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Essay, 2016
7 Seiten, Note: 1,0
Kidnapping Opfer oder Adoptivkinder?
- Eine vergleichende Auseinandersetzung mit Erfahrungen gekidnappter Kinder in Argentinien und transnational adoptierter Kinder in Norwegen in Bezug auf Identitätskonstruktionen
“During the dictatorship, up to 30.000 civilians disappeared. The majority were kidnapped by the military and taken to clandestine detention centers where they were tortured and eventually killed. Young children of these victims were also seized, while women who were pregnant at the time of their disappearance were kept alive long enough to give birth.”
(Gandsman 2009: 163)
Ist es möglich, zu Menschen, die zu solchen Verbrechen im Stande sind eine normale oder sogar liebevolle Beziehung aufzubauen? Ist es möglich diesen Menschen sein kindliches Vertrauen zu schenken, wenn es doch die eigenen Eltern waren, die durch deren Mitwirken ums Leben kamen? Welche Erfahrungen durchlaufen Kinder, die oh- ne Wissen der Umstände in einer solchen Situation aufwachsen? Vermutlich 500 ge- bürtige ArgentinierInnen sind davon betroffen; 500 Kinder wurden während der Mili- tärdiktatur in Argentinien zwischen 1976 und 1983 als Neugeborene oder im Säug- lingsalter gekidnappt und sind unbehelligt dieser Umstände in einer Familie groß ge- worden, die direkt oder indirekt in ein Verbrechen an ihren biologischen ErzeugerIn- nen involviert waren (Gandsman 2009: 162). Sie sind Teil einer Familie, die nicht das gleiche Blut mit ihnen teilt und belegen Personen mit Verwandtschaftsterminologien ohne genetische Gemeinsamkeiten mit ihnen zu haben. Teil einer Familie zu sein, ohne gleiche genetische Grundlagen zu besitzen, ist unter legalen Umständen ein als Adop- tion bezeichnetes Phänomen. Doch inwiefern entspricht oder ähnelt die Erfahrung, die diese Kinder der Verschwundenen machen, der, einer Adoption? Adoptionserfahrun- gen als solche können selbstverständlich sehr unterschiedlicher Natur sein, differieren im Hinblick auf ihren Kontext, ihre Umstände und ihre historische Einbettung. Deshalb möchte ich mich in dieser Abhandlung auf den Vergleich mit Erfahrungen beschränken, die im Zusammenhang mit transnationaler Adoption in Norwegen beschrieben wurden und lege dabei den Fokus auf die Konstruktion von Identität (Howell 2003: 46 -483).
Von ihrer Ausgangssituation aus scheinen die beiden, im Folgenden verglichenen Situa- tionen, sehr ungleich zu sein. Handelt es sich doch einmal um mit Gewalt von ihren leiblichen Eltern getrennte und im anderen Fall um meist verwaiste Kinder, denen über eine gut organisierte Adoption ein neues Elternhaus gegeben werden konnte. Wäh- rend sich Letztere ihrer Situation bewusst sind und damit aufwachsen eine rein soziale Verwandtschaft mit ihren Eltern zu teilen, wissen die argentinischen Kinder der Ver- schwundenen bis zum Zeitpunkt ihrer genetischen Identifikation nichts von den Um- ständen, unter denen sie leben. Jedoch bestehen die Bestrebungen der Eltern in bei- den Fällen von Anfang an aus ähnlichen Zielen. Das aufgenommene Kind wird, ebenso wie biologische Verwandte es sind, zu einem gleichwertigen Mitglied der Familie (Howell 2003: 482). Es wird in gleicher Weise groß gezogen wie leibliche Kinder. Die so entstandene Familie kreiert ihre Zukunft, ihr Schicksal gemeinsam (ebd.: 467). Eltern und Kinder werden voneinander geprägt und beeinflussen die Formung ihrer Persön- lichkeiten gegenseitig (Gandsman 2012: 436, Howell 2003: 466). Aber nicht allein die Beziehung zwischen Kindern und Eltern macht das familiäre Gefüge aus, sondern auch deren Beziehung zur Mit- und Umwelt, deren Standpunkt in der Gesellschaft. So wird die Persönlichkeit der adoptierten und auch der gekidnappten Kinder geprägt durch ihre Beziehung zu anderen Menschen - zu Menschen, die sie in ihrer Kindheit und Ju- gend begleiten und beeinflussen. Der eigene Standpunkt in der sozialen Welt wird von persönlichen Bindungen, die mit verwandtschaftlichen Terminologien belegt werden, determiniert. Denn jeder Mensch findet seinen Platz in der Gesellschaft durch seine Beziehung zu anderen (Gandsman 2012: 436, Howell 2003: 466, 472). Aus diesen Gründen privilegieren die Adoptiveltern und Adoptivkinder - auch einige Kinder der Verschwundenen - die soziale gegenüber der biologischen Verwandtschaft (Gandsman 2012: 429, Howell 2003: 468). Dieser Punkt der vollkommenen Akzeptanz der sozialen Familie wird erreicht durch die von Anfang an starken Bemühungen der neuen Eltern, die Kinder von ihrer ursprünglichen Herkunft zu distanzieren und vollständig in ihre neue Umwelt zu inkorporieren. Im Falle der gekidnappten Kinder ist dieser Schritt zur Vertuschung der rechtlichen Illegitimität ihrer Situation von besonderer Bedeutung, um jeden möglichen Verdacht der Kinder gänzlich ausschließen zu können (Gandsman 2012: 431, Howell 2003: 472). Während norwegische Adoptiveltern lediglich möglichst wenig über den Ursprungsort des Kindes sprechen, um eine Verfestigung der Bindung zum neuen Wohn- und Lebensort zu erreichen, wird die Herkunft der Kinder in den argentinischen Familien vollständig verschwiegen. Die ursprünglichen Wurzeln der Kinder werden also in beiden Fällen zu einem „hidden aspect“ (Howell 2003: 466). Auch in Bezug auf die Identitätsentwicklung ähnelt sich die Situation transnational adoptierter Kindern in Norwegen und gekidnappter, argentinischer Kindern. Einen neuen Name, ein neues Geburtszertifikat, ein neues zu Hause, neue Verwandte und neue Beziehungen über die Familie hinaus erhalten die Kinder durch die Aufnahme in ihre neue Familie - einmal offiziell, staatlich geregelt, das andere Mal als Folge eines kriminellen Aktes. In beiden Fällen ist es ein Versuch, die Kinder zu „debiologisieren“ (Howell 2003: 471), ihren Ursprüngen zu entziehen und in eine vollkommen neue Welt aufzunehmen (Gandsman 2009: 163, 165; Howell 2003: 471). Trotz dieser Bestrebun- gen, lassen sich die biologischen Wurzeln nicht ausradieren und spielen bewusst oder unbewusst eine Rolle im Leben der Kinder - im Falle der argentinischen Kinder spätes- tens zum Zeitpunkt ihrer Identifikation. Norwegische Adoptiveltern haben den Stel- lenwert des biologischen Ursprungs erkannt und ermöglichen ihren Kindern ihre Wur- zeln kennenzulernen (Howell 2003: 477). Bezeugt wird die Bedeutung der Herkunft aber auch von argentinischen Kindern, die genetisch identifiziert wurden. Sie setzen sich beispielsweise nun für die Entstehung eines Museums in den ehemaligen Folter- räumen ihrer Eltern ein, um an ihren Ursprung erinnern zu können (Gandsman 2012: 437). Norwegische und argentinische Kinder berichten von einem besseren Verständ- nis ihrer Selbst, nachdem sie ihre Wurzeln kennengelernt haben. Sie hätten nun das Gefühl eine Vergangenheit zu besitzen, konstatieren norwegische Kinder und argenti- nische Kinder weiten dies aus, indem sie ihr Leben als Symbol für die Vergangenheit ihres Landes ansehen, die Vergangenheit Argentiniens (Gandsman 2012: 435, 439; Howell: 478 f).
Neben all den ähnlichen Identitätskonflikten und Inkorporierungsverfahren gibt es aber auch einige grundlegende Unterschiede zwischen den Erfahrungen, die in beiden Situationen gemacht werden. Sind es in Norwegen die Adoptiveltern, die ihre Kinder dazu veranlassen nach ihren Wurzeln zu suchen und ihre Heimat kennenzulernen, ist ein solcher Ansatz im Falle der argentinischen Kinder aufgrund seiner illegalen Natur undenkbar. Auch die Gefühle, die das Kennenlernen der eigenen Ursprünge hervorruft können unterschiedlicher nicht sein. Während ein Großteil der transnational adoptier- ten Kinder konstatiert, in dem von ihnen besuchten Land keine wirkliche Verbindung zu sich selbst wahrzunehmen, sich nun sogar „noch norwegischer“ zu fühlen (Howell 2003: 480), sprechen die gekidnappten Kinder mehrheitlich davon, dass sie sich durch ihre neue Identität selbst erkennen konnten. Ist dies auch nicht bei allen der Fall, so hat die genetische Identifizierung doch Auswirkungen im Sinne einer Störung bis Spal- tung ihrer Identität (Gandsman 2012: 429, 435, 439). Die norwegischen Kinder fühlen sich nach einem Besuch im Herkunftsland mit ihren Adoptiveltern umso mehr verbun- den, die Kinder der Verschwundenen dagegen beginnen in manchen Fällen spezifische Interessen, wie beispielsweise politische Ansichten, auf ihre Blutsverwandtschaft zu- rückzuführen (Gandsman 2012: 438). Diese Unterschiede sind eine logische Konse- quenz aus der Art und Weise, wie die Familien in den Besitz der Kinder gekommen sind und wie sie im Verlauf deren Lebens mit ihren Wurzeln (nicht) umgehen. Die Men- schenrechtsorganisation „Abuelas de la Plaza Mayo“, die sich für eine genetische Iden- tifizierung ihrer verschwundenen EnkelInnen einsetzt, sprich daher von einer von An- fang an gestörten, gar perversen Bindung zwischen den Kindern und ihren Kidnappern / sozialen Eltern (Gandsman 2009: 169).
Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der Erfahrungen, die die Kinder der Ver- schwundenen in Argentinien und die transnational adoptierten Kinder in Norwegen erleben, verdichten sich in beiden Fällen bei der Lebensaufgabe ‚eigene Identität‘, der Identitätsfindung oder auch der Veränderung der Identität. Howell spricht dabei einen spezifischen Zeitpunkt an, während dessen eine Transsubstantiation des Kindes statt- findet - eine sogenannte Wesensverwandlung. Sie erfolgt maßgeblich durch die Be- strebungen der Eltern, das Kind vor und nach dessen Ankunft in der Familie physisch wie psychisch in sein neues Umfeld zu inkorporieren (Howell 2003: 470). Dieser radika- le Wandel des früheren Selbst der adoptierten Kinder mag in ähnlicher Form auch bei den argentinischen Kindern zum Zeitpunkt ihres Kidnappings aufgetreten sein. Die ge- waltsame Komponente, die diese Transsubstantiation dort zwangsläufig beinhaltete lässt mich vermuten, dass das Verbrechen möglicherweise unterbewusst gespeichert wurde, so wie es verschiedenen Meinungen nach auch ein intrinsischer Drang ist, seine biologischen Ursprünge zu ergründen. Diese Vermutung lässt sich anhand einiger Fälle bestätigen, wird anhand anderer jedoch auch widerlegt.1 Bewusst durchlaufen die Kin- der der Verschwundenen einen Wandel der eigenen Identität dann in einem zweiten bedeutenden Prozess ihres Lebens - der Phase ihrer genetischen Identifikation. Dieser Prozess lässt sich anhand Van Genneps Theorie der Übergangsriten beschreiben [Als einen Übergangsritus klassifiziert Van Gennep übrigens auch die Adoption als solche] (Van Gennep 2005: 21). Demnach befinden sich die Kinder zuerst in einer Separations- phase. Als solche ist der Moment zu verstehen, in dem sie realisieren, dass diejenigen, die sie aufgezogen haben, nicht ihre biologischen Eltern sind, oder die Zeit des Ent- schlusses der Betroffenen einen genetischen Identifikationstest durchzuführen. Die bedeutendste, weil schwierigste Phase ist die darauffolgende Liminalität. Die Kinder befinden sich in einem Zwischenzustand zwischen ihrer bisher als wahr angenomme- nen und ihrer neu identifizierten Identität. Diese liminale Phase kann meist nur durch eine Distanzierung von den bisherigen Familienmitgliedern oder dem bisherigen sozia- len Umfeld überwunden werden. Die letzte Phase, die Phase der Integration, zu errei- chen bedeutet, die neue Identität anzunehmen, sich in ein neues Beziehungsgeflecht biologischer Verwandtschaft zu integrieren und die eigene Existenz neu zu definieren. Dies gelingt nicht allen Betroffenen, beziehungsweise ist auch nicht von allen gewollt. Diejenigen, die sich ihrer biologischen Identität verweigern und ihre bisherige Existenz nicht aufgeben wollen, verharren in der liminalen Phase. Ein Schritt zurück ist durch das erlangte Wissen nicht mehr möglich. Von Seiten des argentinischen Staates wird die Integrationsphase sogar gefordert, beziehungsweise äußerlich erzwungen, insofern in Ausweispapieren die biologische Identität angenommen werden muss. Nicht immer jedoch ist der Eintritt dieses Übergangs auf die Initiative der Betroffenen zurückzufüh- ren. Die Menschenrechtorganisation „Abuelas de la Plaza Mayo“ ist aktiv an der Einlei- tung der Separationsphase beteiligt, sieht es als ihre Aufgabe „dekinning“ (Gandsman 2009: 176) zu betreiben, die existierenden Verwandtschaftsbeziehungen aufzulösen und den Weg für die Integrationsphase durch „rekinning“ (ebd.: 176) zu ebnen. So er- leben diejenigen, die diesen Prozess vollständig durchlaufen einen Wandel ihrer Identi- tät, ihres Lebens. Dafür ist es notwendig nicht nur die alte Identität abzulegen, sondern gleichzeitig eine neue zu konstruieren. Diese zu bildende Identität baut nicht allein auf dem neuen Beziehungsgeflecht der betroffenen Personen auf, sondern Großteils auf persönlichen Lebensgeschichten und der Bewusstwerdung der persönlichen Relevanzder Vergangenheit Argentiniens.
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1 Zwei Beispiele genetisch identifizierter Kinder von Verschwundenen in Argentinien: Während Evelyn Vázquez sich ihren sozialen Eltern sehr verbunden fühlt und eine Identitätsänderung für sie die Zerstö- rung ihrer Existenz bedeuten würde, gibt Juan Cabandié an, dass ihn bereits in seiner Kindheit das Feiern seines Geburtstages deprimierte und er schon, bevor er seinen richtigen Namen kannte, gerne Juan genannt werden wollte (Gandsman 2009: 171; Gandsman 2012: 437).