Im Rahmen eines Hauptseminars zur Bildungstheorie Wolfgang Klafkis entstanden, bietet die Arbeit eine geraffte, für alle Lehrämter geeignete Darstellung seiner Didaktik. Sie ist systematisch aufgebaut, indem sie bei der Methodenlehre ansetzt und von dieser Grundlage aus die wichtigsten Texte Klafkis deutet. Hier ist insbesondere die subjektive Dialektik zu nennen, die nicht jedem geläufig ist bzw. auch nicht sein muss. Der zweite Teil beinhaltet einen Versuch zu der Frage, wie ein der Didaktik Klafkis entsprechender Philosophieunterricht aussehen könnte. Diese Denkübung soll dazu einladen, nicht alle Dogmen der Fachdidaktik mitzugehen und bietet Ansätze einer Alternative.
Klafki bestimmt seine Lehre als kritisch-konstruktive Didaktik. Eben diese sei aus der geisteswissenschaftlichen Didaktik hervorgegangen, zu welcher er auch seine erste Position (1963) zählt. D.h. mit den neuen Studien (1985/91) möchte er einen Paradigmenwechsel vollziehen. Die methodische Grundlage der geisteswissenschaftlichen Didaktik war die Hermeneutik Wilhelm Diltheys, wodurch ein Geschwisterverhältnis zu Lebensphilosophie und Historismus besteht. Letztere nahm ausgehend vom Postulat der Willensfreiheit an, dass es in der Moderne keine allgemein anerkannte Weltanschauung geben könne, sondern einen Wettstreit mehrerer derselben, der von den Kräften der Gesellschaft geführt werde. Letztere bilden
in immer neuen Koalitionen Staat und Institutionen, die so in stetigem Fluss sind. Entsprechend müsse das Forschungsinteresse darin liegen, sich in den Geist jener Kräfte einzufühlen, sie zu verstehen. Denn theoretisch „erklärbar“ im Sinne des Positivismus seien sie nicht.
In der Anwendung bedeutete dies, die Lehrenden als eine solche Kraft anzusehen, die mit den übrigen interagiert. Die Aufgabe des Didaktikers ist somit ihren Bildungsbegriff, ferner auch anthropologische sowie moralische Vorstellungen herauszuarbeiten. Mit Hilfe dieser Explikation sollte die Einheit von Idee und Wirklichkeit erreicht werden, d.h. anders formuliert: ein System klar definierter Ziele sollte die Planung und Überprüfung der Praxis objektivieren, sicherstellen, dass man den eigenen Ansprüchen genüge tut.
Übersicht
Einleitung
1. Abriss von Klafkis Didaktik
1.1 Methodische Grundlagen
1.2 Konzept der Allgemeinbildung
a) Kategoriale Bildung
b) Die drei Grundfähigkeiten
c) Epochaltypische Schlüsselprobleme
d) Vielseitige Interessen- und Fähigkeitsentwicklung
1.3 Perspektiven der Unterrichtsplanung
2. Reflexionen zum Fach Philosophie
2.1 Kant und Klafki
2.2 Ein Versuch
a) Weltanschauliche Identität
b) Typen der Weltanschauung
c) Das Trias-Modell
d) Personifizierung der Trias
Literatur
Einleitung
Die Arbeit ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, auch konfessionslosen Schülern die Entwicklung einer weltanschaulichen Identität zu ermöglichen, dabei jedoch innerhalb des Rahmens des Faches Philosophie zu bleiben, wie es in NRW üblich ist. Die Lebenskunde, d.h. der atheistische Religionsunterricht, den der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) unter anderem in Berlin anbietet,1 schied dabei bereits im Vorfeld aus.
Der Verfasser hat daher die Freiheit genutzt, im Anschluss an ein Seminar zur Didaktik Wolfgang Klafkis Reflexionen anzustrengen, wie dies geleistet werden könnte. Hierfür sei Herrn Dr. Rainer Wisbert nochmals gedankt.
Auf diesem Wege entstand zunächst der erste Teil, eine geraffte Darstellung von Klafkis Grundposition. Dieser ergibt sich (fast) ausschließlich aus seinen „älteren“ und Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Lediglich zur Methodik wird kurz auf Philipp Mayring verwiesen, sowie in einer Fußnote zu unserem Dafürhalten nach nicht ganz richtigen Aussagen zur Geschichte auf einen Historiker. Die Wiedergabe ist systematisch angelegt, d.h. orientiert sich nicht an der Reihenfolge der einzelnen Originaltexte. Sie setzt bei Klafkis methodischen Grundlagen und seiner Definition der kritisch-konstruktiven Didaktik an (1.1), geht dann zum Bildungsbegriff über (1.2a-d) und endet mit einer Erläuterung des Perspektivenschemas zur Unterrichtsplanung (1.3). In den letzteren beiden Unterpunkten werden die älteren Positionen Klafkis, die in den Neuen Studien aufgehoben enthalten sind, integriert.
Der zweite Teil schließlich ist nicht wie der erste auf die Analyse einer schon bestehenden Theorie gerichtet, sondern soll diese, die Didaktik Klafkis, einbeziehend etwas neues entwickeln. Dabei wird in einem ersten Schritt (2.1) versucht zu zeigen, dass unter Anwendung der Methode der Klassikerinterpretation durchaus dafür argumentieren kann, dass sich die Übertragung des Konzepts der kategorialen Bildung auf das Fach Philosophie mit Immanuel Kant stützen lässt. Sollten hierbei Wulff D. Rehfus, der erst vor kurzem verstorben ist, und Ekkehard Martens etwas schroff angegangen werden, so bitten wir dies zu entschuldigen. Daran anschließend erfolgt die Entwicklung des sog. „Trias-Modells“ (2.2a-d), die ausgehend von auch für Klafki potentiell akzeptablen Theoretikern - William James, Friedrich Engels und Wilhelm Dilthey - mehr und mehr zur Praxis geht.
Die Abbildung des philosophischen Naturalismus und Agnostizismus in der Trias (2.2b) deckt sich soweit mit dem religiösen Atheismus und Agnostizismus, dass wir hoffen, damit einen Weg gefunden zu haben, den Aufbau einer diesen Bekenntnissen entsprechenden weltanschaulichen Identität zu erlauben.
1. Abriss von Klafkis Didaktik
1.1. Methodische Grundlagen
Klafki bestimmt seine Lehre als kritisch-konstruktive Didaktik. Eben diese sei aus der geisteswissenschaftlichen Didaktik hervorgegangen, zu welcher er auch seine erste Position (1963) zählt. D.h. mit den neuen Studien (1985/91) möchte er einen Paradigmenwechsel vollziehen.
Die methodische Grundlage der geisteswissenschaftlichen Didaktik war die Hermeneutik Wilhelm Diltheys, wodurch ein Geschwisterverhältnis zu Lebensphilosophie und Historismus besteht. Letztere nahm ausgehend vom Postulat der Willensfreiheit an, dass es in der Moderne keine allgemein anerkannte Weltanschauung geben könne, sondern einen Wettstreit mehrerer derselben, der von den Kräften der Gesellschaft geführt werde. Letztere bilden in immer neuen Koalitionen Staat und Institutionen, die so in stetigem Fluss sind. Entsprechend müsse das Forschungsinteresse darin liegen, sich in den Geist jener Kräfte einzufühlen, sie zu verstehen. Denn theoretisch „erklärbar“ im Sinne des Positivismus seien sie nicht.
In der Anwendung bedeutete dies, die Lehrenden als eine solche Kraft anzusehen, die mit den übrigen interagiert. Die Aufgabe des Didaktikers ist somit ihren Bildungsbegriff, ferner auch anthropologische sowie moralische Vorstellungen herauszuarbeiten. Mit Hilfe dieser Explikation sollte die Einheit von Idee und Wirklichkeit erreicht werden, d.h. anders formuliert: ein System klar definierter Ziele sollte die Planung und Überprüfung der Praxis objektivieren, sicherstellen, dass man den eigenen Ansprüchen genüge tut.
Jene Ideen sind, wie die Auswahl der Autoren zeigt, die des deutschen Liberalismus. Gleichwohl umgeht Klafki die Benutzung dieses Begriffs. Das starke Individuum steht im Mittelpunkt. Seine Mündigkeit und allseitige Entwicklung bzw. Allround-Fähigkeit haben Vorrang gegenüber den einzelnen Fächern, die nicht als verkleinertes Abbild ihrer jeweiligen akademischen Disziplin gesehen werden sollen.2
Auch in der kritisch-konstruktiven Didaktik bleibt Hermeneutik der Kern des Theoriegebäudes. Klafki erläutert ihren Namen dahingehend, dass sie G esellschafts- und S elbstkritik voraussetzt, die aber nicht wie der Stammtischphilosoph über den Dingen schweben dürfe, sondern an der aktiven Verbesserung der Praxis mitwirken muss.3
Zu diesem Zwecke, so Klafki, sei es notwendig die Perspektiven der Hermeneutik, Empirie und Ideologiekritik zu kombinieren. Dies in solcher Art und Weise, dass sie einander durchdringen.
Die historisch-hermeneutische Perspektive unterscheidet sich in diesem Moment von jener der alten geisteswissenschaftlichen Didaktik, sonst aber eher nicht. Die von Klafki hervorgehobene Weiterentwicklung der Hermeneutik bezieht sich auf den (damals neuen) symbolischen Interaktionismus.4 Unter Empirie versteht er die Anwendung von Methoden der phänomenologischen Soziologie auf das Schulwesen, Lehren und Lernen.5 Ideologie ist hier definiert als „falsches Bewusstsein“, Ideologiekritik nach Jürgen Habermas als dessen Überwindung im Diskurs.6
All dies von Klafki aufgeführte würde Philipp Mayring folgend unter dem Begriff der qualitativen Sozialforschung summiert werden.7 In der Tat sehen wir bei ihm in den „alten“ und neuen Studien kein einziges Mal die Anwendung erklärender Methoden. Ebenso keine quantitativen. Er bleibt den paradigmatischen Vorgaben, welche Lebensphilosophie und Phänomenologie stifteten, treu.
1.2 Konzept der Allgemeinbildung
a) Kategoriale Bildung
In seiner älteren Arbeit versuchte Klafki in obigen Sinne (vgl. 1.1) durch eine Interpretation der wichtigsten Bildungstheorien einen allgemein anerkennbaren Begriff derselben zu gewinnen. - Doch dabei stieß er auf das Problem, dass sich die Positionen nicht widerspruchsfrei verbinden ließen.
Ein Teil der Denker versuchte einen Kanon besonders wertvollen Wissens zu entwickeln, der es ermöglichen sollte, dass die Jugend unsere Welt begreift, versteht was ist. Diesen Ansatz bezeichnet Klafki daher als materiale Bildungstheorie. Seine Unterarten sind erstens der Objektivismus, d.h. im Sinne von Universalgelehrten wie da Vinci wirklich alles zu lehren, zweitens der Szientismus, d.h. eine ganzheitliche Schulung in den Naturwissenschaften, und drittens die Theorie des „ Klassischen “, wonach jene Güter tradiert werden sollten, die sich in der Geschichte besonders bewährt hätten.8 Zu letzterem zählt z.B. das Denken Athens zur Zeit Alexanders.
Ein anderer Teil derselben ging vom Können aus, um den Heranwachsenden größtmögliche Selbstständigkeit zu verschaffen. Da dies von Inhalten abstrahiert, gab Klafki dem den Namen formale Bildungstheorie. Letztere zerfällt in zwei Gruppen, von denen die eine, für die allem voran Wilhelm von Humboldt steht, besondere, in der Natur des Menschen schlummernde Kräfte vermutete, die andere, mit John Dewey an der Spitze, in jedem Bereich die nützlichsten Methoden ermitteln und auf dieser Basis Allroundtalente schaffen wollte. D.h. ein zentraler Unterschied beider ist, dass die Lehre von den Kräften mit einem etwas fragwürdigen, jedoch zeitlosen Idealmenschen operiert, die Methodenauswahl hingegen in ständigem Fluss bleibt.9
Um dieses Problem zu lösen verwendet Klafki die von G.W.F. Hegel herrührende Methode des dialektischen Dreischritts, was indirekt auch ein auf ihn und Karl Marx verweisendes Autoritätsargument konstituiert. Es ist daher sinnvoll diese Art der Begriffsanalyse zuvor in einem Einschub zu erörtern.10
Der erste Schritt von Dreien ist die Aussage eines Prädikats, der These. Im zweiten wird eine derselben entsprechende Antithese gebildet. - Hierbei ist zu verlangen, dass die Verneinung des einen stets das jeweils andere impliziert, ferner, dass aus der Wägbarkeit jeder der beiden Bestimmungen folgt, dass auch die andere logisch möglich ist. Ein Beispiel für dies sind Qualität und Quantität. Jedwedes Ding in unserem Gesichtskreis kann qualitativ und/oder quantitativ bestimmt werden, wobei diese Bestimmungen kategorial je das Gegenteil des anderen sind, sich einander aber auch voraussetzen. Denn was nicht zählbar ist, hat auch keine Qualitäten; das prominente x der Gleichungen ist bloßes Zeichen, daher ohne Referenz kein Quantum.
Beim dritten Schritt folgt mit der Synthese die Verschmelzung der Prädikate in einem neuen, welches nun beides „aufgehoben“ enthält. Für Hegel ging so aus Qualität und Quantität das Ma ß hervor. Eine Qualität wird quantifiziert und so zu einer Einheit. Etwa, wenn in früheren Zeiten ein Schneider sein Werkstück mit der Elle maß und befand, es sei „fünf Ellen lang“. In ganz ähnlicher Weise, nämlich mit Daumen und Fuß ihrer altvorderen Könige, rechnen die Engländer noch heute. Unser Meter wiederum leitet sich vom Umfang der Erdkugel ab, unterscheidet sich also lediglich durch Eleganz, nicht aber im Prinzip.
Angewendet auf den Diskurs der Bildungstheorien darf man also argumentieren: Wissen und Können sind in dem Sinne voneinander geschieden, dass man erstens Erkenntnisse erlernen kann, d.h. ohne fähig zu sein, selbsttätig zu ihnen zu kommen. Ein Beispiel hierfür ist die Zahl π im Fach Mathematik. Ihr „Beweis“ begrenzt sich, wenigstens in der Mittelstufe, darauf festzustellen, dass der berechnete Kreis aus weiß der Teufel welchem Grund stets gut gerät. Zweitens ist es möglich, Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit untereinander austauschbaren Gegenständen zu erwerben. So etwa das Französische, die Sprache Victor Hugos... und der Asterix-Comics.
Die Bestimmungen material und formal sind Gegenteile, doch in dialektischer Weise, so dass sie einander wechselseitig implizieren. Erkenntnis wird z.B. definiert als wahre, gerechtfertigte Meinung,11 verweist also mit der Forderung nach Rechtfertigung bereits auf ein Können. Und umgekehrt fragt sich: Wie sollen wir ohne einen als wahr geltenden Prüfstein herausfinden, welche Methoden zu guten Ergebnissen führen und welche nicht?
Eine gelungene Sache erlaubt den Rückschluss auf Fähigkeit; Können ist nur durch ein vollbrachtes Werk nachweisbar.
So kommt Klafki zu dem Gedanken, dass die materiale und formale Bestimmung lediglich Momente der wahren, kategorialen Bildung sind. Er betrachtet sie als untrennbar, nur in Einheit nachweisbar:
Bildung ist Erschlossen-sein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen, und umgekehrt Erschlossen-sein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit. 12
Er schlägt daher vor, die Welt in allgemeine Oberbegriffe (Kategorien) zu zergliedern und unter Berücksichtigung der Einheit beider Momente zu fragen,
a) durch welches Wissen der jeweilige Bereich als erfasst gelten kann, und b) welches Können dieses Erfassen zwingend voraussetzt.
Zusammenfassend fordert Klafki:
„Einzig und allein jene Inhalte [und Fähigkeiten], die den im Begriff der kategorialen Bildung geeigneten Kriterien entsprechen, dürfen im Raum der Bildung einen zentralen Platz beanspruchen. Alles, was nicht repräsentativ für grundlegende Sachverhalte ist, sondern nur Einzelwissen und Einzelkönnen, das nicht kategorial erschließend zu wirken vermag […] was dem Schüler nicht den Durchstoß zum Fundamentalen, zu den tragenden Kräften der Grundbereiche unseres geistigen Lebens erlaubt - alles das sollte in unserem Bildungswesen keinen Ort […] haben.“13
Die Aufgabe der Didaktik ist es daher, eben genau „die Kategorien und Strukturen“ zu ermitteln, in denen die Welt fassbar ist,14 diese Einheit zu analysieren, d.h. in ihr materiales und formales Moment zu zergliedern, das in der jeweiligen Bildungskategorie steckende Wissen und Können offen zu legen, so dass schließlich ein Lehrplan aufgestellt werden kann.
b) Die drei Grundfähigkeiten
Die folgenden Unterpunkte (1.2b-d) gehen je aus der ersten und zweiten der neuen Studien hervor. Dies ergibt sich aus Klafkis Vorgehen. Zunächst interpretiert er den „klassischen“ Bildungsbegriff, d.h. jenen des deutschen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert, und versucht ideologiekritisch seine Grenzen aufzuzeigen. Daraufhin reformuliert er das Thema. In der folgenden Studie legt er dar, welche Zielvorstellungen seiner Ansicht nach der so verstandenen Bildung entsprächen, geht aber noch über dies hinaus, indem er den Kampf um die soziale Demokratie postuliert. Letzterer bedeute die bei den Klassikern noch gebliebenen Schranken einzureißen.
Uns beschäftigen hier zunächst die Ziele der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Diese sollten als das formale Moment der Allgemeinbildung (vgl. 1.2a) verstanden werden, nehmen allerdings, somit ideologiekritisch gegen Klafki selbst gewendet, eher den Charakter von Persönlichkeitsmerkmalen an. Man kann daher stimmig dafür argumentieren, es handle sich eigentlich um Tugenden, die im Sinne einer Werteerziehung entwickelt werden sollen.
In der ersten Studie interpretiert Klafki, wie gesagt, den Bildungsbegriff der deutschen Klassik. Dies mit der Begründung, dass jene Denker den von der Französischen Revolution ausgehenden Geist der Freiheit in sich aufgenommen hätten. „Klassik“ bedeutet also ganz konkret jene Denkweise, die der Literatur von Goethe und Schiller, sowie der Philosophie nach Kant, Fichte, Hegel und Schelling entspricht. Marx kennzeichnet dieselbe überaus passend als die „deutsche Theorie der französischen Revolution“.15
Preußen war in dieser Zeit politisch wie kulturell Deutschlands Hegemon; daher ist die Mehrheit der hierunter zu fassenden Denker evangelisch/pantheistisch, betrachtet entgegen dem Antiklerikalismus (z.B. Otto Glöckels16 ) Religion und Aufklärung als vereinbar, und vertritt einen mehr an England, als an Frankreich angelehnten Liberalismus; freisinnig, aber nicht republikanisch. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. ist ein Mord, kein Strafvollzug wegen Hochverrats. - Wir erlauben uns daher die kritische Bemerkung, dass die Klassiker nicht ganz so revolutionär eingestellt waren, wie es in Klafkis Darstellung klingt.
Die der Interpretation Klafkis zu Grunde liegende Perspektive ist im wesentlichen linksliberal. So deutet er das Bismarckreich Heinz-Joachim Heydorn folgend als „Verfallsgeschichte der klassischen Bildungsidee“,17 und geht wie dieser nicht auf die im Zeitraum 1848-66 stattfindende Differenzierung in Links- und Nationalliberalismus ein.18
Er kommt auf jenem Wege u.a. zu den folgenden Bestimmungen:
1. Selbstbestimmung, d.h. der gleichlautende Quellenbegriff an sich, aber auch die Alternativen Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Mündigkeit, Vernunft und Selbsttätigkeit. Als repräsentatives Beispiel nennt Klafki Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, wonach eben diese nur durch eigenständiges Denken erreicht werden kann.19
2. Individualität und Gemeinschaftlichkeit, d.h. das Spannungsverhältnis der im vorgenannten Punkt geforderten Autonomie auf der einen, und der gesellschaftlichen Verwurzelung des Menschen auf der anderen Seite. Die Klassiker hätten diesen Widerspruch mit Patriotismus (nicht Nationalismus) lösen wollen, wobei das Vaterland als in ein „freies Zusammenleben von Völkern, Nationen, Kulturen in wechselseitiger Anerkennung“ eingetreten gedacht ist.20 Klafki sieht die Grenzen dieses Konzepts darin, dass die Klassenfrage ausgespart bleibt. Es müsse im Sinne einer Bildung für alle, auf die Überwindung auch der ökonomischen und geschlechtsspezifischen Ungleichheit hin ausgerichtet neu gedacht werden.21
Am Ende der ersten Studie erscheint daher bereits die von Klafki vorgenommene Zusammenfassung dieser Momente in den drei Grundfähigkeiten Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. - In der zweiten Studie greift er diesen Faden wieder auf, und da die Begründung implizit aus der ersten folgt, gibt er hier lediglich Definitionen der Begriffe, die in dieser Gestalt in seine Theorie einfließen:22
- Selbstbestimmung =Def Fähigkeit die eigenen individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zu gestalten.
- Mitbestimmung =Def Fähigkeit die Teilhabemöglichkeiten zur Gestaltung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse zu nutzen.
- Solidarität =Def Einsatz für und Zusammenschluss mit allen, deren Recht auf Selbst- und Mitbestimmung im obigen Sinne aus politischem oder wirtschaftlichem Grunde eingeschränkt wird.
Es ist nicht schwer, diese Ziele auch alternativ über die Werte der Französischen Revolution zu formulieren, d.h. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Leiten wir von ihnen ab, welche Tugenden der Citoyen sich aneignen soll, will er ein gesundes Glied der Republik sein, müssen wir notwendigerweise zu der Sache nach gleichen Forderungen kommen.
Man darf daher fragen, ob es in diesem Sinne vielleicht nicht sinnvoll wäre, die Idee der Menschlichkeit oder Humanität auch ganz direkt zu einem materialen Bildungsgegenstand zu machen. Dies entspräche Klafkis Dialektik (vgl. 1.2a) und würde den Schülern gegenüber transparent machen, welche Ziele der Lehrer verfolgt (vgl. auch Punkt 6 des Perspektivenschemas, 1.3). Wir haben diesen Gedanken in die unten stehende Grafik zur Darstellung des Verhältnisses von Gegenständen und Fähigkeiten aufgenommen (1.2c).
c) Epochaltypische Schlüsselprobleme
Die Schlüsselprobleme (1.2c) und Vielseitigkeit (1.2d) sind das mit den oben aufgeführten drei Grundfähigkeiten vermählte materiale Moment der Allgemeinbildung (vgl. 1.2a). Sie ermöglichen es Selbst- und Mitbestimmung, sowie Solidarität in rationaler Form zu verwirklichen.
Aus der Klassikerinterpretation heraus folgert Klafki, dass Bildung nur „ im Medium eines Allgemeinen, das heißt historischer Objektivationen der Humanität, der Menschlichkeit und ihrer Bedingungen“ möglich sei. Deutsch gesprochen, in der Gesellschaft. Außerhalb derselben sind Fähigkeiten Spiel. Sie müssen jener also adäquat sein. Doch ist das Gemeinwesen auch in steter Veränderung begriffen. Normativ gewendet bedeutet das, dass diese Veränderung Fortschritt bringen und entsprechend gestaltet werden soll. Mit Kant sprechend zitiert Klafki daher dessen Forderung:
„Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des menschlichen Geschlechts, d.i. der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“
Diesen Gedanken weiterspinnend löst er die Kanon-Frage, welche die materialen Bildungstheorien zuvor intensivst beschäftigt hatte, d.h. die Frage nach dem „zureichenden“ Allgemeinwissen (vgl. 1.2a), auf und ersetzt sie durch die Auseinandersetzung mit jenen historischen Prozessen, die sich in unserer Gegenwart vollziehen. Letztere nennt er Schlüsselprobleme. Zum damaligen Zeitpunkt, dem Jahr 1985, waren dies Krieg und Frieden, Umwelt, Ungleichheit, neuen Medien sowie die „ Ich-Du-Beziehung “ (Mitmenschlichkeit). Das ist 2015 durchaus noch aktuell. Doch grundsätzlich lassen sich Probleme geschichtlicher Tragweite nicht als Agenda summieren und abarbeiten, denn zum einen erstreckt sich ihre Dauer teils über Generationen, zum anderen entstehen immer wieder neue oder die bestehenden verwandeln ihre Gestalt derart, dass die vermeintlich gefundenen Lösungen unbrauchbar werden.
Hierdurch entsteht ein sich erweiternder Kreis derart, dass wir von den drei Grundfähigkeiten zu den Schlüsselproblemen kommen, das Streben Lösungsansätze für jene zu finden aber wiederum besondere Fähigkeiten erfordert. Ganz hegelianisch (vgl. 1.2a) also schließt Klafki vom formalen auf das materiale, und von letzterem auf ersteres zurück.
Bleiben wir beim Bilde des Kreises, so sehen wir nun einen engeren vor uns, der den Begriff Humanität und die dialektisch ihm entfließenden Grundfähigkeiten enthält, umfasst von einem breiteren. Des letzteren Materie ist die Einheit von Idee und Praxis, die zum Zwecke der Humanisierung zu lösenden Schlüsselprobleme, die sich ihrerseits eine Form entgegensetzt, nämlich die folgenden, zu ihrem Verständnis notwendigen Fähigkeiten:
- Kritik =Def Bereitschaft und Fähigkeit den Sinn bestimmten Verhaltens oder Denkens zu hinterfragen, auch sich selbst gegenüber.
- Logik =Def Bereitschaft und Fähigkeit schlüssig zu argumentieren, d.h. die eigene Position für andere nachvollziehbar deduktiv/induktiv herzuleiten, sowie deren Standpunkt formal richtig zu rekonstruieren.
- Empathie =Def Fähigkeit die Perspektive anderer zu übernehmen bzw. sich in sie einzufühlen, sie zu verstehen.
- Ganzheitliches Denken =Def Fähigkeit Dinge in ihrem Zusammenhang, nicht losgelöst, sondern in steter Wechselwirkung und als Teil dynamischer Systeme zu sehen (→ Systemtheorie & Dialektik).
[...]
1 Schulfach Humanistische Lebenskunde, Online unter: <www.lebenskunde.de>
2 vgl. W. Klafki: „Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“, Weinheim 51996, S. 85-89.
3 Ebenda, S. 89-90.
4 Ebenda, S. 99-101.
5 Ebenda, S. 102-109.
6 Ebenda, S. 109-114.
7 P. Mayring: „Einführung in die Qualitative Sozialforschung“, Weinheim 52002, S. 19ff.
8 W. Klafki: „Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“, Weinheim 101970, S. 27-32.
9 Ebenda, S. 32-38.
10 Wir zeichnen hier stark vereinfacht und zusammenfassend Hegels Vorgehen nach, wie er in seiner Logik die Begriffe Qualität, Quantität und Maß herleitet. (vgl. G.W.F. Hegel: „Wissenschaft der Logik“, Nürnberg 1812, S. 130- 320.)
11 T. Grundmann: „Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie“, Berlin 2008, S. 1-4.
12 vgl. W. Klafki: „Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“, Weinheim 101970., S. 43.
13 Ebenda, S. 44-45.
14 Ebenda, S. 45.
15 Marx: MEW Bd. 1, S. 80.
16 O. Glöckel: „Schule und Klerikalismus“, Wien 1911.
17 W. Klafki: „Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“, Weinheim 51996, S. 46-47.
18 Wir möchten an dieser Stelle keinen historischen Streit aufmachen, da der Punkt für Klafkis Theorie an sich nicht kritisch ist. Wir verweisen jedoch darauf, dass der Liberalismus sich eben gespalten hat (vgl. Winfrid Halder: „Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914“, Darmstadt 32011, S. 21-23) und Heydorns Deutung des Nationalliberalismus als „Verfall“ daher nicht unbedingt objektiv ist.
19 Ebenda, S. 19-20.
20 Ebenda, S. 26-30.
21 Ebenda, S. 36-40.
22 Ebenda, S. 52.