Vom 30. November 2009 bis zum 12. Mai 2011 fand vor dem Landesgericht in München der Prozess gegen Iwan Demjanjuk statt. Wie in so vielen früheren NS-Prozessen standen Fragen nach dem Umgang mit dem Holocaust, gesellschaftliche Erwartungen und mediale Interessen auf der Tagesordnung. Der Angeklagte: ein fast neunzigjähriger staatenloser Greis.
Über 60 Jahre nach Kriegsende steht nochmals ein mutmaßlicher NS-Täter vor einem deutschen Gericht. Noch einmal wird die Geschichte der Judenvernichtung vor die Augen der Menschheit gebracht, noch einmal rechnet Deutschland mit seiner Vergangenheit ab. Aber wozu soll dieses verspätete Verfahren noch gut sein? Die meisten Zeugen sind verstorben, Erinnerungen verblassen und belastende Dokumente gingen verloren. So stößt der Demjanjuk-Prozess in München immer wieder an die Grenzen des Rechts und des Rechtsgefühls, könnte es doch das letzte Mal sein, dass Gerichte mit dem Völkermord konfrontiert werden. So zeigt diese Verhandlung wie keine andere die Notwendigkeit und die Grenzen der justiziellen Aufarbeitung des Holocaust.
Worin liegt der Sinn heutiger NS-Prozesse? Was erwarten sich Anwälte, Richter und Zuschauer? Wie definiert sich Deutschland im Hinblick auf die NS-Zeit? Und wo liegen die Grenzen der Rechtsprechung? In folgender Arbeit sollen diese Fragen vor dem Hintergrund des Demjanjuk-Prozesses, der deutschen Nachkriegsjustiz und der Geschichte des Holocaust genauer beleuchtet werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hintergründe des Münchener Prozesses gegen Demjanjuk
2.1. Wer war John (Iwan) Demjanjuk?
2.2. Anzeige gegen Demjanjuk – die Grenzen des Rechts
2.3. Sobibór und die Logik der Anklage
3. Der Prozess – Grenzen und Sinnhaftigkeit des Rechts
3.1. Die deutsche Nachkriegsjustiz: Lücken, Versäumnisse und Schwierigkeiten
3.2. Sinnhaftigkeit heutiger NS-Verfahren im Spiegel des Demjanjuk-Prozesses
3.3. Das Urteil und der Versuch einer Bilanz
4. Schlussbemerkung
Bibliographie
1. Einleitung
Vom 30. November 2009 bis zum 12. Mai 2011 fand der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk vor dem Landesgericht in München II statt. Die Anklage lautete Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen. Der gebürtige Ukrainer soll, nachdem er in einem Gefangenenlager von den Deutschen als Hilfswilliger rekrutiert worden war, im Vernichtungslager Sobibór zur Massenvernichtung beigetragen haben. Wie in so vielen früheren NS-Prozessen standen Fragen nach dem Umgang mit dem Holocaust, gesellschaftliche Erwartungen und mediale Interessen auf der Tagesordnung. Doch diesmal war der Angeklagte ein fast neunzigjähriger staatenloser Greis, der sichtlich gebrechlich und schwach den Prozess im Liegen über sich ergehen ließ.[1]
Über 60 Jahre nach Kriegsende stand nochmals ein mutmaßlicher NS-Täter vor einem deutschen Gericht. Noch einmal wurde die Geschichte der Judenvernichtung der Menschheit vor Augen gebracht, noch einmal rechnete Deutschland mit seiner Vergangenheit ab. Aber wozu soll dieses verspätete Verfahren noch gut sein? Die meisten Zeugen sind verstorben, Erinnerungen verblassen und belastende Dokumente sind verloren gegangen. Und dennoch sind alle Hebel in Bewegung gesetzt worden, um Demjanjuk, der sich bereits in Israel wegen seiner angeblichen Mitarbeit im Vernichtungslager Treblinka gerichtlich verantworten musste, vor Gericht zu bringen. Dieses Bestreben der deutschen Justiz muss vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen erklärt werden. Diese war wenig ruhmreich und oft kamen TäterInnen mit zu milden Strafen davon. Nun aber läuft den Ermittlern die Zeit davon und bald müssen die Gerichte ihre Akten wohl oder übel schließen. Gerade wegen dieser Zeitspanne stößt der Demjanjuk-Prozess in München immer wieder an die Grenzen des Rechts und des Rechtsgefühls, könnte es doch das letzte Mal sein, dass Gerichte mit dem Völkermord konfrontiert werden. So zeigt diese Verhandlung wie keine andere die Notwendigkeit und die Grenzen der justiziellen Aufarbeitung des Holocaust.[2]
Worin liegt der Sinn heutiger NS-Prozesse? Was erwarten sich Anwälte, Richter und Zuschauer? Wie definiert sich Deutschland im Hinblick auf die NS-Zeit? Und wo liegen die Grenzen der Rechtsprechung? In folgender Arbeit sollen diese Fragen vor dem Hintergrund des Demjanjuk-Prozesses, der deutschen Nachkriegsjustiz und der Geschichte des Holocaust genauer beleuchtet werden. Dabei werden auch Verbindungen zu früheren NS-Prozessen hergestellt, um das Verfahren im kritischen Vergleich zu verstehen und scheint es auch unmöglich, Antworten auf die Fragen zu finden, wird dennoch versucht, sich ihnen zu nähern.
2. Hintergründe des Münchener Prozesses gegen Demjanjuk
Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk wurde im Jahre 2009, über sechzig Jahre nach Kriegsende, eröffnet. Aufgrund dieser großen zeitlichen Distanz geht die Bedeutung dieses Prozesses weit über den rechtshistorischen Rahmen hinaus. Deshalb haben Fragen ihre Berechtigung. Fragen nach den Grenzen des Rechts, nach der Sinnhaftigkeit von NS-Prozessen in der heutigen Zeit, nach den Lücken der Erinnerung – darauf sollte der Prozess Antworten finden. Bevor nun aber versucht wird, auf diese Fragen einzugehen, erscheint es unumgänglich, zuerst den Lebensweg Demjanjuks, die Hintergründe dieses Prozesses und Verbindungen zu früheren NS‑Prozessen kurz zu beleuchten – denn nur durch Betrachten des gesamten Bildes kann dieser Prozess in seiner historischen und juristischen Tragweite verstanden werden.
2.1. Wer war John (Iwan) Demjanjuk?
John Demjanjuk wurde 1920 als Iwan Mykolajowytsch Demjanjuk in einem ukrainischen Dorf geboren. In diesen Jahren litt die ukrainische Bevölkerung stark an den Folgen der Kollektivierungspolitik Stalins. Millionen von Menschen fielen der Hungersnot zum Opfer; anhaltende Aufstände der Ukrainer prägten die Zeit, in der auch Demjanjuks Familie stark von Not und Elend betroffen war.[3]
Im Zweiten Weltkrieg wurde Demjanjuk in die Rote Armee eingezogen und an die Front geschickt. 1942 nahmen ihn die Deutschen gefangen und steckten ihn in ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene in Chelm. Dort rekrutierten ihn die Deutschen als „Hilfswilligen“ und schickten ihn in das Ausbildungslager Trawniki, da die SS zur Beherrschung und Kontrolle der neuen Ostgebiete mehr Männer benötigte. Deutschstämmige und Soldaten nichtrussischer Nationalität wurden aus verschiedenen Kriegsgefangenenlagern ausgewählt, da von ihnen angenommen wurde, dass sie einen tiefen Hass gegen die Russen hegten und deshalb gewillt wären, die Deutschen zu unterstützen. Ob sich diese Männer jedoch freiwillig meldeten, gezwungen wurden oder aufgrund der schrecklichen Verhältnisse und der geringen Überlebenschancen in den Lagern überhaupt eine Wahl hatten, kann heute nur noch schwer beurteilt werden. Für Demjanjuks Anwalt Busch bildete die Tatsache, dass Demjanjuk von den Deutschen zur Mithilfe am Massenmord ausgewählt wurde, im Laufe des ganzen Prozesses eines seiner Hauptargumente. Staatsanwalt Lutz aber argumentierte, dass der Angeklagte nie einen Fluchtversuch unternommen und sich somit mit der Rassenideologie der Nationalsozialisten einverstanden erklärt habe. Ein Fluchtversuch war jedoch nicht so einfach, wie der Staatsanwalt glaubhaft machen wollte: Das Lager war mit Stacheldraht und Minenfeldern gesichert und das Land ringsum wurde von den Deutschen besetzt. Auch Wefing ist der Überzeugung, dass man Demjanjuk nicht vorwerfen könne, sein eigenes Leben nicht aufs Spiel gesetzt zu haben, um sich dem NS-Terrorregime zu entziehen.[4]
In Trawniki wurde Demjanjuk zum Wachmeister ausgebildet und im März 1942 nach Sobibór versetzt – dies bestätigt zumindest der in Trawniki ausgestellte Dienstausweis, der stets das wichtigste Beweisstück gegen Demjanjuk war, denn der Ukrainer bestritt bis zum Ende des Prozesses, in Sobibór gewesen zu sein. Folgt man weiteren Dokumenten, kam Demjanjuk 1943 in das Konzentrationslager Flossenbürg. Nach Kriegsende blieb er in einem Lager für Displaced Persons in Deutschland, heiratete und schaffte es 1952, nach Amerika auszuwandern. Er nannte sich John, gründete eine Familie und nahm eine Stelle als Mechaniker bei Ford an. 1958 erhielt er sogar die amerikanische Staatsbürgerschaft.[5]
Doch sein neues Leben als unauffälliger Bürger sollte nicht ewig währen. 1957 erhielt die amerikanische Einwanderungsbehörde eine Liste mit Namen ukrainischer Einwanderer, die angeblich mit den Nazis kollaboriert hätten. Darunter fand sich auch Demjanjuks Name, der diese Kollaboration bei der Einreise verschwiegen hatte, da ihm diese sonst verwehrt worden wäre. Anklage wurde erhoben, 1981 wurde ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt und der Ukrainer wurde an Israel ausgeliefert, wo er sich 1987 vor Gericht wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Treblinka verantworten musste. Überlebende dieses Lagers glaubten nämlich, in Demjanjuk „Iwan den Schrecklichen“ wiederzuerkennen, der Juden auf dem Weg zur Gaskammer die Ohren und den Frauen die Brüste abgeschnitten hatte, der Gefangene zu Tode peitschte, erstach und erwürgte.[6]
Sechzehn Jahre zuvor war im selben Land SS-Obersturmbahnführer Adolf Eichmann zum Tode verurteilt worden. Dieser Prozess war von immenser internationaler Wirkung gewesen und durch die starke Medienbeteiligung wurde auf der Bühne der Weltöffentlichkeit mit dem Völkermord an den Juden durch das Nazi-Regime abgerechnet. So sollte nun auch im israelischen Demjanjuk‑Prozess die Geschichte des Judenmordes wieder aufgerollt und das Leid der Opfer in den Mittelpunkt gestellt werden.[7] Im Gegensatz zu Eichmann, dem als Schreibtischtäter kein Mord nachgewiesen werden konnte, war Demjanjuk ein Maschinist des Todes, der die Gaskammer betätigte und die Juden grausam umbrachte, wodurch das Leid der Opfer noch stärker in den Vordergrund des Prozesses rückte.[8] In beiden Fällen aber ging es um mehr als individuelle Schuld, es ging um historische Aufklärung und letzten Endes auch um die Identität des israelischen Staates.[9]
Die Identität Demjanjuks blieb während des Prozesses aber stets umstritten, vor allem, da auf seinem NS-Dienstausweis Sobibór – und nicht Treblinka – als Einsatzort vermerkt war. Demjanjuk bestritt aber, in Sobibór oder Treblinka gewesen zu sein und bezeichnete das Dokument als Fälschung des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Trotz aller Spekulationen wurde Demjanjuk 1988 zum Tode verurteilt, es rettete ihn aber der Zerfall der Sowjetunion. In einst geheimen Archiven tauchten neue Dokumente auf, die bezeugten, dass ein gewisser Iwan Martschenko der Schreckliche von Treblinka gewesen war. Demjanjuk wurde freigelassen und erhielt auch die amerikanische Staatsbürgerschaft zurück.[10]
Das israelische Gericht war nun aber überzeugt, dass Demjanjuk als Wachmeister in Sobibór tätig gewesen war. Beweise, belastende Dokumente und Zeugen wurden gesucht, sodass 2001 erneut ein Verfahren gegen den ehemaligen Ukrainer eingeleitet wurde. 2002 verlor er wieder die amerikanische Staatsbürgerschaft und sieben Jahre später begann das Verfahren gegen Demjanjuk in München wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibór.[11]
2.2. Anzeige gegen Demjanjuk – die Grenzen des Rechts
Die Auslieferung Demjanjuks nach Deutschland verlief keineswegs problemlos. Grund dafür war nicht nur der Versuch des über Achtzigjährigen, dies mithilfe ärztlicher Atteste zu verhindern, sondern vor allem die deutsche und amerikanische Rechtsgrundlage. Die USA wollten Demjanjuk loswerden, konnten aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht selbst Anklage erheben. Auch Osteuropa weigerte sich, den ehemaligen „NS‑Handlanger“ aufzunehmen. So übten die Amerikaner Druck auf Deutschland aus. Jedoch kann eine Straftat in Deutschland nur angezeigt werden, wenn diese auf deutschem Boden verübt wurde, der/die mutmaßliche TäterIn oder eines der Opfer Deutsche/r ist. Das Vernichtungslager Sobibór lag aber in Polen und Demjanjuk hatte nie einen deutschen Pass besessen, so sehr sein Leben auch von Deutschland bestimmt war. Um Demjanjuk vor Gericht zu bringen, galt es demnach zu beweisen, dass sich unter den Opfern auch deutsche Juden befanden. Dies war fast siebzig Jahre nach dem Holocaust nicht einfach, da sich keine Dokumente oder Zeugen finden ließen, die Demjanjuk konkret belasten konnten, das deutsche Recht aber für die Erlassung einer Mordanklage eine konkrete Tat verlangt.[12]
Diese Forderung nach einem individuellen Schuldnachweis führte im juristischen Umgang mit der NS-Vergangenheit zu teils absurden Urteilen. Dies galt auch für den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess im Jahre 1963, einem der wichtigsten Verfahren gegen NS‑Verbrecher. Die Richter verlangten auch damals individuelle Tatnachweise, da es nicht um das Menschheitsverbrechen ginge, sondern um die Auschwitz-Täter als Individuen. Dies führte letzten Endes dazu, dass vorwiegend nicht die Kommandanten und Organisatoren der Massenverbrechen verurteilt wurden, sondern die Einzeltäter, die die Befehle ausüben mussten. Diese Urteile waren sehr umstritten und Fragen nach der Gerechtigkeit des Rechts und dessen Grenzen wurden aufgeworfen, ohne wirklich beantwortet zu werden. Hier setzten die Ermittlungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg und des Richters Thomas Walther an, die vor der Herausforderung standen, das Industrielle des Tötens zu erfassen. Diese Überlegungen führten in das Vernichtungslager Sobibór und fanden dort die Logik ihrer Anklage.[13]
2.3. Sobibór und die Logik der Anklage
In den Wäldern Polens wurde im November 1941 mit dem Bau von drei Lagern begonnen, die der Endlösung der Judenfrage dienen sollten. Unter dem Tarnnamen „Aktion Reinhard“ wurden die Vernichtungslager Bełżec, Treblinka und Sobibór errichtet, deren einziger Zweck die schnelle und reibungslose Vernichtung der Juden und anderer „Unerwünschter“ durch Giftgas war. Die „Aktion Reinhard“ dauerte nicht länger als 21 Monate, dennoch kamen ungefähr zwei Millionen Menschen in den Vernichtungslagern um.[14] Unter der Kontrolle der SS wurden Trawniki-Männer, die den Großteil des Lagerpersonals ausmachten, in den systematischen Massenmord eingebunden. Sobald ein Zug ankam, wurden die Juden mit Eisenstangen, Gewehren und Peitschen aus den Waggons getrieben, Alte und Schwache wurden oft sofort erschossen. Den anderen wurde erklärt, dass sie aus hygienischen Gründen duschen und ihre Habseligkeiten abgeben müssten. Den Frauen wurden auf dem Todesmarsch die Haare abgeschnitten, bevor alle in den als Duschräume getarnten Gaskammern getötet wurden, die von den Trawnikis bedient wurden. Anschließend mussten diese gemeinsam mit den Arbeitsjuden die Leichen aus den Gaskammern holen, diese nach versteckten Wertgegenständen und Goldzähnen untersuchen, in Gruben werfen und mit Kalk überschütten. Zwei bis drei Stunden nach Ankunft der Züge waren die meisten Gefangenen schon tot.[15]
Jeder war an dem Vernichtungsvorgang beteiligt – Trawnikis, SS-Wachmänner und Befehlshaber. Genau auf diesen Punkt stützt sich Walther in seinen Ermittlungen: Jeder in Sobibór war ein Teil der reibungslosen Mordmaschinerie der Nationalsozialisten. Das Vernichtungslager sah man als die Tat an sich, den Dienst dort aber als Beihilfe zum Mord. So war eine Anklage Demjanjuks möglich.[16]
Ende 2008 übergab die Zentrale Stelle das Ergebnis ihrer Vorermittlungen an die Münchener Staatsanwaltschaft, denn der letzte gesicherte Aufenthaltsort Demjanjuks in Deutschland vor seiner Auswanderung gehörte zum Zuständigkeitsbereich des Landesgerichts München II. Da es für von ihm verübte Verbrechen keine Beweise mehr gab, wurde Demjanjuk beschuldigt, in 27.900 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet und als Trawniki im Vernichtungslager Sobibór unter deutscher Aufsicht den grausamen Völkermord mitverschuldet zu haben.[17] Durch die Anklage ergab sich nun die Aussicht, gerade das nachholen zu können, woran der Auschwitz-Prozess gescheitert war. Aber ist die Korrektur der Rechtsgeschichte wirklich Ziel dieses Prozesses? Und ist Demjanjuk, ein kranker, neunzigjähriger Mann, den die Gerichte der Welt schon seit über 50 Jahren verfolgten, der Richtige dafür? Ist ein Prozess gegen NS‑TäterInnen nach so langer Zeit überhaupt noch sinnvoll?
3. Der Prozess – Grenzen und Sinnhaftigkeit des Rechts
Am 30. November 2009 begann der Prozess gegen John Demjanjuk. Pressevertreter, Fernsehteams und Polizisten warteten schon auf den Verhandlungsbeginn. Ein alter, in Decken gewickelter Mann im Rollstuhl wurde in den Saal geschoben. Er war beinahe 90 Jahre alt und litt an einer tödlichen Krankheit – dennoch war er für verhandlungsfähig erklärt worden. Sichtlich unberührt verfolgte Demjanjuk das Geschehen. Die meisten Verhandlungstage ließ er im Liegen über sich ergehen und meldete sich während des ganzen Prozesses kein einziges Mal zu Wort, sodass der Eindruck entstand, als beträfe ihn die Anklage überhaupt nicht. Der Greis wirkte gebrechlich und niemand konnte sagen, wie lange er noch leben würde. Die Frist aber war kurz. In den nächsten 18 Monaten, die der Prozess dauern sollte, folgten die Staatsanwälte, die Bundesrepublik und die Opfer nur einem Ziel: zu beweisen, dass Demjanjuk in Sobibór gearbeitet hatte. Denn nur so konnte der Logik der Anklage auch Rechnung getragen werden. Hierzu sollte Demjanjuks Dienstausweis, der bereits im israelischen Prozess gegen Demjanjuk eine tragende Rolle gespielt hatte, als wichtigste Beweisgrundlage herangezogen werden. Demjanjuk aber, der bis zum Ende leugnete, in Sobibór gewesen zu sein, bezeichnete ihn als Fälschung und so war der Prozess ein Ringen um die Echtheit der Dokumente und die Identität des Angeklagten. [18]
[...]
[1] Angelika Benz, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München, Berlin 2011, S. 15-17.
[2] Heinrich Wefing, Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, München 2011, S. 13-21.
[3] vgl. Hans Peter Rullmann, Der Fall Demjanjuk. Zur Beweislage und zu den politischen Hintergründen des Prozesses in Jerusalem, Sonnenbühl 1987, S. 27-37.
[4] Wefing, Der Fall Demjanjuk, S. 28f.; S. 202.
[5] Benz, Der Henkersknecht, S. 29f.
[6] vgl. Rullmann, Der Fall Demjanjuk.
[7] Benz, Der Henkersknecht, S. 30f.
[8] Rullmann, Der Fall Demjanjuk, S. 18.
[9] Wefing, Der Fall Demjanjuk, S. 61f.
[10] Jürgen Wilke/Birgit Schenk/Akiba A. Cohen/Tamar Zemach, Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln 1995, S. 37-40.
[11] Benz, Der Henkersknecht, S. 34-36.
[12] Wefing, Der Fall Demjanjuk, S. 87-100.
[13] Ebd., S. 102f.
[14] Barbara Distel, Sobibór, in: Benz Wolfgang, Der Ort des Terrors 8. Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełźec, Sobibór, Treblinka, München 2008, S. 375.
[15] Peter Black, Die Trawniki-Männer und die „Aktion Reinhard“, in: Musial Bogdan (Hg.), Die „Aktion Reinhard“. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004, S. 337f.
[16] Wefing, Der Fall Demjanjuk, S. 103-108.
[17] Dick de Mildt, Die Stecknadel im Heuhaufen. Die Amsterdamer Urteilssammlung und der Prozess Demjanjuk, in: Kuretsidis-Haider Claudia/Garscha Winfried R. (Hg.), Gerechtigkeit nach Diktatur und Krieg. Transitorial justice 1945 bis heute. Strafverfahren und ihre Quellen, Graz 2010, S. 206.
[18] vgl. Benz, Der Henkersknecht.