Nach allen Erfahrungen möchte man meinen, dass die Intelligenz eine Angelegenheit des Gehirns ist und die Gefühle vom Herzen aus gesteuert werden. Doch mit dieser stereotypen These scheint sich der englische Choreograf Nigel Charnock überhaupt nicht anfreunden zu wollen. Darum lautet der Titel seines Stücks „The Intelligence of the Heart“, also „Die Klugheit des Herzens”, wodurch er dieses eigentlich allgemeingültige Prinzip vollends im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellt. Damit entdeckt Charnock ein Schwarzes Loch der menschlichen Existenz. Denn durchaus hat das Herz nach Charnock einen Sinn für die Klugheit und im Grunde weiß der Mensch das auch. Nur die Vergesellschaftung und Reglementierungen hin zur Vernunftmaschine haben spezifisch traumatische Menschmutationen ausgelöst, unter anderem also auch, dass der Mensch keinen Kontakt mehr zu seinem Wissen des Herzens hat. Die Trennungen zwischen Gefühlen und Vernunft haben sich etabliert und gefestigt. Gefühle zu haben, vielmehr noch sie zu zeigen, gilt als kindlich, ist nicht „in“, sondern fällt unter die Rubrik „Wischi-Waschi“. Vernünftig oder intelligent dagegen ist beispielsweise das Rechnen, die Ökonomie oder die Politik. Dabei vergisst der Mensch allerdings, dass das Herz eine Fähigkeit zu einer anderen Art des Wissens hat. Ein Wissen, welches einen Menschen führen und leiten kann, das es lieben und leiden lässt. Von diesen Hypothesen des Herzen ließ sich Charnock nun verleiten und kreierte gemeinsam mit seinen Tänzern der finnischen „Helsinki Dance Company“ das Stück „The Intelligence of the Heart“. Man könnte diese Reigen an Ta nz, Musical, Drama und Show auch als einen Cocktail der Chancen bezeichnen, in Anlehnung an das diesjährige Festivalmottos „Die Liebe = Chance der Unmöglichkeit“, doch Charnock bietet mehr als ausschließlich das „love-looking“ und das Durchstöbern der Gefühle von allen Seiten und Zeiten. Nach Charnock setzt sich das Stück aus all den Seinsfragen zusammen, die ihn bewegten: die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage nach Gott, die Suche nach Liebe. Und gerade von der Suche nach Liebe ist das Stück durchtränkt. Das Stück sei ein Zeugnis einer Auferstehung und handele von Menschen und deren Beziehungen, ob zu Gott oder zum Partner, so Charnock. Dementsprechend scheinen die Tänzer als Zeitreisende zu fungieren. [...]
Inhaltsverzeichnis
- 10 Rezensionen aus dem Hauptprogramm:
- 1.1. „The Intelligence of the Heart“ von Nigel Charnock
- 1.2. „Tanzgeschichten“ von Raimund Hoghe
- 1.3. „Alcesti“ von Michele Abbondanza und Antonella Bertoni
- 1.4. „Maria Dolores“ von Wayn Traub
- 1.5. „Orpheus ohne Echo“ von Gisela Höhne
- 1.6. „Sex in the Warzone“ von Kate Pendry
- 1.7. „Wings at Tea“ von Tatiana Baganova
- aus dem Vorprogramm:
- 1.8. „Tagwerk - Werkstatt - Tanz“ von Martina La Bonté / Takashi Iwaoka
- 1.9. „Fett Frei und Fast Free“ von Vivienne Newport
- Rezension für „Neues Deutschland“ (veröffentlicht am 13.11.03):
- 2. „Die List der Liebe“ - Zusammenfassung des Festivals
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Rezensionssammlung „Die „euro-scene“ im Spiegel der Reflexion - 11 Rezensionen zum 13. internationalen Leipziger Tanz- und Theaterfestival „euro-scene“ im Jahr 2003“ von Thomas Seifert beleuchtet die Vielfältigkeit und die künstlerischen Ausdrucksformen des Festivals. Der Autor analysiert die Stücke anhand unterschiedlicher Kriterien und beleuchtet dabei sowohl die inhaltlichen Aspekte als auch die performativen Besonderheiten.
- Die Verbindung von Tanz und Theater
- Die Rolle der Körperlichkeit in der Kunst
- Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen
- Der Einfluss verschiedener künstlerischer Traditionen
- Die Suche nach neuen Ausdrucksformen
Zusammenfassung der Kapitel
1.1. „The Intelligence of the Heart“ von Nigel Charnock
Die Rezension analysiert Charnocks Stück „The Intelligence of the Heart“ als einen Versuch, die „Klugheit des Herzens“ im Kontrast zur Vernunft und der Vergesellschaftung aufzuzeigen. Das Stück verbindet Elemente von Tanz, Musical, Drama und Show und zeichnet eine Zeitreise durch die Vergangenheit und Zukunft, die die verschiedenen Seiten des menschlichen Seins beleuchtet. Die Kritik hebt dabei die ironische und humorvolle Inszenierung hervor sowie die konsequente Auslotung menschlicher Konflikte und Obsessionen.
1.2. „Tanzgeschichten“ von Raimund Hoghe
Die Rezension zu Hoghes „Tanzgeschichten“ beschreibt die Auseinandersetzung des Choreografen mit den Themen Langsamkeit, Ästhetik und Körpersprache. Der Autor geht auf den provokativen Charakter der Inszenierung ein und zeigt, wie Hoghe in seiner Choreografie die Ausgrenzung des behinderten Körpers thematisiert und gleichzeitig neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung aufzeigt.
- Quote paper
- Thomas Seifert (Author), 2004, Die "euro-scene" im Spiegel der Reflexion. 11 Rezensionen zum 13. internationalen Leipziger Tanz- und Theaterfestival "euro-scene" im Jahr 2003, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/35394