Kein anderer Bereich der Sprache entwickelt sich so schnell und ist so verknüpft mit Veränderungen im gesellschaftlichen Leben wie der Bereich der Lexik. Jegliche Neuerungen auf wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene wirken sich unmittelbar auf den Wortschatz aus. Es entstehen Wörter, um neue Dinge und Phänomene zu bezeichnen, andere lexikalische Mittel veralten und werden nicht mehr gebraucht. Eine der Möglichkeiten, den Wortbestand einer Sprache durch neue Wörter zu erweitern, ist, Wörter aus einer anderen Sprache zu entlehnen. Jedoch entstehen neue Wörter meist auf der Basis von alten durch Hinzufügung unterschiedlicher Wortbildungsmittel, zum Beispiel durch Affixe.
Im Russischen gilt die affixale Wortbildung als die produktivste Art der Wortschatzbereicherung. Auch wenn viele Affixe zur Bildung neuer Wörter gebraucht werden, ist ihr Status im Wortbildungssystem einer Sprache häufig jedoch nicht gleich. Im Russischen können z.B. Präfixe bei einem Wortbildungsprozess die Wortklasse ableitender Wörter nicht verändern, während Suffixe über diese Eigenschaft hingegen verfügen. In seinem Aufsatz „Wortbildungsarten“ vertritt Uluchanov jedoch die Ansicht, dass es etliche Wörter gibt, bei denen „die Änderung der Wortart als Resultat der Präfigierung möglich [ist]“. Wenn Uluchanovs Annahme über die Möglichkeit eines Wortartwechsels durch das Anfügen von Präfixen zutrifft, so müssen sowohl die Rolle von Präfixen als auch ihr Status im Wortbildungssystem neu überdacht und interpretiert werden.
In meiner Arbeit stelle ich die Gegenhypothese auf, dass Präfixe die Wortklassenänderung ableitender Wörter nicht bewirken. Ich werde einige Beispiele, auf die Uluchanov in seinem Aufsatz hinweist, genau untersuchen, um festzustellen, ob es sich dabei in der Tat um Präfigierung handelt oder ob der Entstehung der präfigierten Wörter womöglich andere Wortbildungsprozesse zugrunde liegen. Zusätzlich zu meiner Analyse werde ich versuchen, eine detaillierte Definition von Präfixen zu geben sowie auf ihre wort- und formbildenden Funktionen näher einzugehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Präfixe als eine besondere Art gebundener Morpheme
3. Funktionen von Präfixen
3.1. Präfix als Wortbildungsmittel
3.2 Das Präfix als eine formbildende Einheit
4. Wortartwechsel durch Präfigierung: Kritische Hinterfragung und Analyse einiger Wortbildungspaare
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Kein anderer Bereich der Sprache entwickelt sich so schnell und ist so verknüpft mit Veränderungen im gesellschaftlichen Leben wie der Bereich der Lexik (vgl. Galkina-Fedoruk 1957:477). Jegliche Neuerungen auf wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene wirken sich unmittelbar auf den Wortschatz aus. Es entstehen Wörter um neue Dinge und Phänomene zu bezeichnen, andere lexikalische Mittel veralten und werden nicht mehr gebraucht (vgl. Galkina- Fedoruk 1957: 26f.).
Eine der Möglichkeiten, den Wortbestand einer Sprache durch neue Wörter zu erweitern, ist Wörter aus einer anderen Sprache zu entlehnen (vgl. Galkina- Fedoruk 1957:58). Jedoch entstehen neue Wörter meist auf der Basis von alten durch Hinzufügung unterschiedlicher, in der Sprache vorhandener Wortbildungsmittel, zum Beispiel durch Affixe (vgl. Šanskij 1968:252f.). Im Russischen gilt die affixale Wortbildung, oder auch Derivation, als die produktivste und flexibelste Art der Wortschatzbereicherung (vgl. Galkina-Fedoruk 1957:62; Šanskij 1968:252).
Auch wenn viele Affixe, i.e. Präfixe, Suffixe, Postfixe, etc. zur Bildung neuer Wörter gebraucht werden, ist ihr Status im Wortbildungssystem einer Sprache häufig jedoch nicht gleich. Im Russischen können z.B. Präfixe bei einem Wortbildungsprozess die Wortklasse ableitender Wörter nicht verändern (vgl. Šanskij 1968:100): vypolnit᾿ ‘erfüllen’ - perevypolnit᾿ ‘übererfüllen’ (Dibrova 2001:458 ), während Suffixe über diese Eigenschaft hingegen verfügen: čitat’ ‘lesen’- čitatel’ ‘der Leser’ (AG 80: §210).
In seinem Aufsatz „Wortbildungsarten“ vertritt Uluchanov (2000:288f.) jedoch die Ansicht, dass es etliche Wörter gibt, bei denen „die Änderung der Wortart als Resultat der Präfigierung möglich [ist]“. Einige Beispiele, die er dabei nennt, sind das Adverb vovne ‘von draußen’ abgeleitet von der Präposition vne ‘außer, außerhalb’, das Adverb vovnutr’ ‘nach innen’ abgeleitet von der Präposition vnutr’ ‘ins Innere hinein’, die Präposition poverch ‘oberhalb’ abgeleitet von dem Substantiv verch ‘oberer Teil’ und das Adverb nemedlja ‘sofort’, welche die präfigierte Ableitung von dem Adverbialpartizip medlja ‘zögernd’ darstellt.
Wenn Uluchanovs Annahme über die Möglichkeit eines Wortartwechsels durch das Anfügen von Präfixen zutrifft, so müssen sowohl die Rolle von Präfixen als auch ihr Status im Wortbildungssystem neu überdacht und interpretiert werden. In meiner Arbeit stelle ich die Gegenhypothese auf, dass Präfixe die Wortklassenänderung ableitender Wörter nicht bewirken. Ich werde einige Beispiele, auf die Uluchanov in seinem Aufsatz hinweist, genau untersuchen, um festzustellen, ob es sich dabei in der Tat um Präfigierung handelt oder ob der Entstehung der präfigierten Wörter womöglich andere Wortbildungsprozesse zugrunde liegen. Zur Durchführung meiner Analyse werde ich das Russische Nationalkorpus (http://ruscorpora.ru/) sowie diverse Fachliteratur zur russischen Grammatik sowie Wortbildung verwenden. Zusätzlich zu meiner Analyse werde ich versuchen, eine detaillierte Definition von Präfixen zu geben sowie auf ihre wort - und formbildenden Funktionen näher einzugehen.
2. Präfixe als eine besondere Art gebundener Morpheme
Als Präfix bezeichnet man ein „nichtselbständiges, gebundenes Morphem […] ohne wortartspezifische Zugehörigkeit“ (Werner 1988:367). Präfixe unterscheiden sich von den anderen gebundenen Morphemen, Suffixen, insofern als sie „in morphologischer und semantischer Beziehung weitgehende Autonomie dokumentieren“ (Jelitte 2000:339). Wenn Präfixe neue Wörter bilden, fungieren sie dabei eigenständig:[1] moral’nyj’ ‘moralisch’ - amoral’nyj ‘unmoralisch’; ugadat’ ‘erraten’ - predugadat’ ‘voraussehen’ (Šanskij 1968:100). Suffixe hingegen sind in ihrer Rolle als Wortbildungselemente auf Flexionen angewiesen, z.B. -nij(e)/-enij(e), -stvo/-estv(o), -nic(a): pe-ni(e) ‘Gesang’ , rožd-eni(e) ‘Geburt’ (Dibrova 2001:463). Zudem bewirken Suffixe oft die Wortklassenänderung ableitender Wörter, Präfixe verfügen über solche Eigenschaft jedoch nicht (vgl. Dibrova 2001: 458; Šanskij 1968:100).
Dass Präfixe gegenüber Suffixen deutlich mehr Autonomie aufweisen, liegt vor allem an ihrer Position. Suffixe schließen sich an den Wortstamm an, während Präfixe „dem ganzen Wort in Form einer Prothese vorangestellt werden“ (Jelitte 2000:339). Darüber hinaus waren Präfixe ursprünglich eigenständige Wörter (vgl. Sinicyna 2012:163f.). Diese Wörter, die in Hinblick auf ihrer Charakteristika Adverbien sehr ähnlich waren, zeichneten sich durch eigene Betonung sowie eine besondere Stellung im Satz aus. Im Laufe der Zeit wurden aus diesen Wörtern Präpositionen, welche eine gewisse Souveränität und Autonomie bis heute zeigen, sowie Präfixe, die gebundene Morpheme sind und sich an andere Wörter anschließen (ebd.).
Beachtlich ist, dass, obwohl Präfixe gebundene Morpheme sind, sich im Russischen einige Beispiele finden, die in einem Satz frei, d.h. wie eigenständige Wörter, auftreten (vgl. Kalenčuk & Kasatkina 1999:1).
Die folgenden Beispielsätze zeigen, wie die Präfixe anti-, sverch- und ėks- auch anstelle von Substantiven benutzt werden:
(1) To, čto ne kommunisty, - ėto jasno. No - anti [kommunisty]?... O naučnom kommunizme predstavlenija imeem samye rasplyvčatye. [NKRJa: Sergej Dovlatov. Marš odinokich (1982)]
‘Dass sie keine Kommunisten sind, ist klar. Aber Anti [Kommunisten]? Unsere Vorstellungen über wissenschaftlichen Kommunismus sind ziemlich vage.᾿
(2) Vidiš ᾿ , kak ja dolgo šla k prostoj mysli - otdavaj vsë i ne ždi nikakogo čuda i nikakogo “sverch”[čuda]. [NKRja: Ljudmila Gurčenko. Aplodismenty (1994-2003)]
‘Siehst du, wie lange ich gebraucht habe, zu diesem einfachen Gedanken zu kommen: gib alles und erwarte kein Wunder und kein ‘Super᾿ [Wunder].᾿
(3) Tak čto ona ne potratila vremja zrja, moja “ėks”, naučilas ᾿ maneram. [NKRJa: Ėduard Limonov. Kniga vody (2002)]
‘Also, sie hat ihre Zeit nicht verschwendet, meine ‘Ex᾿, sie hat gute Manieren gelernt.᾿
Das russische Inventar an Präfixen beinhaltet sowohl Präfixe slavischen Ursprungs, z. B. bez-/bes-, v-/vo-, raz-/ras-, za-, na- (Dibrova 2001:458) als auch viele fremde Präfixe, d.h. Präfixe, die aus den anderen Sprachen entlehnt wurden (a-, anti-, archi-, inter-, ultra-, etc.) (edb.). Der Präfixbestand des Russischen wird größtenteils durch entlehnte Präfixe erweitert und vergrößert (vgl. Šanskij 1968:101).
Es ist anzumerken, dass sich die entlehnten Präfixe hauptsächlich an Wörter anschließen, die ebenfalls fremden Ursprungs sind (vgl. Galkina-Fedoruk 1957:190):
ul᾿trakonservativnyj ‘ultrakonservativ᾿, amoral᾿nyj ‘unmoralisch᾿ (Dibrova 2001: 458). Nur wenige fremde Präfixe, wie z.B. anti- und archi-, sind auch mit Wörtern slavischer Herkunft verbindbar: antinarodnyj ‘volksfeindlich᾿ , archinužnyj ‘mega nötig, sehr nötig’ (Galkina-Fedoruk 1957:190).
Manchmal finden sich für entlehnte Präfixe auch einheimische Äquivalente, z.B. das aus dem Lateinischen entlehnte Präfix ko- und das altrussische Präfix so - (vgl. Levašov 2007):
(1) Vmeste s avstrijskimi koprodjuserami nam udalos᾿ to, čto udavalos᾿, možet byt᾿, tol᾿ko Nikite Michalkovu. [NKRJa: Stas Tyrkin. Aleksej Gus᾿kov: Ot nagrad u menja vyrastajut kryl᾿ja! // Komsomol᾿skaja pravda, 2005.07.12]
‘Gemeinsam mit den österreichischen Koproduzenten haben wir das geschafft, was womöglich nur Nikita Michalkov gelungen ist.᾿
(2) Vpervye v kačestve soprodjusera vystupil Dmitrij Charat᾿jan, kotoryj igraet glavnuju rol᾿. [NKRJa: Mar᾿jana Sidorenko. Alsu spela v „Atlantide“ (2002) //Večernjaja Moskva, 2002.03.14]
‘Zum ersten Mal trat Dmitrij Charat᾿jan, welcher die Hauptrolle spielt, als Koproduzent auf.᾿
[...]
[1] Aus diesem Grund und auch in Hinblick auf die Entstehungsgeschichte von Präfixen, wird Präfigierung von vielen Linguisten, insbesondere im Ausland, oft als Komposition angesehen (vgl. Sanskij 1968:100).