Heute scheint es unvorstellbar, in einem Zoo wie der Stuttgarter Wilhelma, neben Tieren auch Menschen zur Schau gestellt zu sehen. Noch vor hundert Jahren waren Völkerschauen in Tiergärten ein alle Bevölkerungsgruppen anziehender Besuchermagnet, über den es in der heutigen Geschichtswissenschaft eine überschaubare Forschung gibt.
Die vorliegende Studie beschränkt sich auf die Völkerschauen im Nillschen Tiergarten, wo in der Zeit zwischen 1881 und 1906 auf der sogenannten ‚Völkerwiese‘ vielzählige Schauen stattfanden. Das Ziel dieser Arbeit ist es, das methodische Instrumentarium der Post-colonial Studies auf die Präsentationen des ‚Exotischen‘ auf der ‚Völkerwiese‘ anzuwenden, um somit eine kritische Aufarbeitung der Völkerschauen in Stuttgart zu begründen.
Inhalt
Einleitung
1. Orientalismus als Wegbereiter des erfolgreichen Geschäftsmodells „Völkerwiese“
2. Wie waren die Wechselwirkungen der Schaustellungen mit der Gesellschaft?
2.1 Tortur der Darsteller als „nette Begebenheit“?
2.2 Seelenverwandte oder „fremde“ Feuerländerin?
2.3 Stereotypenkreislauf am Beispiel der „Tunesenschau“
Fazit:
Danksagung
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Befindet man sich heutzutage in einem Zoo wie der Stuttgarter Wilhelma, so ist es unvorstellbar, neben Tieren auch Menschen ausgestellt zu sehen. 100 Jahre früher waren Völkerschauen in Tiergärten ein alle Bevölkerungsgruppen anziehender Besuchermagnet, über den es in der heutigen Geschichtswissenschaft eine überschaubare Forschung gibt. Die Wissenschaftshistorikerin Annelore Rieke-Müller und der ehemaligen Direktor des Hannoveraner Zoos Lothar Dittrich entrissen gegen Ende des letzten Jahrtausends die Zoogeschichte im deutschsprachigen Raum aus ihrem Dornröschenschlaf und ließen ihr die Bedeutung zukommen, die ihr zusteht. Speziell auf Völkerschauen gehen sie in ihrer Arbeit Carl Hagenbeck. (1844–1913 Tierhandel und Schaustellungen in Deutschen Kaiserreich) [1] ein. Uwe Albrecht erwähnt in seinem Aufsatz Vergnügungen und Belehrungen. Die Geschichte bürgerlicher Stuttgarter Tiergärten im 19. Jahrhundert. 2. Teil: Nills Tiergarten (1871–1906) [2] die Völkerschauen nur in einem Satz. Der Hobbyhistoriker Jörg Kurz geht in seinem anekdotischen Sachbuch Vom Affenwerner bis zur Wilhelma. Stuttgarts legendäre Tierschauen [3] knapp auf und deskriptiv auf die Völkerschauen im Tiergarten Nill ein. Für das Thema Völkerschauen allgemein sind einschlägige Werke zum Beispiel Anne Dreesbachs Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–19401,[4] Stefanie Wolters Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums [5] des weiteren MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit von Paul Blanchard et al. (2012 ),[6] From Samoa with love? von Hilke Thode-Arora [Hrsg.][7] und Hilke Thode-Aroras Für fünfzig Pfennig um die Welt (1989).[8] Diese Werke ermöglichen es dem Leser, sich einen guten Gesamteindruck über Völkerschauen in Deutschland zu verschaffen. Um sich eine Quellengrundlage für die Werke zu erarbeiten, werteten die Autoren Polizeiakten aus den Beständen verschiedener Stadt- und Staatsarchive aus, recherchierten Berichte vor allem in Zeitschriften und Zeitungen und analysierten Plakate, die zu Werbezwecken eigens für Völkerausstellungen hergestellt wurden, sowie Fotografien, die Auskunft über die Inszenierung geben. Außerdem analysierten sie Programmhefte einzelner Schauen, Postkarten, die Aktenbestände der einzelnen Zoologischen Gärten und die Korrespondenz zwischen verschiedenen Mitgliedern der Firma Hagenbeck aus. Leider fanden die Autoren nur einen Text, der eine Völkerausstellung aus der Sicht eines Ausgestellten schildert.[9] Während die Völkerschauen vereinzelter Städte schon näher erforscht wurden, gibt es noch so gut wie keine Literatur zu den Stuttgarter Völkerschauen. Zurschaustellungen „exotischer“ Menschen gab es in Stuttgart im Tiergarten Nill, bei der Kolonialausstellung 1928 und einige Male im Rahmen von Zirkussen und Volksfesten, sowie als Buffalo Bill mit seiner Tournee in Stuttgart gastierte. Die vorliegende Studie beschränkt sich auf die Völkerschauen im Nillschen Tiergarten, in dem die meisten Schauen stattfanden. Das Ziel dieser Arbeit ist es, das methodische Instrumentarium der Postcolonial Studies auf die Präsentationen des „Exotischen“ auf der „Völkerwiese“ anzuwenden, um somit die kritische Aufarbeitung der Völkerschauen in Stuttgart zu begründen.
Die Methodik der Postcolonial Studies beruht auf Edward W. Saids Orientalismus-These. Diese zeigt, beeinflusst von Michel Foucalt, wie Herrschaft durch Diskurse über die Beherrschten legitimiert wurde und wie diese Diskurse in der westlichen Kultur überdauern. Die Diskurse waren geprägt von vermeintlichen Unterschieden zwischen dem Eigenen, Europäischen und dem Anderen, Orientalischen. Während bei Said die Anderen aus dem arabischen Raum stammen, könnten es ebenso „Afrikaner“, „Wilde“, „Primitive“, „Exoten“, „Urmenschen“ oder „Eingeborene“ sein, die als Kolonisierte den „zivilisierten“, „kultivierten“, europäischen Kolonisatoren gegenüberstehen.[10] Hinter dieser (teilweise unbewussten) Abgrenzung vom Anderen steht das Bedürfnis der Europäer nach Identitätsbildung, gleichzeitig fühlen sich die „überlegenen“ Europäer zur Kolonialherrschaft legitimiert und zur „kulturellen Hebung“ der „Naturmenschen“ verpflichtet.[11] Im Folgenden soll nun das orientalistische Denken der Völkerschauen im Tiergarten Nill aufgedeckt und analysiert werden.
In einem ersten Schritt wird anhand des Dokuments Geschichte des Tiergarten Nill [12] ein Überblick über die Völkerschauen im Tiergarten Nill gegeben und gezeigt, was der Gesellschaft zugrunde lag, das die „Völkerwiese“ als erfolgreiches Geschäftsmodell, bzw. „Menschenzoos“ generell überhaupt erst ermöglichte, sowie der Hauptunterschied zwischen Völkerschauen und Kolonialausstellungen aufgezeigt. Die Geschichte des Tiergarten Nill wurde von dem damaligen Leiter und Inhaber des Parks, dem Tierarzt Adolf Nill im Jahre 1906 kurz nach der Schließung des Zoos verfasst. Die Erinnerungsschrift umfasst 67 Seiten und wurde von Nill mit einer Schreibmaschine für seine Söhne als Andenken geschrieben, es existieren also nur zwei Exemplare davon, welche gut erhalten sind.
In einem zweiten Schritt werden die Wechselwirkungen der Schaustellungen mit der Gesellschaft begutachtet. Dabei wird zunächst, wieder ausgehend von Auszügen aus Nills Geschichte des Tiergarten Nill, mögliche Szenarien über das Verhältnis zwischen jugendlichen Zoobesuchern und den Ausgestellten in Betracht gezogen. Darauf folgen Ausführungen zu der zeitgenössischen Rezeption der Liebe zwischen einem Zoobesucher und einer Vertreterin der „Feuerländerschau.“ Die Beschreibung der Annäherung zwischen dem „ Eigenen“ und dem „ Anderen“ wurde zur Analyse aus der von Julius Bazlen geschriebenen, 1925 im Stuttgarter Wegner-Verlag veröffentlichten, Schrift Beim Nill. Erinnerungen aus dem Tiergarten. [13] Das gut erhaltene Werk wurde von Bazlen geschrieben, um vor allem die Stuttgarter Bevölkerung über den damals schon fast 20 Jahre lang geschlossenen Tiergarten Nill zu informieren. Problematisch ist, dass zwischen der Veröffentlichung und der in diesem Buch beschriebenen zu analysierenden Situation 44 Jahre verstrichen. Es ist sowohl unklar, ob Bazlen der Begebenheit selbst beiwohnte, bzw. woher er das Wissen über diese Situation hat, als auch ob er das Erzählte, bzw. selbst Erfahrene sofort verschriftlichte, oder ob er es erst 1925 womöglich unvollständig und durch Unrichtiges ergänzt, aus dem Gedächtnis heraus verfasste. Nach der näheren Betrachtung der „Feuerländerschau“ steht die „Tunesenschau“ im Fokus. Als Grundlage zur postkolonialen Analyse dienten eine Einladung zu dieser Schau sowie zwei Zeitungsausschnitte. Die Einladung stammt aus dem Archiv von Dr. Müller in Stuttgart und ist gut erhalten. Sie datiert auf das Jahr 1904, wurde von Adolf Nill bei einer Stuttgarter Druckerei in Auftrag gegeben und in der ganzen Stadt zu Werbezwecken verteilt. Die gut erhaltenen Zeitungsausschnitte im Stadtarchiv Stuttgart auf Mikrofilm zur Verfügung. Bei dem Ausschnitt, der am 11.05.1904 in der bürgerlichen Regionalzeitung Schwäbischer Merkur erschien, handelt es sich um eine von Adolf Nill geschaltete Annonce zur Bewerbung der „Tunesenschau“, bei dem am 13.05.1904 in der zum Schäbischen Merkur gehörigen Zeitung Schwäbische Kronik handelt es sich um einen von einem unbekannten Redakteur der Zeitung verfassten Bericht über das „orientalische“ Spektakel.
1. Orientalismus als Wegbereiter des erfolgreichen Geschäftsmodells „Völkerwiese“
Der einzige Stuttgarter Zoo, in dem es Völkerschauen gab, war der Tiergarten Nill, der von 1871–1906 bestand. Die sogenannte „Völkerwiese“ befand sich auf einem zentralen Platz im Tiergarten und wurde im Winter in eine künstliche Eisbahn umfunktioniert. Adolf Nill, der den Tiergarten von seinem Vater übernommen hatte, berichtet in einer für seine Söhne verfassten Lebenserinnerung von 14 Völkerschauen, die zwischen 1881–1906 auf der Nillschen „Völkerwiese“ auftraten.[14] Im nächsten Kapitel werden die „Feuerländerschau“ und die „Tunesenschau“ exemplarisch analysiert. Die Schauen wurden nicht von Nill selbst zusammengestellt, sondern gastierten in Stuttgart im Rahmen von Tourneen, die von Impresarios wie Carl Hagenbeck, Josef Menges, Heinrich Möller und Carl Marquardt organisiert und inszeniert wurden. Diese ließen die Vertreter außereuropäischer Kulturen meist durch Tierhändler anwerben, wobei darauf geachtet wurde, dass solche Darsteller ausgewählt wurden, die die bestehenden Klischees der Europäer bedienten. Die Ausgestellten sind nicht als reine Opfer skrupelloser Impresarios zu sehen, sondern auch als Geschäftspartner, die sich unter anderem aus finanziellem Interesse ausstellen ließen. Bei den Vertragsverhandlungen in ihren Heimatländern wusste sie aber oft nicht, auf was sie sich einließen und erhielten bloß einen Bruchteil der Erträge der Schauen. Tiergartenleiter Adolf Nill schreibt über die Beziehung zwischen ihm und den Darstellern des „Negervolkes Dinka“:
„Diese Leute wurden so anhänglich an mich, dass sie mir bei einem gelegentlichen Besuche auf dem Münchner Oktoberfest, als sie mich entdeckten, einen Extrahuldigungstanz zum Besten gaben und nach Schluss der Vorstellung begrüssten sie mich alle mit einem Händedruck."[15]
Hier wird das orientalistische Denken Nills deutlich, er interpretiert die freundliche Begrüßung der Afrikaner als eine Huldigung. Dies zeigt, dass er sich dem Anderen, „diesen Leuten“ überlegen fühlt, obwohl diese gerne als „unkultivierte, wilde“ Dargestellten Herrn Nill mit dem westlich geprägten Handschlag begrüßen. Interessant wäre es zu wissen, wie Afrikaner selbst diese Situation wahrnahmen, um sie mit Nills Gedanken abzugleichen, doch leider existieren keine Quellen, die darüber Auskunft geben könnten. Grundsätzlich scheinen die Dargestellten Nill positiv gestimmt gewesen zu sein, was auf eine gute Behandlung der Ausgestellten im Tiergarten Nill schließen lassen könnte.
Die Inszenierungen des „Exotischen“ auf der „Völkerwiese“, die teilweise ein „ganzes Dorf mit Hütten und Palmen“[16] umfassten, wurde mit weiteren Attraktionen wie den Auftritten der Löwenbändigerin Miss Heliot und den im Zoo startenden Ballonfahrten gleichgesetzt. Die große finanzielle Bedeutung der Schaustellungen für den Zoo sowie die Zusammensetzung der Besucher wird an folgenden Stellen in Nills Erinnerungsschrift deutlich:
„Die mehrfachen Völkerschauen brachten immer einen grossen Zulauf, so dass die Volkstümlichkeit des Tierparks gerade diesen Veranstaltungen zuzuschreiben war.“[17] „Das den Tiergarten besuchende Publikum setzte sich aus allen Schichten der Stuttgarter Bevölkerung zusammen. Sogar die Mitglieder des Königlichen Hauses fehlten nicht.[18] „An den billigen Sonntagen und wenn Sonderschauen stattfanden, war der Andrang sehr gross, so dass kaum mehr durchzukommen war. Einmal bei der Vorführung der Dinkatruppe, stieg die Zahl der Besucher an einem solchen billigen Sonntage auf die enorme Höhe von 22000 Personen.“[19]
Der finanzielle Benefiz war also das Hauptmotiv für Adolf Nill, die Völkerschauen in seinem Park auftreten zu lassen. Der große Besucherandrang, aus dem der finanzielle Gewinn folgte, welcher Impresarios und Zooleiter erst dazu motivierte, die Schauen zu veranstalten, wurde wiederum erst möglich durch das vom Orientalismus geprägte Denken der zeitgenössischen Gesellschaft, das über alle Klassen hinweg ging. Dadurch grenzen sich die Präsentationen auf der „Völkerwiese“ von den Schauen der Stuttgarter Kolonialausstellung 1928 ab, die vor allem aus kolonialrevisionistischen Motiven veranstaltet wurde.
[...]
[1] Dittrich, Lothar/Rieke-Müller, Annelore: Carl Hagenbeck (1844–1913). Tierhandel und Schaustellungen in Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main (Peter Lang) 1998.
[2] Albrecht, Uwe: Vergnügungen und Belehrungen. Die Geschichte bürgerlicher Stuttgarter Tiergärten im 19. Jahrhundert. 2. Teil: Nills Tiergarten (1871–1906), in: Zoologischer Garten N.F. 71 (2001) 1, S. 15–56.
[3] Kurz, Jörg: Vom Affenwerner bis zur Wilhelma. Stuttgarts legendäre Tierschauen, Stuttgart (belser) 2015.
[4] Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Frankfurt am Main/New York (Campus) 2005.
[5] Wolter, Stefanie: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt am Main/New York (Campus) 2004.
[6] Bancel, Nicolas/Blanchard, Pascal/Boetsch, Gilles/Lemaire, Sandrine: MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit, Hamburg (Les Éditions du Crieur Public) 2012.
[7] Thode-Arora, Hilke (Hrsg.): From Samoa with Love? Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich – eine Spurensuche, München (Hirmer) 2014.
[8] Thode-Arora, Hilke: Für Fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt am Main/New York (Campus) 1989.
[9] Brändle, Rea: Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa, Zürich (Chronos) 2007.
[10] Zimmerer, Jürgen: Kolonialismus und kollektive Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 2013, S. 15.
[11] Vorweg sei gesagt, dass Saids Orientalismus-Theorie mit Bedacht angewandt werden muss, da problematische Homogenisierungen vorprogrammiert sind: Nicht nur die Anderen werden ihrer Individualität beraubt, auch das Eigene wird zu einer verallgemeinerten Einheit, in der alle unter Generalverdacht stehen, Komplize dieses Diskurses zu sein (Vgl. Dhawan, Nikita/Do Mar Castro Varela, María: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld (transcript) 2015, S. 106).
[12] Nill, Adolf: Geschichte des Tiergarten Nill, Stuttgart 1906 (Archiv Prof. Dr. Nill, Tübingen).
[13] Bazlen, Julius: Beim Nill. Erinnerungen aus dem Tiergarten, Stuttgart (Wegner) 1925 (Archiv Prof. Dr. Nill, Tübingen).
[14] Nill, Adolf (1906), S. 46–49.
[15] Nill, Adolf (1906), S. 48.
[16] Ebd.
[17] Ebd., S. 46–47.
[18] Ebd., S. 53.
[19] Nill, Adolf (1906), S. 54.