Jh.s zu neuen Formen der Bewusstseins- u. Gefühlseinstellungen führte[18] und die Neurasthenielehre in dem Zusammenhang als Krisendeutung des bürgerlichen Individuums[19] verstanden werden kann, dann wird klarer, warum die Neurasthenie, deren Besonderheit ja eben gerade darin bestand, dass sie als ein bestimmtes durch die moderne Zivilisation bedingtes Krankheitsbild galt,[20] eine Rezeption erfuhr, die von dem Bürgertum ausgehend auch auf breitere Gesellschaftsschichten ausstrahlte. Nimmt man dann noch das korrespondierende Verhältnis zwischen der Konjunktur der Elektrizitätslehre und den Erfahrungen der Alltagswelt in den Blick,[21] dann wird zusätzlich noch einmal deutlicher weshalb Beard mit seiner Neurasthenie eine derart breite Rezeption erfuhr, da er auf den Begriff brachte, wonach dringend Bedarf bestand.
Die Rezeption in Europa und insbesondere in Deutschland war keineswegs unkritisch. So wurde v. a. das Ausufernde und Unexakte des Neurastheniebegriffs bemängelt.[22] Die Krankheit erschien als eine Art Universalneurose, bei deren Beschreibung oft Paradigmen aus verschiedenen Bereichen miteinander kombiniert wurden.[23] Aber auch die von Beard propagierte Elektrotherapie wurde zusehends kritischer gesehen. So stellt Wilhelm Erb in seinem Handbuch der Elektrotherapie von 1882 die „Wirkung des psychischen Eindrucks“ heraus und fragt, „wie viel bei den Kranken auf Einbildung und psychische Erregung, und wie viel wirklich auf die Stromwirkung zu schieben“[24] sei. Generell dominierte ein Grundmuster innerhalb der deutschen Rezeption der Neurasthenie, das darin bestand, sich erst einmal von Beards Konzept zu distanzieren und dann doch das Meiste davon zu übernehmen.[25] Aus dem Grund fand sie auch immer mehr euphorische Aufnahme. Paul Julius Möbius schrieb, dass der „neue Name“ sowohl „Aerzte“ als auch „Laien“ bezaubere, „sodass rasch die ‚neue Krankheit‘ Bürgerrecht erhielt“. Richard v. Krafft-Ebing meinte im Jahr 1900 Beards Arbeit sei „trotz ihrer großen Mängel wie eine Offenbarung auf medizinischen Gebiet“ erschienen und selbst Otto Dornblüth, der Verfasser des letzten großen Neurasthenielehrbuchs (1911), stellte die „überall“ gefundenen und „in großer Zahl […] seiner Schilderung entsprechenden Krankheitsbilder“ heraus, es sei gerade so gewesen, „als ob die Welt auf den Namen und die Abgrenzung der Krankheit gewartet hätte.“[26]
Doch die Neurasthenierezeption blieb ein vorübergehendes Phänomen. Gut dreißig Jahre lang, von 1880 bis zum ersten Weltkrieg, stellte sie eine mehr oder weniger ernst zunehmende Option dar, bis sie im Zuge des Weltkriegs allmählich als Krankheitsbild aus den Köpfen verschwand. Sie ging in der Psychoanalyse und deren Neurosenlehre von Sigmund Freud auf, die als wissenschaftlich fundierter anzusehen war und ja noch bis heute Bedeutung besitzt. Während der Name Freud sich im kollektiven Gedächtnis verankert hat, ist der Name Beard aus ihm nahezu verschwunden. Hans-Georg Hofer beschreibt die Neurasthenie in einem Aufsatz von 2005 folgendermaßen: „Neurasthenie war das, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt Nervenärzte und Psychiater als Neurasthenie definierten, konstruierten und in einen Bedeutungszusammenhang überführten.“[27] Dem konkreteren Erscheinungsbild der Neurasthenie als Krankheit wird sich ab dem nächsten Teilkapitel zugewendet.
1.2 Die akute Neurasthenie
Die Krankheit der Neurasthenie und das Wissen darüber haben ihren Ursprung, sieht man von Beard ab, in den unterschiedlichsten Literaturen, Anamnesen und Krankengeschichten. Dieser reicht über Fachdarstellungen von Ärzten über literarische und autobiographische Texte bis hin zu den Werbebroschüren von Heilstätten.[28] War die Neurasthenie in ihren Anfängen gleichsam ein Privileg der geistig arbeitenden Menschen, die sich so der besonderen Schwere ihrer Arbeit vergewissern konnten, so wurde sie v. a. um 1900 herum auch den Arbeitern zugestanden, da einsichtig wurde, dass auch die zunehmende Mechanisierung in den Fabriken eine erhöhte Nervenbelastung darstellte.[29] Leubuscher und Bibrowitz, zwei Assistenzärzte der Beelitzer Heilstätten, schrieben 1905 in einem Zeitungsartikel, dass wenn auch „vor einer Reihe von Jahren selbst die besten Kenner der Neurasthenie […] die unteren Stände wenig berücksichtigt“ hätten, so doch „jetzt eine gewaltige Verschiebung dieser Verhältnisse mit Sicherheit zu konstatieren“[30] sei. Auch Simon Ziegelroth gibt zu bedenken: „Ja, die Krankheit, die bis vor Kurzem noch ein Vorrecht der sogenannten oberen Zehntausend war, sie ist jetzt […] auch zum Volke herabgestiegen“[31]. Radkau nennt dieses Phänomen in einem Aufsatz von 1994 zur wilhelminischen Epoche als nervöses Zeitalter die „Demokratisierung“[32] der Neurasthenie. Diese bildet eine wesentliche Grundlage dafür sich der Neurasthenie als einer Krankheit mit gesellschaftlicher Breitenwirkung zu nähern. In der Statistik der preußischen Irrenanstalten wurden die Neurastheniker seit 1902 gesondert aufgeführt. So wuchs ihre Zahl bis 1910 von 12492 auf 20868. Die Neurastheniker landeten jedoch in der Regel nicht in Irrenanstalten, sodass ihr allergrößter Teil statistisch nicht nachweisbar ist. Private Nervenheilstätte, die zum Ende des 19. Jh. hin in immer größeren Zahlen gegründet wurden – um 1900 wurden an die 500 angenommen –, stellten einen wichtigen Anlaufpunkt für die Neurastheniker dar.[33]
Doch nun zum Krankheitsbild selbst. Entgegen Beards Behauptung, dass besonders die Amerikaner von der Neurasthenie betroffen seien,[34] da sie für ihn das am höchsten zivilisierte Volk und damit besonders für die Neurasthenie prädestiniert seien, wurde immer wieder betont, dass diese Annahme falsch sei und sich die Krankheit vielmehr in unterschiedlicher Weise äußere: „Indess hat sich gezeigt, dass die Zahl solcher Leidenden in Deutschland wie in den anderen Kulturstaaten nicht geringer ist, sondern dass nur die Symptome der Krankheit in demselben Grade von der anderer Länder abweichen wie die Sitten und Gewohnheiten derselben überhaupt.“[35] Dies ist schon ein Indiz für die Symptomenvielfalt, die mit der Neurasthenie verbunden ist.
Voraussetzung für diese Symptomenvielfalt ist sicherlich auch eine Entwicklung, die sich, laut Heinrich Averbeck, Mitte der 1880er Jahre vollzog und die das erkrankte Idividuum unter „Berücksichtigung der Verhältnisse des Kranken zu seiner Gesamtumgebung“ ins Zentrum der ärtzlichen „Anschauung“ stellte. „Während bis dahin die pathologisch-anatomische Krankheit, das erkrankte Organ Objekt der Behandlung“ gewesen sei, sei es „nunmehr das kranke Individuum geworden.“ Auch weiterhin hätte „die pathologisch-anatomische Richtung […] der physiologischen zu weichen.“[36] In diesen Gesamtzusammenhang ist die akute Neurasthenie, die sowohl Averbeck als auch Baumgarten[37] beschreiben, eingebettet. Baumgarten definiert sie wie folgt: „Plötzlicher Zusammenbruch der Geistes- und Körperkräfte nach starken traumatischen Insulten oder Gemütsbewegungen schwererer Art.“[38] Ein traumatisches Erlebnis, das die Neurasthenie auslöst, ist für die akute Form derselbigen also charakteristisch. Darüberhinaus unterscheidet er die „Cerebrasthenie“, die das Gehirn und seine Tätigkeit beanspruchen würde, die „Neurasthenia spinalis“, die mit dem Rückenmark in Verbindung stünde und die „Neurasthenia cerebrospinalis“, welche eine Kombination aus der ersten und der zweiten Art darstelle.[39] Außerdem ließe sich zwischen einem „Erschöpfungstypus“ und einem „Erregungstypus“ unterscheiden.[40] Diese Unterscheidung ist wohl Folge einer im Laufe des Neurastheniediskurses ablaufenden Akzentverschiebung, die sich von der Schwäche hin zur Überreizung ausbildete und den Fokus von der Ermüdbarkeit auf den Wankelmut lenkte.[41] Laut Radkau sei dies ein Ausdruck dafür, „wie der Neurastheniebegriff der Wissenschaft mehr und mehr in den Sog des populären Nervositätsbegriffs“ geraten sei und ein Sinnbild für den „atmosphärischen Wandel der Zeit“, der sich „von der ‚großen Depression‘ zur Hochkonjunktur, von der Ära der Sozial- zu der der ‚Weltpolitik‘“ hin zu demjenigen „des Weltkrieges“[42] entwickelte. Was nun die konkrete Symptomatik anbelangt, so lässt sich aus der Fülle der Symptome herausstellen, dass für die akute Neurasthenie insbesondere geistige Abwesenheit, physische Kraftlosigkeit, starke Kopfschmerzen, Herzrasen, leichte Bewusstseinstrübungen mit Sinnestäuschungen und Wahnideen sowie ein träumerischer Zustand des Betroffenen charakterischtisch sind.[43] Eine „nach dem ersten Anfalle von akuter Neurasthenie […], wenn auch langsam sich vollziehende, so doch vollständige Wiederherstellung der geistigen und körperlichen Kraft“[44] trat, nach Baumgarten, in der Regel ein. Die Überreizung und auf den Charakter sich auswirkende Krankheitskonstellation war mehr für die nun folgende chronische Neurasthenie ausschlaggebend.
1.3 Die chronische Neurasthenie
In Hinblick auf die nun folgende Betrachtung der chronischen Neurasthenie ist erst einmal wichtig zu betonen, dass bei dieser zweiten Form das auslösende Moment der Schwäche im Vergleich zu derjenigen der akuten Neurasthenie nicht mehr so deutlich hervortritt. Sie erscheint in einem weit größeren Maße psychisch geprägt, sodass der Akzentwechsel vom Schwächezustand hin zu demjenigen der Überreizung hier besonders evident erscheint. Darüberhinaus kommt hier ein neuer Aspekt zum tragen, nämlich derjenige des Sexuellen.
Schon Beard hatte sieben Arten der Neurasthenie unterschieden: die zerebrale, die spinale, die digestive, die traumatische, die hysterische, die Hemineurasthenie sowie die sexuelle.[45] Die sexuelle Neurasthenie nennt Beard dabei „fast die wichtigste unter allen Neurasthenieformen“[46] und tatsächlich ist wie Radkau aus „Hunderte[n] von Patientengeschichten“ herausgearbeitet hat der „harte [Wesens]kern“ der Neurasthenie v. a. in der „immer wiederkehrenden Vorstellung eigener Unzulänglichkeit und Energielosigkeit“ sowohl „im Beruf“ als auch „im Sexualleben“[47] zu suchen, die dann mit der Zeit eine leichte Erregbarkeit nach sich zog. Es waren zumindest was die chronische Neurasthenie anbelangt, gerade nicht so sehr die äußeren Faktoren, die die Krankheit, wie auch immer sie sich individuell dann auch äußerte, hervorriefen,[48] sondern vielmehr die je persönlichen Probleme, die die Krankheit bedingten. Eine Klage eines Heizungsfabrikanten aus Chicago kann als stellvertretend für die Klagen sehr vieler Neurastheniker gelten: „Seine hauptsächlichen psychischen Beschwerden sind, daß er durchaus nicht freudig an seine Braut denken könne […], ferner daß er kein Interesse für das Geschäft habe“[49]. Baumgarten, der definiert, dass sich bei der chronischen Neurasthenie „die Symptome […] allmählich“ entwickeln würden „und erst nach und nach […] das Krankheitsbild zustande“[50] kommen würde, so dauere es „nicht selten […] Jahre, bis sich die Neurasthenie zu ihrer vollen Höhe“[51] entwickele, konstatiert einen „Stimmungswechsel“ als „eine natürliche Folge“ der „Schwächezustände.“[52] Die Krankheit könne darauf hinauslaufen, dass der Betroffene „seine ganze Personalität verändern“[53] würde. Das Persönlichkeitsbild des neurasthenischen Patienten lässt sich v. a. durch drei statische psychische Eigenschaften beschreiben: durch Willensschwäche (Abulie), Überempfindlichkeit (Hyperästhesie) und Affektlabilität.[54] Interessant dabei ist, dass bei vielen Neurasthenikern anscheinend eine Art Wandel von Schwäche zu Stärke auftrat, wenn sie über ihre Schwäche reden konnten und durften. Baumgarten nennt es „die Redegewandtheit, welche die Neurasthenischen entwickeln, wenn sie eine Beschreibung ihrer Krankheit geben.“[55] Schaut man auf die genannten Ursachen der Krankheit, so springt das angeführte „hereditäre Moment“[56] ins Auge, also gleichsam eine Veranlagung zur Neurasthenie, die vererbt sein kann. Auch werden das „moderne Schulwesen“, in Anlehnung an die zum Ende des 19. Jh.s stattfindende Diskussion über die ‚Schulüberbürdung‘, „anhaltender Kummer, Furcht oder langwierige Krankheiten“ sowie Drogen, seien es ‚harte‘ oder Alkohol und Tabak, genannt.[57] Bedenkt man, dass gegen Ende des 19. Jh.s die Grundlagen für die heutige moderne Konsumgesellschaft gelegt wurden, findet man viele der heutigen gesellschaftlichen Probleme auch schon damals wieder.
Ein sehr eingängiges Erscheinungsbild eines Neurasthenikers findet sich in einer Novelle von Martin Beradt von 1913.[58] Dort erscheint der Neurastheniker unabhängig von der Kultur, ohne Zivilisationszusammenhang als ein fast verrückt werdender Einzelgänger, der insbesondere von folgenden Aspekten geprägt wird: Unruhe, Sprunghaftigkeit, Unentschlossenheit, Selbstfokussierung, Zwanghaftigkeit sowie Verheimlichung des Leidenszustandes. Doch auch das sexuelle Moment als unbefriedigtes Verlangen findet sich wieder. Nachdem sein „Bedürfnis nach Einsamkeit“[59] nachgelassen hat, stellt er eine Wirtschafterin ein, der er sich einer Phantasie hingibt: „Und nebenan stand eine Person von vierzig Jahren, ein Frauenzimmer von einer sicher üblen Vergangenheit, vielleicht von einer schmutzigen Phantasie, eine wilde, strotzende Megäre, ein Weib, das man in ein öffentliches Haus hineinstecken sollte […].“[60] Oder auch später fragt er sich, ob „sie die Augen zu“ mache, „war ihr Mund geöffnet? Schlugen ihre Brüste zu mir hoch? Ihr Hals war so weiß, daß ich für ihn Erbarmen hatte mit ihr und sie trinken ließ von meiner Kraft. Ach, wie sie um mich stöhnte und ich in ihr.“[61] Zu diesen sexuellen Phantasien kommen Gewaltphantasien. Bei einem Hausbesuch von Bekannten sagt er „einer Frau, wie hübsch ihr Schmuck sei“ und denkt sich „dabei bloß, wenn ich ihn doch lösen und mit seiner Nadel ihr den Hals durchstechen dürfte.“[62] All diese wilden Phantasien bleiben jedoch Phantasien. Nichtsdestotrotz begibt er sich am Ende, nachdem ihm der Hausbesuch von den Bekannten nicht recht gefallen hat, wieder in seine selige Einsamkeit, die er grüßt: „[…] die Arme in die Luft werfend, grüßte ich sie, meine geheime Köstlichkeit, ihre tiefe Güte, still und selig meine Einsamkeit.“[63] So wird im Allgemeinen immer mehr deutlich, dass sich der Neurastheniediskurs und die allgemeine Nervosität gegenseitig bedingten, aufeinander Bezug nahmen und inspirierten.
2. Nervosität als ein Zeitgeist der Moderne
2.1 Allgemeines zur modernen Nervosität
Die beginnende Moderne hat sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht das Leben der Menschen von Grund auf verändert. Das Phänomen der Nervosität als ein Eindruck des allgemein empfundenen „Hasten und Jagens“ war neu, dasjenige der Nervosität als Nervenschwäche war alt und reichte, wie schon erwähnt, bis in die Antike zurück. Bei der Betrachtung dieser Nervosität als Nervenschwäche manifestiert sich mitunter der Eindruck, dass diese ab der beginnenden Moderne mit ihren diversen Innovationen erstmals als Massenphänomen entdeckt wurde, da das Neue (wie z. B. das „Tempo“ bzw. die allg. Beschleunigung des Lebens und seiner Prozesse) aufregend auf den menschlichen Organismus und die menschliche Psyche (so z. B. bei den um 1900 erfundenen Achter- sowie Berg-und-Tal-Bahnen[64] ) wirkte. Die Folge, so könnte man meinen, war eine sowohl in positiver als auch in negativer Weise euphorisierte Betrachtungsweise der modernen Phänomene, die mit zunehmender Gewöhung an diese abebbte und sich mit der Zeit normalisierte. Dies ist auf jeden Fall eine Weise wie man sich den Zusammenhang zwischen der Konjunktur des Nervösen und den modernen Erscheinungen plausibel herleiten kann, auch wenn im Einzelnen genauer auf die unterschiedlichen Wirkungszusammenhänge Acht gegeben werden müsste. Doch dies kann hier nicht geleistet werden, sondern es sollen einige Aspekte verdeutlicht werden, die für die nervöse Zeiterfahrung charakteristisch sind. Bevor sich dem im Einzelnen ein wenig zugewendet wird, will ich erst darauf hinweisen, dass die Kategorie Nervös eine Ambivalenz in sich trägt, die auf der einen Seite ein krankhafter Zustand werden konnte, aber auf der anderen Seite auch als eine Größe wahrgenommen wurde, die ein kraftvolles und energisches Auftreten verhieß. Bei Averbeck wurde das schon deutlich („ nervöse Energie“) und in Ausdrücken wie „nervös gesund“ oder „gebändigte neuropathische Veranlagung“ wird das sehr sinnfällig.[65] Möbius schrieb: „[…] alle Neurasthenischen sind nervös, aber nicht alle Nervöse sind neurasthenisch“[66]. In der imperialistischen Weltmachtpolitik des Wilhelminismus tritt dieses Moment deutlich zutage, bei Wilhelm II. und seiner Führungsriege scheint das stilbildend gewesen zu sein. Darauf werde ich jedoch nicht weiter eingehen, da dieses sich unmittelbar mit dem Weltkrieg und seinen Gründen verbindet, was über die Fragestellung der Arbeit hinaus gehen würde.
Zwei Dinge müssen zusätzlich bedacht werden. Zum einen, dass Nervosität nicht nur eine Frage der neuen Entwicklungen, Entdeckungen und Erfindungen gewesen ist, sondern dass sie ebensosehr auch aus Erinnerungen und Erwartungen resultierte.[67] Man könnte geradezu von einem nostalgischen Element der Nervosität sprechen. Zum anderen gewann das nervöse Zeitalter seinen Stil nicht nur in der beschleunigten und intensivierten Arbeit (Akkordarbeit z. B.), sondern auch im Genuss (Sport mit seiner Parole „schneller, höher, stärker“, Film, Konsum etc.).[68] Darüberhinaus muss man den Aspekt der Kollektivierung sehen, also die Ausweitung eigener Erfahrung auf Kollektive und das damit verbundene, einheitsstiftende Identitätsangebot an Viele.[69] Hinzu kommt, dass die Modernisierung ja nicht als ein sprunghafter Wandel zu verstehen ist, sondern vielmehr innerhalb der Grenzen eines sukzessiven, allmählich ablaufenden Prozesses. Dass Erfindungen, wie z. B. die Glühbirne, die Lebensweise der Menschen auch in kürzerer Zeit stark wandeln können, zeigt die Modernisierung als einen Ablauf von Modernisierungsschüben an.[70] Diese Entwicklung zog diverse Aneignungs-, Verweigerungs- und Gewöhnungsprozesse nach sich.[71] Sie äußerten sich z. B. in der Kulturkritik. Wenn man das alles bedenkt, ist die ‚Gefahr‘ geringer die Nervosität zu einseitig als einen Krisenausdruck der Moderne zu betrachten.
2.2 Neue Erfahrungen, neues Bewusstsein: Tempo, Technik, Lärm und Reizüberflutung
Ich werde mich nun im Folgenden ein wenig den konkreten Bezugspunkten des Nervösen zuwenden. Zunächst einmal dem „Tempo“ und der Technik. Der Tempo-Begriff meinte ursprünglich lediglich eine angemessene Geschwindigkeit und wurde ab der beginnenden Moderne, insbesondere ab der wilhelminischen Epoche, immer mehr mit einer stattfindenden Beschleunigung assoziiert.[72] Die Dynamisierung der Raumerfahrung durch neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Dampfschiff) und neuer Kommunikationsmittel (Telefon, Telegraph)[73] hinterließ einen tiefen Eindruck bei den Menschen, bei denen sich eine neue Wirklichkeitswahrnehmung entwickelte. So brauchte man 1875 mit dem Zug von München nach Berlin noch 18 Stunden bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36 Stundenkilometern. 1907 erreichte, nachdem gut 10 Jahre vorher (1892) die preuß. Schnellzuglok mit einer Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eingeführt worden war, ein Zug einen Geschwindigkeitsrekord von 154 ½ km/h. Da die Fahrtechnik noch in ihren Anfängen lag, wurde die Temposteigerung aufgrund der starken Vibrationen mit einer erhöhten Nervenanspannung beim Fahrdienstpersonal erkauft. Auch die Dampfschifffahrt legte an Tempo zu. So errang 1897 der deutsche Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm der Große“ das „Blaue Band“ für die schnellste Fahrt zwischen Europa und den USA.[74] „Alle“ deutschen Schnelldampfer „hatten riesige Expansionsdampfmaschinen […] und litten bei hohen Geschwindigkeiten unter beträchtlichen Vibrationen.“[75] So war auch hier die Nervenanspannung in Form einer stetigen Unruhe erhöht. Doch es gab auch Gegenstimmen. So stellte F. Martius fest, dass es „den modernen Menschen“ nicht „nervös“ mache, wenn er „von Rostock nach Berlin in 4 Stunden […] gelangen“ könne, sondern: „Nervös werden wir dagegen fast alle, wenn wir, um von Rostock nach Roebel (kleine Stadt im südlichen Mecklenburg) zu gelangen, 5 Stunden in der Klingelbahn sitzen müssen.“[76]
[...]
[1] Alfred Baumgarten: Neurasthenie. Wesen Heilung Vorbeugung, Wörishofen 1903, S. 3.
[2] Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München, Wien 1998, S. 68 f. Radkau zitiert hier aus dem eben von mir selbst zitierten Werk von Baumgarten. So heißt es dort an einer Stelle, „dass Cholera und Pest nicht solches Unheil im Menschengeschlechte anrichten wie Neurasthenie. Langsam zwar, aber sicher aufreibend nagt sie am Marke der Menschheit, ihr einen erbitterten und scheinbar aussichtslosen Kampf aufzwingend gegen diesen unheimlichen Feind.“ (Baumgarten (1903), S. 33.)
[3] Otto Erich Hartleben: Büchmann. Geflügelte Worte, München 1959, S. 209. Zit. n. Radkau (1998), S. 54.
[4] Liederbuch für Deutsche Aerzte und Naturforscher. Gesammelt und geordnet von Dr. med. Korb-Döbeln, Zweiter Abschnitt: Ambrosia und Nektar, Hamburg 1892, S. 408-409. Zit. n. Wolfgang U. Eckart: „Die Wachsende Nervosität Unserer Zeit“. Medizin und Kultur um 1900 am Beispiel einer Modekrankheit, in: Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch u. Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 2 Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 207-226, hier S. 211 f. Auch der Arzt Paul Berger z. B. spricht in seiner Monographie zur Nervenschwäche von den unterschiedlichen Phobien, die durch die Neurasthenie bedingt seien (vgl. Paul Berger: Die Nervenschwäche (Neurasthenie). Ihr Wesen, ihre Ursachen und Behandlung, 4. verbesserte Aufl., Berlin 1886, S. 7 f.).
[5] Vgl. Joachim Radkau: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte, in: GG 20 (1994), H. 2, S. 211-241, hier S. 214.
[6] Vgl. ebd.
[7] Radkau (1998), S. 11.
[8] Volker Roel>
[9] Vgl. Radkau (1994), S. 224 f.
[10] Eugen Diesel: Jahrhundertwende. Gesehen im Schicksal meines Vaters, Stuttgart 1949, S. 65, 137, 175. Zit. n. Radkau (1994), S. 234.
[11] Vgl. allgemein zu diesem Absatz Radkau (1998), S. 27-30.
[12] George M. Beard: Die Nervenschwäche (Neurasthenia). Ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung, Leipzig ²1883 [amerikanische Originalausgabe urspr. 1880]. So heißt es in Beards „Neurasthenia“ direkt zu Anfang, „daß der erste und wesentliche Grund der Nervosität in der modernen Zivilisation und den sie begleitenden Umständen liegt.“ (Beard (1883), S. 6. Zit n. Radkau (1998), S. 53.)
[13] George M. Beard: American Nervousness. Its Causes and Consequences, New York 1881, ND 1972, S. 98 f. Zit n. Radkau (1998), S. 51 f.
[14] Vgl. allgemein zu diesem Absatz Radkau (1998), S. 49-52.
[15] Berger (1886), S. 3.
[16] Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6. gänzlich neubearbeitete u. vermehrte Auflage, 14. Bd. Mittewald bis Ohmgeld, Leipzig u. Wien 1907, S. 529.
[17] Vgl. Radkau (1994), S. 226.
[18] Vgl. Roelcke (1999), S. 18.
[19] Vgl. Roelcke (1999), S. 21.
[20] Das Leiden der Menschen an sich selbst oder an der Kultur ist selbstverständlich viel älter als der Neurastheniediskurs und reicht bis in die Antike zurück. Es läßt sich, so könnte man es auf den Punkt bringen, von einer Grundkonstante menschlichen Lebens sprechen, welche durch die Zeiten hindurch wahrgenommen und verarbeitet wurde. Doch mit Beard und seinem Neurastheniekonzept wurde dem in besonderer Weise Ausdruck verliehen und ein Identitätsangebot geschaffen. (Vgl. hierzu Esther Fischer-Homberger: Die Neurasthenie im Wettlauf des zivilisatorischen Fortschritts. Zur Geschichte des Kampfs um Prioritäten, in: Maximilian Bergengruen, Klaus Müller-Wille u. Caroline Pross (Hgg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010, S. 23-69, hier S. 23-29.).
[21] Vgl. Roelcke (1999), S. 111.
[22] Vgl. Fischer-Homberger (2010), S. 56.
[23] Neben die bereits erwähnten Bereiche der Elektrizität und Technik, tritt häufig das insb. auch mit dem Kapitalismus verbundene Beschreibungsparadigma des „Hasten[s] und Jagen[s]“. Auch wird häufig der von Darwin geprägte und dann vom Sozialdarwinismus übernommene Ausdruck vom „Kampf[e] ums Dasein“ herangezogen. Heinrich Averbeck, ein Arzt und Besitzer einer Heilanstalt in Laubbach a. Rh., nennt ihn in einem Artikel in der deutschen Medizinal-Zeitung von 1886 gleich viermal auf aufeinander folgenden Seiten (vgl. Heinrich Averbeck: Die akute Neurasthenie, die plötzliche Erschöpfung der nervösen Energie. Ein ärztliches Kulturbild, in: Deutsche Medizinal-Zeitung 7 (1886), S. 293-296, hier auf den S. 293, Sp. 2, S. 294, Sp. 1 u. 2 u. S. 295, Sp. 1). Schon 1893 erschien eine umfangreiche Bibliographie zur Neurasthenie auf gut siebzehn, eng beschriebenen Seiten (vgl. Franz Carl Müller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie, Leipzig 1893, S. 1-18. So bei Fischer-Homberger (2010), S. 56.).
[24] Wilhelm Erb: Handbuch der Elektrotherapie (=Handbuch der allgemeinen Therapie, hg. v. Hugo W. v. Ziemssen, Bd. III), Leipzig 1882, S. 577 f. Zit. n. Fischer-Homberger (2010), S. 57.
[25] Vgl. Radkau (1998), S. 55.
[26] Paul Julius Möbius: Neurologische Beiträge, H. 2, Leipzig 1894, S. 62. Zit. n. Fischer-Homberger (2010), S. 55. Richard v. Krafft-Ebing: Nervosität und neurasthenische Zustände, Wien ²1900, S. 34. Zit n. Radkau (1998), S. 54. Otto Dornblüth: Die Psychoneurosen. Neurasthenie, Hysterie und Psychasthenie, Leipzig 1911, S. 10. Zit. n. ebd.
[27] Hans-Georg Hofer: Nerven, Kultur und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte, in: Frank Stahnisch und Florian Steger (Hgg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005, S. 225-244, hier S. 244.
[28] Vgl. Hofer (2005), S. 233.
[29] Vgl. Radkau (1994), S. 216.
[30] P. Leubuscher u. W. Bibrowitz: Die Neurasthenie in Arbeiterkreisen, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 31 (1905), Nr. 2, S. 820 ff. Zit. n. Radkau (1994), S. 216 f.
[31] Simon Ziegelroth: Die Nervosität unserer Zeit, ihre Ursachen und Abhilfe. Eine sozialhygienische Studie, Stuttgart 1895, S. 1. Zit. n. Fischer-Homberger (2010), S. 55.
[32] Radkau (1994), S. 217.
[33] Vgl. zu den letzten drei Sätzen Radkau (1994), S. 218 f. Die Statistikzahlen beziehen sich auf F. Kleeis: Irrenvorsorge durch die Sozialversicherung, in: Volkstümliche Zeitschrift für die praktische Arbeiterversicherung 24 (1918), Nr. 15 v. 1.-8., S. 171. Sowie C. Pelman: Über die Einrichtung von Sanatorien für Nervenkranke, Bonn 1900, S. 444. Nach Radkau (1994), S. 218.
[34] So z. B. besonders evident in dem von Beard nach seiner Neurasthenia von 1880 publizierten Monographie von 1881: American Nervousness. Its Causes and Consequences, New York 1881. Schon der Titel des Werkes ist sprechend. Es wurde auch nicht übersetzt, sondern liegt nur in englischer Sprache vor. Die Betonung der Neurasthenie als eine v. a. amerikanische Krankheit mag ein Grund dafür gewesen sein.
[35] Berger (1886), S. 15.
[36] Averbeck (1886), S. 293, Sp. 1 f.
[37] Vgl. Baumgarten (1903), S. 29, 35-38.
[38] Baumgarten (1903), S. 29. Auch Averbeck nennt, wie es aus der Überschrift seines Zeitschriftenartikels hervorgeht, die „akute Neurasthenie“ eine „plötzliche Erschöpfung der nervösen Energie“ (Averbeck (1886), S. 293, Sp. 1.). Interessant hierbei ist, dass die Nervosität hier erst einmal positiv als „Energie“ belegt ist. Ein Aspekt auf den im zweiten Teil der Arbeit noch einzugehen ist.
[39] Vgl. Baumgarten (1903), S. 28.
[40] Vgl. Baumgarten (1903), S. 30.
[41] Vgl. Radkau (1998), S. 65.
[42] Ebd.
[43] Vgl. Baumgarten (1903), S. 37 f.
[44] Baumgarten (1903), S. 38.
[45] Zur sexuellen Neurasthenie hatte Beard schon kurz nach seiner Neurasthenia eine eigene Monographie veröffentlicht. Diese wurde 1885 übersetzt: George M. Beard: Die sexuelle Neurasthenie, ihre Hygiene, Ätiologie, Symptome und Behandlung, Wien 1885. Die Unterscheidung der verschiedenen Arten der Neurasthenie findet sich auf der Seite 20 f. Vgl. Fischer-Homberger (2010), S. 47.
[46] Beard (1885), S. 24. Zit. n. ebd.
[47] Radkau (1998), S. 71. Vgl. auch S. 80 auf der es heißt, dass der „Kern der Neurasthenie […] nicht in körperlichen Beschwerden, sondern in Frustration und dem Gefühl der Unzulänglichkeit“ bestünde.
[48] Die akute Neurasthenie macht z. B. Averbeck an den „Schädigungen der Gesundheit im Leben des modernen Menschen“ fest. Außerdem gibt er ein „ärztliches Kulturbild“ ab (Averbeck (1886), S. 294, Sp. 1 u. S. 293, Sp. 1.).
[49] Universitätsarchiv Tübingen, Zentrales Krankenblatt-Depot (ZKD) 441/1909 (1902). Zit. n. Radkau (1998), S. 71.
[50] Baumgarten (1903), S. 29.
[51] Baumgarten (1903), S. 39.
[52] Baumgarten (1903), S. 42.
[53] Baumgarten (1903), S. 45.
[54] Vgl. Christina Schröder: Die rationale Wachpsychotherapie und das Krankheitsbild Neurasthenie, in: Horst Gundlach (Hg.): Arbeiten zur Psychologiegeschichte, Göttingen 1994, S. 169-175, hier S. 173.
[55] Baumgarten (1903), S. 31.
[56] Berger (1886), S. 21.
[57] Berger (1886), S. 24, S. 29, vgl. S. 34 f.
[58] Martin Beradt: Der Neurastheniker [urspr. 1913, später unter dem Titel „Die Zuflucht“], in: ders.: Die Verfolgten. Novellen, Königstein/Ts. 1979, S. 97-116.
[59] Beradt (1979), S. 99.
[60] Beradt (1979), S. 105.
[61] Beradt (1979), S. 114.
[62] Beradt (1979), S. 110.
[63] Beradt (1979), S. 116.
[64] Vgl. Radkau (1994), S. 233.
[65] Vgl. zu den letzten zwei Sätzen Schröder (1994), S. 170. Noch am Anfang des Jahrhunderts, 1806, war in der Krünitz’schen Enzyklopädie nervös gleichbedeutend mit „nervig“, also „viele und starke Nerven habend“. Gegen Ende des Jahrhunderts meinte nervös meist das genaue Gegenteil (Vgl. Radkau (1998), S. 29.).
[66] Paul Julius Möbius: Zur Lehre von der Nervosität, in: ders.: Neurologische Beiträge, H. 2, Leipzig 1894, S. 69. Zit. n. Schröder (1994), S. 171.
[67] Vgl. Radkau (1994), S. 230. Hier sagt Radkau auch, dass man nicht einer „optischen Täuschung“ unterliegen darf, die nur „auf die innovatorischen Trends und nicht auf die technische Normalität schaut.“ In den „technischen Leitbildern“ würde keineswegs das Tempo allein im Zentrum stehen.
[68] Vgl. Radkau (1994), S. 233. Auch bei Radkau (1998), S. 72 f. wird die lustvolle Seite der Nervosität deutlich. „Die euphorische Seite der Nervosität“ finde man weniger „in den Sprechzimmern der Ärzte“ als vielmehr „in der Kultur der imperialistischen Zeit.“
[69] Vgl. Radkau (1998), S. 106 f. Auch (mehr auf die Neurasthenie als Krankheitsbild bezogen) Roelcke (1999), S. 136 f.
[70] Vgl. zu den letzten zwei Sätzen Richard Birkefeld, Martina Jung: Die Stadt, der Lärm und das Licht. Die Veränderung des öffentlichen Raumes durch Motorisierung und Elektrifizierung, Seelze (Velber) 1994, S. 14.
[71] Vgl. Birkefeld, Jung (1994), S. 16.
[72] Vgl. Radkau (1994), S. 228.
[73] Vgl. Roelcke (1999), S. 111.
[74] Vgl. zu den letzten vier Sätzen Radkau (1998), S. 193 f.
[75] Robert Wall: Die goldene Zeit der Ozeanriesen, Gütersloh o. J., S. 190 f. Zit. n. Radkau (1998), S. 194.
[76] F. Martius: Neurasthenische Entartung einst und jetzt, Leipzig 1909, S. 48. Zit. n. Radkau (1994), S. 231. Radkau weißt hier auch darauf hin, dass „in einer insgesamt noch recht gemächlichen Welt […] jede Tempoerhöhung mit fortwährenden Bremszwängen verbunden“ gewesen sei. So sei für Rudolf Diesel „eine Verzögerung der Motorenentwicklung um zwei oder drei Monate […] eine ‚endlose Hölle‘“ gewesen.