Erasmus von Rotterdam ist der wohl berühmteste Gelehrte der Frühen Neuzeit. Die Zeit, in der er lebte, wurde von vielen Zeitgenossen als eine des wiederaufblühenden Gelehrtentums angesehen. Zudem waren alle Vorstellungen von Familie, Staat und Gesellschaft von einem verschachtelten Rangsystem geprägt. Es herrschte eine Stufung von Obrigkeit und Untertan und die Gesellschaft war in verschiedenen Ständen organisiert.
In dieser geistigen Ordnung stellten auch die Gelehrten einen Stand dar. Im 16./17. Jahrhundert hatten weltliche Gelehrte damit begonnen, aus dem Schatten ihrer klerikalen „Kollegen“ zu treten und sich ein eigenes Ansehen zu erarbeiten. Die Erfindung des Buchdrucks ermöglichte einen ausgiebigeren Wissensaustausch der Gelehrten untereinander und durch Reisen und gegenseitige Besuche entstand unter ihnen ein Bewusstsein dafür, Teil einer "Gilde" zu sein. In dieser Arbeit werden vier Werke Erasmus in Bezug auf das Vorkommen und die Art etwaiger Gelehrtendarstellungen untersucht. Dabei handelt es sich um "Lob der Torheit", "Der Ciceronianer oder der beste Stil", "Adagiorum collectanea" und "Collquia familaria".
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitendes zur humanistischen Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit
2. Leben und Karriere des Erasmus von Rotterdam..
3. Die Darstellungen von Gelehrten in seinen Werken..
3.1 Adagiorum collectanea.
3.2 Colloquia familiaria.
3.3 Lob der Torheit
3.4 Der Ciceronianer oder der beste Stil
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis.
1. Einleitendes zur humanistischen Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit
Für die Betrachtung der Thematik der Darstellung von Gelehrten in den Werken des wohl berühmtesten Gelehrten der Frühen Neuzeit, Erasmus von Rotterdam, ist es erforderlich, zunächst auf einige Dinge zur Kontextualisierung und Klärung des Betrachteten einzugehen.
Ein zentrales Kriterium dafür, als Gelehrter im 16. Jahrhundert zu gelten, war die Kenntnis der klassischen Sprachen Griechisch, Hebräisch und Latein. Vor allem letztere war eine unabdingbare Voraussetzung für das Bekleiden höherer Ämter oder klerikaler Positionen. Der Ansatz, dass es jeder Person prinzipiell möglich war, als Gelehrter zu gelten, sofern sie etwas publiziert hatte und sich mit öffentlichen Themen befasste, ist zu weit gefasst.[1] Auch eine Verbindung zu einer Universität muss nicht als zwingende Voraussetzung erachtet werden. Nichtsdestotrotz sind gute Kenntnisse der lateinischen Sprache und das Studium an einer Universität die Merkmale, die einen „gelehrten“ von einem „gemeinen Mann“ unterschieden.[2] Als die prestigeträchtigsten Wissensbereiche für Gelehrte galten die drei großen Bereiche Theologie, Jura und Medizin. Das Studium an einer Universität war in zwei Abschnitte gegliedert. Zunächst, als „Anfänger“ im Studium, studierte man das sogenannte „Trivium“, bestehend aus den Bereichen Grammatik, Logik und Rhetorik. Der nächste, darauf aufbauende Schritt bestand im „Quadrillium“, bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.
Die Zeit, in welcher Erasmus lebte, wurde von vielen, auch ihm selbst, als ein Zeitalter des „Wiederaufblühens“ der Gelehrsamkeit in vielen Bereichen gesehen.[3] Zudem waren alle Vorstellungen von Familie, Staat und Gesellschaft von einem verschachtelten Rangsystem geprägt. Es herrschte die Stufung von Obrigkeit und Untertan und die Gesellschaft war in verschiedenen Ständen organisiert. Dieser Gedanke ging zurück auf die Vorstellung einer groß übergeordneten, von Gott gewollten Ordnung. Daraus ergab sich eine Ständegliederung in Über-, Unter- und Nebenordnung.[4] Man dachte sehr stark in Ordnungsgruppen, respektierte und ehrte eher den Stand als die individuelle Person und legte sehr viel Wert auf äußerliche repräsentative Formen. Dinge wie Kleidung, Trachten, Titel und Rechte waren den gesellschaftlichen Ständen genau zugeordnet und dienten auch dazu, sich von anderen Ständen zu unterscheiden und abzugrenzen.
In dieser geistigen Ordnung stellten auch die Gelehrten einen Stand dar. Im 16./17. Jahrhundert hatten weltliche Gelehrte damit begonnen, aus dem Schatten ihrer klerikalen „Kollegen“ zu treten und sich ein eigenes Ansehen zu erarbeiten. Die weltlichen Gelehrten waren sich ihrer humanistischen Bildung bewusst und fühlten sich durch sie vom übrigen Volk abgehoben.[5] Sie bemühten sich demzufolge auch, eine geschlossene Gruppe hohen Ranges zu bilden und abzugeben. Gemäß den bereits erwähnten Wissenschaftsbereichen waren es Rechtsgelehrte (durch ihre Kenntnisse in Verwaltung waren sie für Fürsten unersetzlich), Theologen (besonders geachtet, da die Theologie als die überragende aller Wissenschaften galt) und Ärzte (ihre „Wundertätigkeit“ beeindruckte vor allem das übrige Volk). Der Bildung und dem Erhalt dieses gesellschaftlichen Standes war es förderlich, dass das „gemeine“ Volk sich häufig von Gelehrten beeindrucken lies und sich in der Regel keinerlei Vorstellung davon machen konnte, was humanistische Bildung überhaupt bedeutete. Diese Tatsache wurde von den Gelehrten häufig sogar gepflegt. Obwohl die Vorstellung von frühen Humanisten, wie es Erasmus und seine Zeitgenossen waren, jene eines „Fortschritt[s] der Menschheit durch Aufklärung“ und das Erziehen „des einzelnen wie der Gesamtheit durch eine allgemeine Verbreitung von Bildung, Schrift, Studium und Buch.“ war,[6] grenzten sich die Gelehrten bewusst vom übrigen Volk ab. Der Humanismus legte Wert darauf, keine oberflächliche Bildung zu vermitteln, sondern achtete sehr darauf, in Tiefen und Feinheiten einer Wissenschaft einzudringen. Dafür war eine sehr gute Kenntnis der lateinischen Sprache notwendig, und diese blieb dem Großteil der Bevölkerung schlicht verwehrt. Das ist der größte Unterschied zur Volksbildung der damaligen Zeit. Hohe Anforderungen, geringe Zugänglichkeit und eine gewisse Aristokratie in seinem Selbstverständnis machten den Humanismus aus.[7]
Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert war für den Humanismus und die Gelehrten ein sehr wichtiges Ereignis. Wissen konnte nun viel einfacher und vielfältiger vermittelt werden und das oben genannte Ziel, der Menschheit durch Bildung zu Fortschritt zu verhelfen, wurde dadurch überhaupt erst verwirklichbar. Doch auch die Arbeitsweise und die Organisation innerhalb des Gelehrtenstandes änderten sich grundlegend. Die höhere Verbreitung und Standardisierung der Texte führte zu einem gesteigerten Wissensaustausch der Gelehrten untereinander. Die Gelehrten waren zudem nicht mehr gezwungen, ihre Studien in bestimmten Bibliotheken zu betreiben, sondern konnten sich überall der Mehrung ihres Wissens widmen.[8] „Der späthumanistische Gelehrte lebte in Büchern und von Büchern.“[9]
Neben dem Publizieren in Form von Büchern spielten Reisen und persönliche Gespräche eine große Rolle im Gelehrtenstand der Frühen Neuzeit. In diesem Zusammenhang ist häufig von der „respublica literaria“ die Rede. Gemeint ist hierbei „[…] der europäische Umkreis humanistischer Gelehrter.“[10] Durch Reisen und gegenseitiges Besuchen bestätigten sich die Gelehrten untereinander, Mitglieder dieser großen, bedeutungsvollen „Gilde“ zu sein. Es diente der Bildung, andere Gelehrte und fremde Hochschulen aufzusuchen und in Gesprächen sein Wissen zu vermehren. Damit einher gingen zwei Dinge. Zum einen reiste man nicht von einer Stadt in die nächste Stadt, sondern von einem Gelehrten zum anderen. Die Stadt an sich war meistens zweitrangig, es zählte nur, welcher Wissenschaftler sich in ihr niedergelassen hatte. Zum anderen hatten Mitglieder des Gelehrtenstandes keine allzu feste Bindung an ihren Heimatort und wechselten diesen häufig mehrfach im Laufe ihres Lebens. Im übertragenen Sinne betrachteten sie nicht bestimmte Städte als ihre Heimat, sondern jeden Ort, an welchem sie ihre geistige Kultur pflegen und entwickeln konnten.[11]
Mit der Zeit entwickelten Gelehrte auch eine spezielle Art der Persönlichkeitsauffassung, eine Art „Habitus“ welcher sich in bestimmten Formen äußerte:
„Er produziert[e] soziale Strategien und [brachte] eine spezifische Art der Selbstbeherrschung und Selbststeuerung hervor, die emotionale Distanz schafft[e], vor allem dort, wo es keine soziale Distanz [gab].“[12]
Das heißt, die Gelehrten jener Zeit waren bestrebt, ihr Leben und ihren Geist frei von jeglicher möglichen Ablenkung zu halten. Sie abstrahierten andere Menschen und blendeten alles aus, was ihre Sinne eigentlich wahrnahmen. Auch räumlich setzten sie sich vom Rest der Bevölkerung ab und wählten häufig Isolation, um sich einzig und allein ihren Studien widmen zu können. Die Folge war, dass Gelehrte gemeinhin als „nicht haushaltstauglich“ galten. Dieses ungeeignet sein für jedwede Form häuslicher Arbeit führte dazu, dass Gelehrte häufig nur heirateten, um eine Form „häuslicher Arbeitsteilung“ zu erreichen.[13] Ansonsten galten Frauen geistig wenig oder schlimmstenfalls sogar als Versuchung des Teufels. Der Fokus der Gelehrten lag darauf, sich finanziell abzusichern und materiell versorgen zu lassen.
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[1] GALLE, CHRISTOPH: Hodie nullus – cras maximus. Berühmtwerden und Berühmtsein im frühen 16. Jahrhundert am Beispiel des Erasmus von Rotterdam (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 158), Münster 2013, S. 38f.
[2] Ebd., S. 39f.
[3] VOEGELIN, ERIC: Die Ordnung der Vernunft. Erasmus von Rotterdam (Occasional Papers, Eric-Voegelin-Archiv, Ludwig-Maximilians-Universität München, Bd. 29), München 2002, S. 11.
[4] TRUNZ, ERICH: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien, München 1995, S. 7.
[5] TRUNZ, ERICH: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock, S. 9.
[6] ZWEIG, STEFAN: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (Fischer-Taschenbücher, Bd. 2279), Frankfurt a.M. 1990, S. 13.
[7] TRUNZ, ERICH: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock, S. 14.
[8] JENSMA, GOFFE: Erasmus von Rotterdam, in: Blockmans, Wim / Frijhoff, Willem / Weiland, Jan Sperna (Hgg.): Erasmus von Rotterdam. Die Aktualität seines Denkens, Hamburg 1988, S. 36.
[9] TRUNZ, ERICH: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock, S. 34.
[10] JENSMA, GOFFE: Erasmus von Rotterdam, S. 37.
[11] TRUNZ, ERICH: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock, S. 31.
[12] ALGAZI, GADI: Geistesabwesenheit. Gelehrte zu Hause um 1500, in: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 334.
[13] Ebd., S. 326.