Die Verfassung Saudi-Arabiens zu beschreiben, bedeutet eigentlich den Koran und die Sunna, die Überlieferung von Aussprüchen und Taten des Propheten Mohammed, zu beschreiben, denn diese werden gleich zu Beginn der einen grundlegenden Gesetzessammlung als die einzig wahren Quellen juristischer Norm festgelegt.
Im Folgenden wird vor allem das saudi-arabische Grundgesetz der Herrschaft (an-niẓāmu l-asāsī li-l-ḥukmi) beschrieben, das die grundlegende Struktur des Staates, sowie diejenigen Grundrechte und Grundpflichten seiner Bürger und seiner Besucher beschreibt, die über die in der Šarīʿa gewährten und auferlegten Rechte und Pflichten eines Muslims hinausgehen. Dieses Grundgesetz gibt Zeugnis über das Machtgefüge in Saudi-Arabien und über den Einfluss des Islams, sowohl auf die Politik, denn selbst der König ist als Teil der Gesellschaft den Regeln des Korans unterworfen, als auch, und vor allem, auf die Bevölkerung, deren Zusammenleben bis ins Kleinste durch religiöse Vorschriften determiniert ist.
Insbesondere die Rechtssprechung ist durch die ʿUlamāʾ bestimmt, allerdings muss ebenso jedes Gesetz bzw. Dekret (mehr zu den Begriffen weiter unten) theoretisch den religiösen Vorschriften entsprechen. Inwieweit aber die Gewalt in dieser Frage wirklich von der Religion ausgeht und inwieweit der König die Instanz der letzten Entscheidung ist, bleibt zu klären.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wesen des saudi-arabischen Grundgesetzes
3. Historische Hintergründe
4. Aufbau des Grundgesetzes
4.1 Souverän und Staatsoberhaupt
4.2 Wahlrecht
4.3 Konsultativrat
4.4 Grundrechte
4.5 Kulturbezug
4.6 Eigentum
4.7 Steuern und Staatsfinanzen
4.8 Geldpolitik/Geldumlauf
4.9 Verfassungsgerichtbarkeit
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Glossar
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die Verfassung Saudi-Arabiens zu beschreiben, bedeutet eigentlich den Koran und die Sunna, die Überlieferung von Ausprüchen und Taten des Propheten Mohammed zu beschreiben, denn diese werden gleich zu Beginn der einen grundlegenden Gesetzessammlung, über die ich schreiben will, als die einzig wahren Quellen juristischer Norm festgelegt. Im Folgenden wird vor allem das saudi-arabische Grundgesetz der Herrschaft (an-ni ẓā mu l-as ā s ī li-l- ḥ ukmi) beschrieben, das die grundlegende Struktur des Staates, sowie diejenigen Grundrechte und Grundpflichten seiner Bürger und seiner Besucher beschreibt, die über die in der Šarīʿa gewährten und auferlegten Rechte und Pflichten eines Muslims hinausgehen. Dieses Grundgesetz gibt Zeugnis über das Machtgefüge in Saudi-Arabien und über den Einfluss des Islams, sowohl auf die Politik, denn selbst der König ist als Teil der Gesellschaft den Regeln des Korans unterworfen, als auch, und vor allem, auf die Bevölkerung, deren Zusammenleben bis ins Kleinste durch religiöse Vorschriften determiniert ist. Insbesondere die Rechtssprechung ist durch die ʿUlamāʾ bestimmt, allerdings muss ebenso jedes Gesetz bzw. Dekret (mehr zu den Begriffen weiter unten) theoretisch den religiösen Vorschriften entsprechen. Inwieweit aber die Gewalt in dieser Frage wirklich von der Religion ausgeht und inwieweit der König die Instanz der letzten Entscheidung ist, bleibt zu klären.
Außer dem bereits genannten, setzt sich diese Arbeit zum Ziel, das saudi-arabische Grundgesetz auf die gemeinsam erarbeiteten Hauptpunkte zum Verfassungsvergleich zu untersuchen, also namentlich auf die Rolle von Souverän und Staatsoberhaupt und Volksvertretung, das Wahlrecht und die Grundrechte, das positive Recht, Kulturbezug/ Gewohnheitsrecht, Eigentum, Steuern und Staatsfinanzen, Geldumlauf und Geldpolitik, sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit. Darüber hinaus möchte diese Arbeit besondere Charakteristika des saudi-arabischen Modells herausarbeiten.
Dazu werde ich zunächst die Geschichte Saudi-Arabiens beleuchten, und die Verhältnisse, sowie Entwicklungen herausstellen, die zur Erlassung des Grundgesetzes geführt haben und die seinen Inhalt bedingt haben. Nach der historischen Einbettung erfolgt im Hauptteil die Arbeit am Text, nämlich des arabischen Originaltextes des Grundgesetzes der Herrschaft. Hier werde ich im ersten Teil versuchen, das Wesen des Textes zu erfassen und eine grobe thematische Einteilung vornehmen. Danach werden einzelne Artikel genauer betrachtet und entsprechend der jeweiligen Thematik eingeordnet. Im dritten Unterkapitel des Hauptteils werden schließlich einzelne Probleme, wie Eigentum und Steuern (siehe oben) behandelt.
An den Stellen, wo es von Interesse schien, wurde direkt aus dem Gesetzestext zitiert. Wo es nötig war, arabische Textstellen, Eigennamen oder Termini in lateinischer Schrift darzustellen, wurde nach den Transliterationsregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) gerichtet. Daher kann es sein, dass die Darstellung allgemein bekannter Eigennamen oder Begriffe von gewohnter Form abweichen kann. Die arabischen Textstellen stammen ausnahmslos aus dem Text des Grundgesetzes der Herrschaft (siehe Quellenangaben). Alle Übersetzungen aus dem Arabischen stammen - sofern nicht anders angegeben - von mir selbst.
2. Wesen des saudi-arabischen Grundgesetzes
In Artikel 1 des saudi-arabischen Grundgesetzes der Herrschaft (wörtlich: die Grundordnung der Herrschaft, arab: an-ni ẓā mu l-as ā s ī f ī l- ḥ ukmi) werden Koran und Sunna als Verfassung des Landes festgelegt:
Und seine (Saudi-Arabiens) Verfassung ist das Buch Gottes, des Erhabenen und die Sunna seines Propheten, Gott segne ihn und schenke ihm Heil (Wa dust ū ruh ā kit ā bu llahi ta ʿā l ā wa sunnatu ras ū lihi ṣ all ā llahu ʿ aleihi wa sallam). 1
Das hier beschriebene Grundgesetz ist also, als säkulare Ergänzung zu den bestehenden göttlichen Gesetzen und als dem Koran und der Sunna, untergeordnet zu verstehen. Explizit wird das in Artikel 7 festgehalten: „Das Regierungssystem begründet seine Autorität auf dem Buch des Erhabenen Gottes und aus der Sunna seines Propheten, welche vor diesem Gesetz und vor allen Gesetzen des Staates Vorrang haben.“ [Twal (2003): 156]
So muss auch zunächst eine Einordnung der Bezeichnung des im Folgenden beschriebenen Gesetzes vorgenommen werden. Das Gesetz selbst bezeichnet den Koran sowie die Überlieferungen des Propheten als die Verfassung des Landes und die š ar īʿ a als Ursprung eines jeden Gesetzes. Darüber hinaus kann es keine weltliche Instanz geben, die Gesetze erlässt. Somit verbietet sich praktisch ein Gebrauch der Termini q ā n ū n (Gesetz) und mu š arri ʿ (Gesetzgeber), wie sie dem westlichen Rechtsverständnis entsprechen. So wird im Namen dieses Regelwerkes zum Beispiel ni ẓā m anstatt q ā n ū n verwendet, also System, Ordnung anstatt Gesetz/Gesetzeswerk. Die einzelnen Gesetze werden mars ū m (Erlass) genannt. Sowohl das Grundgesetz als auch jedes andere Gesetz soll das göttliche Gesetz, die š ar īʿ a lediglich ergänzen, nicht ersetzen. [Nevo 1998: 35]
Trotz dieser Problematik wird im Folgenden der Begriff Grundgesetz der Herrschaft beziehungsweise verkürzt Grundgesetz verwendet, da er der Bedeutung des Textes und unserem Verständnis entspricht und dabei wird auf Twal und Schmidt (siehe Literaturverzeichnis) berufen, die ebenfalls diesen Begriff verwenden.
3. Historische Hintergründe
Das Königreich Saudi-Arabien wurde 1932 von ʿAbd alʿazīz ibn ʿAbd ar-raḥmān al-Saʿūd, Ibn Saʿūd genannt, gegründet. Vorausgegangen waren immer wieder ausbrechende Stammesfehden und Machtkämpfe, vor allem mit dem Stamm der al-Rašīd. Die neuere Saudische Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert mit einem Bündnis, die bis heute eine zentrale Bedeutung für die Geschicke des Landes hat. Der Stammesführer Muḥammad Ibn Saʿūd, der im Konkurrenzkampf mit anderen Stämmen steht, nimmt den geflüchteten Prediger Muḥammad ʿAbd al-Wahhab bei sich auf. ʿAbd al-Wahhab war bei den meisten anderen Herrschern im Hiǧāz in Ungnade gefallen, da er Umkehr predigte und große Teile des Volksglauben verurteilte. Er berief sich dabei auf Ibn Hanbal und die späteren Auslegungen von Ibn Taymīya und vertrat eine strenge Auslegung des Korans und eine genaue Orientierung am Beispiel des Propheten. Indem er auch die Herrscher in die Verantwortung nahm, für eine rechtschaffene Gesellschaft nach islamischen Grundsätzen seiner Vorstellung zu sorgen, machte er sich viele Feinde. Das Ziel seiner Lehre war eine Gesellschaft, die sich am Beispiel der ersten muslimischen Gemeinde in Medina unter der Herrschaft des Propheten Muḥammad und kurz nach seinem Tod messen ließ. Eine solche Gesellschaft pflegte, nach ʿAbd al-Wahhabs Ansicht, einen strengen Monotheismus und eine Regierungsform, die sich nach den Gesetzen der Šarīʿa richtet. In Ibn Saʿūd fand in ʿAbd al-Wahhab einen einflussreichen Anhänger, der ihm Schutz und den Kampf für den rechten Glauben versprach. Im Gegenzug gab ihm ʿAbd al-Wahhab die so bedeutende religiöse Legitimation. Das gemeinsame Bündnis, das für Saʿūd und seine Nachkommen die Führung des Landes, für ʿAbd al-Wahhab und seinen Nachkommen wiederum die religiöse Autorität vorsah, wurde 1745 geschlossen und hat bis in die jüngste Zeit Relevanz. Es bestimmt die starke Rolle des Islams im saudi-arabischen Staat. Nach der Zerstörung des durch Ibn Saʿūd gegründete erste saudische Königreich durch Muḥammad ʿAlī am Anfang des 19. Jahrhunderts folgte eine Phase der anhaltenden Widerstandskämpfe der al-Saʿūd und anderer Stämme des Hiǧāz und Naǧd gegen die ägyptisch-osmanische Besatzung. 1824 gelang es einem Sohn des Staatsgründers Ibn Saʿūd, die Osmanen in einer entscheidenden Schlacht zu schlagen und sie aus dem Land zu vertreiben, was den Weg zur Gründung des zweiten saudischen Staates ebnete. Auch dieser Staat sollte allerdings nicht lange währen. 1891 waren es dann die alten Rivalen des al-Rašīd-Stammes, die es schafften, die Macht an sich zu bringen und die alSaʿūd ins Exil zu zwingen. Zwar begann der Gründer des heutigen saudischen Königreichs, ʿAbd al-azīz ibn ʿAbd ar-raḥmān al-Saʿūd, ebenfalls Ibn Saʿūd genannt, bereits 1902 mit der Einnahme der Festung al-Masmak in Riad, das vormals saudische Territorium zurückzuerobern, allerdings sollte es weitere dreißig Jahre dauern, bis Saudi-Arabien in seinen heutigen Grenzen wiedervereinigt war. [Twal 2003: 35-37]
Der Grundstein zur Gründung des heutigen Saudi-Arabien war die Eroberung des Hiǧāz durch Truppen Ibn Saʿūds 1926 und die Integrierung des Naǧd in ein gemeinsames Territorium. Der moderne Staat Saudi-Arabien, wie wir ihn heute kennen, besteht seit der Ausrufung Ibn Saʿūds als König im Jahre 1932, nachdem die letzten der von den al- Saʿūds beanspruchten Territorien im Norden des Jemen erobert worden waren. Danach begnügte man sich mit der Stabilisierung des Landes und der Konsolidierung der eigenen Macht und verzichtete auf weitere expansionistische Unternehmungen. Auch wurde dabei die wahhabitische (nach der nach Muḥammad ʿAbd al-Wahhab benannten religiösen Strömung) Reformpolitik fortgesetzt. Mit der Entdeckung des Erdöls in den 1930er Jahren öffnete sich für das Land das Tor zur Modernisierung, und das Interesse britischer und amerikanischer Unternehmen an Saudi-Arabien stieg. Es begann eine Phase des Wohlstands, zugleich ergab sich aber auch ein Widerspruch zwischen der unbeschränkten Modernisierung und der strengen wahhabitischen Auslegung des Islams. Auch der Wohlstand betraf vor allem einige wenige Familien, während andere in extremer Armut verblieben. Dennoch gab es besonders in den Städten einen wachsenden Mittelstand und die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen nahmen Schritt für Schritt Gestalt an. [Nehme 1994: 931]
Trotz immenser Ausgaben zur Schaffung eines Wohlfahrtsstaates, dessen umfassende Leistungen keinen Nährboden für politische und geistige Gegenbewegungen bieten, waren innere Machtkämpfe die Folge der Modernisierung und sie bestimmten die Politik des Landes bis auf den heutigen Tag. [Schmidt 2006: 106-107]
Auch gab es während der 50er Jahre immer wieder Streiks wegen den Arbeitsbedingungen, vor allem in der Ölindustrie. Sie führten zur Gründung des Arbeiterkomittees und zu politischen Gruppierungen und stellten ein signifikantes emanzipatorisches Element für die immer noch überwiegend in Stammesstrukturen organisierten Arbeiter dar, wie Nehme (1994: 933) unterstreicht: „This committee was the first organized movement in which Saudi workers developed a political perspective which united them outside their tribal affiliations.“ Die Reaktion des Königs fiel entsprechend drastisch aus: Er ließ 1956 Streiks jeglicher Art durch königliches Dekret verbieten und stellte sie unter Strafe. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Spannungen als auch der Machtkämpfe innerhalb der Königsfamilie, gab es immer wieder Vorschläge - meist von Mitgliedern des saudischen Königshauses oder religiösen Würdenträgern - über Reformprogramme, z. B. 1962 durch Prinz Faiṣal, und sogar Initiaven, dem Land eine Verfassung zu geben. So legte Prinz Ṭalāl 1961, damals Minister für Kommunikation, inspiriert durch den Arabischen Nationalismus und die westliche Demokratie, einen Entwurf zu einer Verfassung vor. Der damalige König Saʿūd aber hatte kein Interesse daran, das politische System zu reformieren und sah die Bestrebungen Ṭalāls sogar als so schädlich an, dass er ihn zum Rücktritt zwang. Paradoxerweise hatte gerade König Saʿūd zuvor, während eines Machtkampfes mit seinem Kronprinz Faiṣal, die Einführung einer Verfassung in Aussicht gestellt. Den später ausgefertigten Entwurf des Ministerrates dazu verweigerte er dann zu unterzeichnen, was den Beginn einer politischen Krise markierte, die schließlich zu seiner Absetzung führte und ihn ins Exil zwang.
[Nehme 1994: 933-935]
Die Verabschiedung des Grundgesetzes erfolgte schließlich nach einer Phase von internationalen und regionalen Veränderungen während der 80er Jahre. Ohne irgendwelche politische Zugeständnisse, weg von den strengen saudi-arabischen Traditionen oder gar in Richtung Demokratisierung zu machen, versuchte Saudi-Arabien sich einer westlichen technischen Modernisierung anzupassen. Nachdem bereits während der 70er Jahre der Entwurf eines verfassungsähnlichen Statuts folgenlos angekündigt worden war, wurde das Herrscherhaus im Februar 1991 in einer schriftlichen Erklärung von Geschäftsleuten und Beamten aufgefordert, das gegebene Versprechen einzulösen und ein Statut zu schaffen, das die Rolle der Regierung und ihre Beziehung zu den Untertanen definiert. Sie forderten dabei Dinge wie Meinungsfreiheit, politische Teilhabe der Bevölkerung, außerdem eine Reformierung der religiösen Polizei.
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