Am 31. Oktober 1890 erließ der preußische Kultusminister 2 Gustav von Goßler ein Einladungsschreiben, in welchem er 43 Abgeordnete, Professoren, Lehrer, Ministerial- und Schulräte aber auch Geistliche beider Konfessionen und Offiziere ersuc hte, über eine „Reihe wichtiger, das höhere Schulwesen in Preußen betreffender Fragen“ zu beraten. 3
Durch die Einberufung der Konferenz, bei der die Teilnehmer vom 4. bis zum 17. Dezember im Berliner Kultusministerium einen Katalog von 14 Fragen 4 durcharbeiteten, kam von Goßler Reformappellen der Öffentlichkeit nach. Forderungen verschiedener Interessengruppen nach einer Stärkung realkundlicher Lehrinhalte waren immer lauter geworden. Die seit Dekaden schwelende, als ‚Schulkrieg’ bezeichnete Auseinandersetzung zwischen Befürwortern eines an klassisch-humanistischer Bildung orientierten höheren Schulwesens und den Verfechtern der realkundlichen Lehre sollte beigelegt werden. Die neuen Lehrpläne, die auf Empfehlung des Gremiums hin entworfen und im April 1892 eingeführt wurden, nahmen beide Konfliktparteien mit Mißmut entgegen. 5 Die Humanisten beklagten bittere Kürzungen des altertumkundlichen Lehranteils, die ‚Realisten’ hatten die erstrebte Gleichstellung der höheren Realanstalten mit dem Gymnasium in Bezug auf die Zulassung zum Universitätsstudium nicht durchsetzen können. Der schulpolitische Kampf ging weiter.
INHALT
1. Einleitung
2.1 Das preußische Gymnasium im 19. Jahrhundert
2.2. Vorzeichenwechsel im höheren Unterrichtswesen - Die preußische Schulkonferenz von 1890
I. Die neue Prägung: Zur Patriotisierung des gymnasialen Unterrichts
II. Die neue Aufgabe: Zur Politisierung der schulischen Erziehung
III, Das neue Vorbild: Die Militarisierung der höheren Pädagogik
3. Schluß
4. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank,
nicht mehr das Volk der Denker und Dichter,
es strebt modernen und praktischen Zielen zu.“
Heinrich Mann - Der Untertan[1]
Am 31. Oktober 1890 erließ der preußische Kultusminister[2] Gustav von Goßler ein Einladungsschreiben, in welchem er 43 Abgeordnete, Professoren, Lehrer, Ministerial- und Schulräte aber auch Geistliche beider Konfessionen und Offiziere ersuchte, über eine „Reihe wichtiger, das höhere Schulwesen in Preußen betreffender Fragen“ zu beraten.[3]
Durch die Einberufung der Konferenz, bei der die Teilnehmer vom 4. bis zum 17. Dezember im Berliner Kultusministerium einen Katalog von 14 Fragen[4] durcharbeiteten, kam von Goßler Reformappellen der Öffentlichkeit nach. Forderungen verschiedener Interessengruppen nach einer Stärkung realkundlicher Lehrinhalte waren immer lauter geworden. Die seit Dekaden schwelende, als ‚Schulkrieg’ bezeichnete Auseinandersetzung zwischen Befürwortern eines an klassisch-humanistischer Bildung orientierten höheren Schulwesens und den Verfechtern der realkundlichen Lehre sollte beigelegt werden.
Die neuen Lehrpläne, die auf Empfehlung des Gremiums hin entworfen und im April 1892 eingeführt wurden, nahmen beide Konfliktparteien mit Mißmut entgegen.[5] Die Humanisten beklagten bittere Kürzungen des altertumkundlichen Lehranteils, die ‚Realisten’ hatten die erstrebte Gleichstellung der höheren Realanstalten mit dem Gymnasium in Bezug auf die Zulassung zum Universitätsstudium nicht durchsetzen können. Der schulpolitische Kampf ging weiter.
Die jüngere Forschung stimmt darin überein, daß die Konferenz von 1890 für die Entwicklung des deutschen Schul- und Bildungswesens von erheblicher Bedeutung gewesen ist.
In der diskursiven Bewertung der Folgen herrscht hingegen Unstimmigkeit. Für die neuere Forschung von weitreichender Bedeutung sind die der Frankfurter Universität entstammenden Deutungsmuster der 70er Jahre. Sie betonen die enge Verbindung der Schulfrage mit der wilhelminischen Politik des „Neuen Kurses“.
Heinz-Joachim Heydorn (1973) vertritt in seiner Einleitung zur Neuherausgabe des Konferenztextes[6] die Ansicht, daß die Bildungspolitik des Deutschen Reiches von 1890 an „höheren“ Staatsinteressen untergeordnet und für diese genutzt wurde. Die Realisten, die den Anstoß zu einer Reformkonferenz gegeben hätten, seien erfolglos geblieben und zum „Instrumentarium“ des Imperialismus herabgesunken. Die „Epoche des humanistischen Bürgertums“ sei „endgültig abgeläutet“ worden.[7]
Heydorn spricht, ohne einen gewissen Zynismus dabei vermeiden zu können - von einem ‚systemimmanenten Erfolg’ der wilhelminischen Pädagogik. Es sei der Obrigkeit gelungen, der Schulpolitik die gewünschte Richtung zu geben: „Die potentielle Gefahr wachsender Erkenntnis durch Bildung wurde paralysiert; erweiterte Bildung wurde zum erweiterten Mittel, eine bestehende Herrschaft zu festigen. […] Ohne die deutsche Schule, ohne ihr vorzügliches, systemgerechtes Funktionieren, wäre der Aufstieg des imperialistischen Deutschland […] bis 1914 nicht möglich gewesen.“[8]
Auch die in demselben Umfeld angesiedelte Dissertation Eckhard Glöckners „Zur preußischen Schulreform im Zeitalter des Imperialismus“ (1974) versteht das Jahr 1890 als Zäsur und betont die enge Verknüpfung mit der Außenpolitik. Das klassische neuhumanistische Gymnasium, das nicht geeignet war, den Anforderungen des „Neuen Kurses“ zu entsprechen, sei erfolgreich „ausgehöhlt“ worden, die Bildung „immer tiefer in den Bannkreis imperialistischer Interessen“ gelangt.[9] Die Augusteuphorie von 1914 sei hierfür ein signifikantes Merkmal.
Stärker sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Aspekte rückt die zum Standardwerk gewordene Studie Magret Krauls über „Das deutsche Gymnasium“ (1984) in den Vordergrund. Das gleiche gilt für die ein Jahr zuvor erschienene Arbeit von James C. Albisetti. Er versteht die Tendenzen der Schulreform auch als notwendige Anpassung an die fortschreitende Industrialisierung und an die Nationalstaatsbildung von 1871.
Neuere Studien, vor allem die Dissertation von Johann Caspar Struckmann,[10] spinnen diesen Ansatz fort und versuchen, die Thesen der Frankfurter Studien zu unterlaufen. Struckmann etwa führt an, daß nationale Lehrinhalte keine deutsche Besonderheit dargestellt hätten. Auch die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914, die von Heydorn und Glöckner als Resultat und Kulminationspunkt der nationalen Erziehung verstanden worden war, sei weder spezifisches Merkmal der akademischen Jugend, noch überhaupt ein spezifisch deutsches Phänomen gewesen.[11]
Es soll in Auseinandersetzung mit den skizzierten Deutungsansätzen Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, die bildungspolitischen Impulse, die von den Dezemberverhandlungen ausgingen, in ihrer unmittelbaren und langfristigen Bedeutung zu erschließen.
Welche Bedeutung kommt der Schulkonferenz von 1890 hinsichtlich des Streites zwischen ‚Humanisten’ und ‚Realisten’ zu und was bedeutet sie für die Entwicklung des humanistischen Gymnasiums? Welche Rolle spielt der Kaiser während der Verhandlungen, und wie wirken sich seine persönlichen Ansichten auf die Schulgesetzgebung aus? Stehen die Empfehlungen der Experten in einer Kontinuität zur bisherigen Schulpolitik oder markieren sie eine bildungspolitische Kehrtwende?
Ferner soll ein besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet werden, inwiefern auf die Nation bezogene Lehrinhalte und nationalistische Denkmuster in das höhere Unterrichtswesen Eingang fanden. Kann die Dezemberkonferenz von 1890 als Auslöser einer neuen nationalistischen Dynamik gewertet werden? Zur Klärung dieser Frage wurden exemplarisch die Abiturarbeiten des Königlichen Gymnasiums zu Göttingen[12] der Jahre 1885-1896 als Quellenmaterial herangezogen. Die Aufgabenstellungen im Prüfungsfach Deutsch wurden unter dem Gesichtspunkt nationalistischer Implikationen befragt.
Um zu untersuchen, ob und inwiefern sich das Gymnasium der wilhelminischen Periode von dem der Vorzeit unterscheidet, zeigt es sich zunächst als dienlich, die Kerngedanken des neuhumanistischen Bildungsideals und die Entwicklung des humanistischen Gymnasiums in Preußen in groben Zügen nachzuzeichnen.
2.1 Das preußische Gymnasium im 19. Jahrhundert
Das europäische Schulwesen ist von der christlichen Kirche des Mittelalters geschaffen und geformt worden. Zwar existierten jenseits der Klosterschulen schon in Mittelalter und Früher Neuzeit Lehranstalten, die administrativ und finanziell von weltlichen Institutionen, etwa Städten oder Territorien, getragen wurden. Die Inhalte des Unterrichts blieben jedoch von diesem Einfluß weitgehend frei und beschränkten sich im wesentlichen auf eine am Katechismus der jeweiligen Konfession orientierte theologische Unterweisung, sowie auf das Erlernen des Lateinischen,[13] dessen Beherrschung in Wort und Schrift nach wie vor in allen Fakultäten unabdingbare Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten war. Die städtischen Lateinschulen wiesen auf dieses Ausbildungsziel schon durch ihren Namen hin.[14]
Erst die Aufklärung erzwang eine grundlegende Änderung der Bildungsinhalte. Indem aufklärerisches Gedankengut sich in ganz Europa ausbreitete, wurden Kirche und Religion in ihren Grundfesten erschüttert. Der christliche Glaube als prägender Leitgedanke verlor auf dem Gebiet der Bildung wie in allen Lebensbereichen sukzessiv an Wirkkraft und Autorität.
Die zweite Wurzel der europäischen Kultur, die griechisch-römische Antike, avancierte infolgedessen zum neuen ästhetischen Ideal[15] und fungierte als Vorbild der aufkommenden neuhumanistischen Geistesströmung.
Als deren bedeutendster Vertreter entwarf Wilhelm vom Humboldt ein Bildungsideal, das die freie individuelle Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten[16] und Talente in den Mittelpunkt stellte.
Diesen zentralen Gedanken seiner Bildungsphilosophie formulierte Humboldt in der frühen anthropologischen Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) wie folgt: „Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste unerläßliche Bedingung.“[17]
In der Selbstfindung liegt für Humboldt der Sinn jeder Bildung überhaupt, übertroffen lediglich durch die höchste Utopie, die so gewonnenen Erkenntnisse aller Individuen zu einer Einheit zusammenzufügen, „um die Ausbildung der Menschheit als Ganzes zu vollenden.“[18]
Insofern dürfe der Mensch seine Bildung niemals zu einer zweckgebundenen Ausbildung degradieren, indem er sich etwaigen religiösen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Zwängen unterwerfe und somit seine Bildung, und dadurch sich selbst, auf die Erfüllung einer bestimmten Funktion reduziere.[19] „Überhaupt soll der Mensch zu nichts gemacht werden. Vielmehr soll er sich selbst zu etwas machen.“[20]
Die mittels einer allgemeinen und zweckungebunden Bildung anzustrebende Entfaltung der je eigenen Individualität ist daher die eigentliche und durch nichts zu übertreffende Aufgabe menschlichen Lebens.[21] Kein Grund reiche aus, „diese Individualität für irgend etwas ihr Fremdes zu opfern.“[22]
Daß Humboldt seine Bildungsphilosophie im Zuge des Umbaus des preußischen Unterrichtswesens im beginnenden 19. Jahrhundert praktisch anwenden konnte, verdankte er jedoch nur in zweiter Linie der Strahlkraft seiner theoretischen Schriften. Nicht diese, sondern äußere politische Zwänge gaben in Preußen den Anstoß zu Bildungsreformen. Sie waren Teil des stein-hardenbergschen Reformenwerkes, das Preußen von Grund auf modernisieren sollte, nachdem der preußische Obrigkeitsstaat friderizianischer Prägung sich als altersschwach erwiesen hatte und im napoleonischen Krieg zusammengebrochen war.[23]
In Preußen setzte sich nach und nach die Überzeugung durch, daß nicht nur eine veraltete Gesellschaftsstruktur für die Staatskrise verantwortlich sei, sondern auch die sittlich-moralische Einstellung jedes einzelnen. Auf Nützlichkeitsdenken aufbauende Bildungsziele, wie sie im alten ständisch gegliederten Staat verfolgt worden seien, hätten seinen Untergang befördert und seien daher zu ersetzen durch eine sich über nackten Zweckrationalismus hinwegsetzende Bildung, die nicht Untertanen, sondern Staatsbürger zu erziehen in der Lage ist.[24]
Durch diesen Paradigmenwechsel erfuhren Funktion und Bedeutung der Bildung einen grundlegenden Wandel. In der im Zerfall begriffenen vormodernen Ständegesellschaft waren Bildung und akademische Erziehung Privilegien von Adel und Klerus, Begleiterscheinungen der Standeszugehörigkeit.[25] In der sich formierenden Staatsbürgergesellschaft[26] bestimmte nicht länger die Standeszugehörigkeit die persönlichen Bildungsmöglichkeiten, vielmehr wurde die Bildung des einzelnen nun zum Maßstab seiner sozialen Positionierung in der Gesellschaft.
Individuelle Kompetenz und Leistung ersetzten das tradierte Prinzip der Ämtervergabe nach Geburt und Abstammung und wurden dadurch zum ständeübergreifenden, zum „ständesprengenden“[27] Element. Der Mensch schuf sich „mittels seiner Bildung seinen eigenen gesellschaftlichen Stand.“[28]
Allerdings war ein Gesellschaftssystem, das für die soziale Verortung seiner Mitglieder andere Kriterien als bisher zu Rate zog, darauf angewiesen, die neuen Anforderungen objektiv nachvollziehbar, „überprüfbar“ zu machen.[29]
Ein Staat, der Bildung zum Kriterium des sozialen Aufstiegs erhob, kam nicht umhin, für diese einem bestimmten Standard einzufordern.[30] Dieser fand seine Ausprägung in der wichtigsten Errungenschaft der preußischen Bildungsreform:[31] im humanistischen Gymnasium.
[...]
[1] Mann (1952), S.113.
[2] Eigentlich Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten.
[3] Vgl. Verhandlungen (1891), S. 15f.
[4] Verhandlungen (1891), S. 20.
[5] Glöckner (1974), S. 58.
[6] Die Einleitung trägt den bezeichnenden Titel „Zur Bildungsgeschichte des deutschen Imperialismus“.
[7] Heydorn (1973), S. 8ff.
[8] Heydorn (1973), S. 38.
[9] Glöckner (1974), S. 55.
[10] Auch Günter-Arndt (1989), vgl. S. 257ff. Eine ähnliche, gegen die Sichtweise Heydorns und Glöckners gerichtete Deutung findet sich jedoch auch schon bei Führ (1980).
[11] Struckmann (2001), v.a. S.138-151.
[12] Heute Max-Planck-Gymnasium.
[13] Fuhrmann (2001), S. 136.
[14] Fuhrmann (1999), S. 56.
[15] Fuhrmann (2001), S. 160.
[16] Vierhaus (1972), S. 520.
[17] Humboldt (1960 b), S. 64.
[18] Humboldt (1960a), S. 234.
[19] Vgl. hierzu auch Kraul (1980), S. 26-29.
[20] Menze (1972), S. 7.
[21] Vgl. Müller (1977), S. 137f.
[22] Menze (1972), S. 21.
[23] Preuße (1988), S. 5. Nach Abschluß des Friedens von Tilsit (1807) forderte Friedrich Wilhelm III., der preußische Staat müsse künftig durch geistige Kraft ersetzen, was er an physischer Stärke eingebüßt habe. Vgl. auch Fuhrmann (2001), S. 139.
[24] Fuhrmann (2001), S. 139.
[25] Jeismann (1987), S. 2.
[26] Kraul (1984), S. 23.
[27] Kraul (1984), S. 39.
[28] Jeismann (1987), S. 2.
[29] Kraul (1984), S. 40.
[30] In Preußen findet dieses Interesse seinen Ausdruck auch in der Einführung des Abiturs. Im Ersten Abiturreglement des Jahres 1788 wird einem Teil der traditionellen Lateinschulen das Recht zugestanden, durch eine Abschlußprüfung auf das Universitätsstudium vorzubereiten. Das Abitur nach Maßgaben des Jahres 1788 räumt den Absolventen noch keine einklagbare Berechtigung zum universitären Studium ein, sondern kann nur als Vorbereitung gelten.
Das Zweite Preußische Abiturreglement von 1812 wertet das Abitur auf, indem es die Abschlußprüfung zur Voraussetzung für den späteren Eintritt in den Staatsdienst macht. Erst die Neufassung des Reglements (1834) macht das Abitur zur unerläßlichen Voraussetzung des Hochschulstudiums, indem es den Universitäten verbietet, Erstsemester ohne Abitur aufzunehmen. Vgl. Kraul (1984), S. 24 und 38ff.
[31] Fuhrmann (2001), S. 141.