Die Familie ist ein Ort von großer Bedeutung und Veränderbarkeit. In ihr fließen ökonomische, soziale und gesellschaftliche Veränderungen zusammen und offenbaren den direkten Zusammenhang zwischen Staat und Familie. In den letzten 300 Jahren fand in Europa ein ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Wandel statt, der mit der Französischen Revolution einen ersten Höhepunkt erfährt und von dort ausgehend bis in die heutige Gegenwart hineinreicht. Die Familie wird in diesen 300 Jahren einem Transformationsprozess unterzogen, der ethische, religiöse und moralische Dimensionen mit einschließt.
Sozioökonomische Fragen und familiäre Umwälzungen hängen oft miteinander zusammen und machen die Familie zum Schauplatz höchster theatraler Vorgänge. Katastrophen, Krisen, friedliche Zeiten, Kriege, Umbrüche, Liebe, Hochzeiten, Scheidungen und ökonomische Erfolge und Misserfolge kennzeichnen das Profil einer Gesellschaft bis in ihre kleinste Einheit, eben genannt Familie. Um einen Überblick über diese gesellschaftlichen und familiären Transformationsprozesse zu geben, werden drei Theaterstücke und ihre Familienbilder der Jahre 1772, 1894 und 2007 vorgestellt.
Das Ziel dieser Forschungsarbeit liegt in der Untersuchung von ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen in der Familie am Beispiel der drei Theaterstücke „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing, „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann und Falk Richters „Im Ausnahmezustand“. Die vorliegende Arbeit widmet sich der Forschungsfrage, wie ökonomische, soziale und gesellschaftliche Aspekte auf die Familie der jeweiligen Epoche wirken, und was diese Veränderungen in den Familien auslösen. Zunächst werde ich die Familie der „Emilia Galotti“ analysieren und eine historische Einordnung vornehmen. Daran anschließend werden die Theaterstücke von Gerhart Hauptmann und Falk Richter untersucht und ebenso in einen historischen Kontext eingebunden. Abschließend gehe ich zusammenfassend auf die Ergebnisse der Arbeit ein und formuliere eine Schlussfolgerung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. 1772 – Lessings „Emilia Galotti“ und die moralische Familie
3. 1894 – Hauptmanns „Die Weber“ und die marktwirtschaftliche Familie
4. 2007 – Richters „Im Ausnahmezustand“ und die gescheiterte Familie
5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Familie ist ein Ort von großer Bedeutung und Veränderbarkeit. In ihr fließen ökonomische, soziale und gesellschaftliche Veränderungen zusammen und offenbaren den direkten Zusammenhang zwischen Staat und Familie. In den letzten 300 Jahren fand in Europa ein ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Wandel statt, der mit der Französischen Revolution einen ersten Höhepunkt erfährt und von dort ausgehend bis in die heutige Gegenwart hineinreicht. Die Familie wird in diesen 300 Jahren einem Transformations-prozess unterzogen, der ethische, religiöse und moralische Dimensionen mit einschließt. Dabei findet in dieser Zeit ein Wechsel von einer „globalisierten“ feudalistisch-kapitalistischen Wirtschaft hin zu einer bipolaren Ost-/ West-Wirtschaft (Planwirtschaft/ /Marktwirtschaft) zwischen 1945 und 1989/90 statt, an deren Ende wieder die „globalisierte“ kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ordnung als Tonangebende steht. Die Familie wird dabei genötigt, sich diesen Veränderungen anzupassen und diese auch auszuhalten. Denn die ökonomischen Kräfte wirken so tief in die Familie hinein, dass selbst moralische und religiöse Anker wegbrechen und die Familie zerbrochen zurückbleibt. Sozioökonomische Fragen und familiäre Umwälzungen hängen oft miteinander zusammen und machen die Familie zum Schauplatz höchster theatraler Vorgänge. Katastrophen, Krisen, friedliche Zeiten, Kriege, Umbrüche, Liebe, Hochzeiten, Scheidungen und ökonomische Erfolge und Misserfolge kenn-zeichnen das Profil einer Gesellschaft bis in ihre kleinste Einheit, eben genannt Familie. Um einen Überblick über diese gesellschaftlichenund familiären Transformationsprozesse zu geben, werden drei Theaterstücke und ihre Familienbilder der Jahre 1772, 1894 und 2007 vorgestellt.
Das Ziel dieser Forschungsarbeit liegt in der Untersuchung von ökono-mischen, sozialen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen in der Familie am Beispiel der drei Theaterstücke „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing, „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann und Falk Richters „Im Ausnahmezustand“. Die vorliegende Arbeit widmet sich der Forschungsfrage, wie ökonomische, soziale und gesellschaftliche Aspekte auf die Familie der jeweiligen Epoche wirken, und was diese Veränderungen in den Familien auslösen. Zunächst werde ich die Familie der „Emilia Galotti“ analysieren und eine historische Einordnung vornehmen. Daran anschließend werden die Theaterstücke von Gerhart Hauptmann und Falk Richter untersucht und ebenso in einen historischen Kontext eingebunden. Abschließend gehe ich zusammen-fassend auf die Ergebnisse der Arbeit ein und formuliere eine Schlussfolgerung.
2. 1772 – Lessings „Emilia Galotti“ und die moralische Familie
In dem bürgerlichen Trauerspiel „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing wird eine bürgerliche Familie beschrieben, die sich an den moralischen und religiösen Grundwerten der damaligen Zeit orientiert. Die Familie besteht aus der Mutter Claudia Galotti, dem Vater Odoardo Galotti und der Tochter Emilia Galotti. In dieser Trinität, bestehend aus Vater-Mutter-Kind, wachsen Bindungen und Konflikte heran, aus denen oft Ehrgefühl, aber auch Verzweif-lung und Hilflosigkeit sprechen. Es handelt sich bei der Galotti-Familie um eine moralisch-religiöse Familie, die ihr Handeln ständig hinterfragt und einer starken Selbstkontrolle unterzieht. Mit fast schon pathologischen Attitüden werden Selbstkontrolle und Selbstgeißelung jeden Tag zelebriert. Eine souveräne Lebenskraft kann dabei nicht entstehen. Die Familie ist ständig bemüht sich den Ansprüchen der Umgebung anzupassen, um eine sehr gute Stellung in der Gesellschaft zu erreichen. Von Modernität und Freiheit fehlt jede Spur, denn innerhalb dieses selbst abgezirkelten Lebens herrschen strenge Konventionen, Haltungen und auch Regeln der gesprochenen Worte. Nie würde sich Emilia getrauen, gegen Vater oder Mutter zu rebellieren oder das Wort gegen sie ergreifen. In diese strenge moralisch-religiöse Enge wird Emilia hineingeboren und muss sich von Anbeginn ihres Lebens diesen harten Regeln aussetzen. Daraus erwächst eine Disziplinierung von Körper, Geist und Seele der Emilia, die dazu führt, dass sich das Mädchen unter ständiger Beobachtung von Vater und Mutter fühlt.[1] Somit kann Emilia keine ausreichenden eigenen Lebens-erfahrungen sammeln, damit sie zu einer starken und eigenständigen Persönlichkeit heranreifen kann.Auffällig für diese Zeit ist, dass die Galottis nur eine Tochter haben. Normalerweise bestehen bürgerlicheFamilien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus mehreren Kindern. Gerade in der hohen Anzahl von Kindern repräsentiert sich die bürgerliche Familie. Das Familienbild wird getragen von Musik, Kunst und Literatur. Da aber nur eine Tochter vorhanden ist, liegt der Focus der Eltern allein auf Emilia. Und dieser ständige Blick auf die einzige Tochter, die nach dem Willen der Eltern, besonders des Vaters, sehr gut verheiratet werden soll, damit das Ansehen der Familie Galotti weiter steigt, eröffnet für Emilia eine Perspektive der Unter-werfung und Demütigung.
Im 18. Jahrhundert vollzieht sich ein radikaler Veränderungsprozess, der alle Bereiche des damaligen Lebens umschließt. Zu Beginn des 18. Jahr-hunderts befindet sich die Gesellschaft in Deutschland in der historischen Phase des Absolutismus. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird die Phase der Aufklärung schon einige Jahre gelebt. Foucault schreibt dazu: „Die letzten Jahre des achtzehnten Jahrhunderts werden durch eine Diskontinuität gebrochen, die mit jener symmetrisch ist, die am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts mit dem Denken der Renaissance gebrochen hatte. Damals hatten sich die großen, kreisartigen Gestalten gelöst und geöffnet, in denen die Ähnlichkeit eingeschlossen war, damit sich das Tableau der Identitäten entfalten konnte. Dieses Tableau wird sich jetzt seinerzeit losmachen, weil die Gelehrsamkeit sich in einen neuenRaum stellt.“[2] Die Aufklärung, die eine Wende im Denken der Menschen einleitet und eine Abkehr vom göttlichen Denken hin zum eigenständigen weltlichen Denken beinhaltet, um politische und wirtschaftliche Interessen selbständig zu vertreten, stellt die Allein-herrschaft des Adels in Deutschland und Europa in Frage und lässt ein neues Bürgertum entstehen. Dieses neue, aber moralisch-religiöse Bürgertum steht im Widerspruch zur verlogenen und selbstherrlichen aristokratischenHerr-schaftsklasse. Ein Ausdruck des bürgerlichen Aufbegehrens gegenüber dem Adel ist in der Französischen Revolution von 1789 bis 1799 zu finden. Mit der Formulierung von bürgerlichen Freiheitsrechten werden die Privilegien für den Adel in Frankreich beendet und das Feudalsystem abgeschafft. Diese Revolution hatte eine Signalwirkung auf ganz Europa, war doch dies der Beginn für Transformationsprozesse in allen europäischen Staaten.
Aus kunsthistorischer Perspektive ist diese Veränderung im 18. Jahr-hundert ebenso sehr interessant, findet doch ein Wechsel vom überladenen und ausgestellten Barock hin zum geradlinigen und klaren Klassizismus statt. Im Rückgriff auf alte klassisch-antike Formen wird ein Kontrapunkt zur Kunst des Barocks gesetzt, stand dieser doch signifikant für den Feudalismus.[3] Somit kann die Entwicklung vom Barock zum Klassizismus auch als eine Entwicklung von der absolutistischen Monarchie hin zum moralisch-religiösen Bürgertum verstanden werden. Mit einfachen Formen, geraden Linien und einem freieren Geist, der keine Perücke mehr tragen muss, wird versucht, den verstaubten und gepuderten Barock zu verlassen, damit die natürliche Schönheit des Menschen wieder in Erscheinung treten kann. Diese Sehnsucht nach Einfachheit und formvollendeter innerer und äußerer Schönheit wird von Winkelmann wie folgt beschrieben: „Wenn der Künstler auf diesen Grund bauet, und sich die griechische Regel der Schönheit Hand und Sinne führen lässet, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur führen wird. Die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen: er wird bei Entdeckung der Schönheiten derselben diese mit dem vollkommenen Schönen zu verbinden wissen, und durch Hülfe der ihm beständiggegenwärtigen erhabenen Formen wird er sich selbst eine Regel werden.“[4] Und dieses Suchen nach Schönheit im griechischen Antlitz finden wir auch in der „Emilia Galotti“ von Lessing. Emilia erscheint als reine, schöne und formvollendete Griechin, die mit ihrer unberührten und mädchenhaft-naiven Erscheinung unter den „Augäpfeln“ der Eltern herangewachsen ist. Jede kleinste Form von Schmutz oder Dreck, die das Ansehen von Emilia und der Familie beschädigen könnten, wird minimiert und ausgeschlossen. So erscheint das bürgerliche Trauerspiel von Lessing in einem Spannungsbogen zwischen der unreinen, unmoralischen, dekadenten und sexuell lustvollen Aristokratie in Form von Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla nebst seinem Hofstaat, und der reinen aufgeklärten bürgerlich-moralischen und religiösen Galotti-Familie, in der jede Form von Übertreibung und Sexualität unterdrückt wird. Zwischen diesen starken Polen steht Emilia Galotti, die in größte Not gerät, weil der Prinz ein großes Interesse an Emilia gefunden hat. Bei einem morgendlichen Gottesdienst wird Emilia vom Prinzen angesprochen. Der Prinz verfolgt nun das Ziel, die unerfahrene und ehrenhafte Emilia als Geliebte zu gewinnen. Er betrachtet dabei Emilia als ökonomischen Gewinn zu seinem Zeitvertreib.[5] Denn der Prinz betrachtet Emilia als Besitz und Ware, die quasi in einem Tauschakt vergeben wird. Sein enger Mitarbeiter und Hofintrigant Marinelli entwickelt eine Intrige gegen die geplante Hochzeit zwischen Emilia Galotti und dem Grafen Appiani, damit der Prinz freien Zugang zu seinem Besitz Emilia haben kann. Marinelli schreckt noch nicht einmal vor einem Mord an dem Grafen Appiani zurück, um die ökonomischen Bedürfnisse des Prinzen zu befriedigen. Emilias Vater befindet sich derweil immer in tiefster Sorge, dass seiner Tochter Emilia nichts zustößt und sie kein unehrenhaftes Verhalten offenbart. Denn auch der Vater verfolgt mit der Hochzeit zwischen seiner Tochter und dem Grafen Appiani eigene ökonomische Interessen, ist er doch an dem Besitz des Grafen interessiert, damit seine Tochter und die zu erwartenden Enkelkinder in der feudalistisch-kapitalistischen Gesellschafts-ordnung abgesichert sind. Durch diese Heirat werden ebenso der Vater und die Mutter von Emilia ökonomisch abgesichert, wird doch damit sichergestellt, dass die beiden im Alter versorgt sind. Fehlendes eigenes Vermögen der Familie Galotti soll durch die Hochzeit zwischen Emilia und dem Grafen Appiani langfristig erzielt werden. Geld, Besitz und andere Vermögenswerte waren in der damaligen Zeit für viele Menschen unerreichbar, befanden sich doch die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Dysbalance, hatten doch nur die Aristokratie, die Kirche und das reiche Bürgertum Zugang zu Bodenbesitz und anderen Vermögenswerten. Die große Mehrheit der Bevölkerung lebte in einfachen und ärmlichen Verhältnissen, ohne eine Chance zu bekommen, aus diesen ungerechten Strukturen auszubrechen. Diesen Kreislauf erläutert Foucault wie folgt: „Wenn die Güter zirkulieren können (und zwar dank dem Gelde), vervielfachen sie sich, und der Reichtum nimmt zu. Wenn die Stücke durch Wirkung einer guten Zirkulation und günstigen Bilanz zahlreicher werden, kann man neue Waren anziehen und die Pflanzungen und die Fabrikenvermehren.“[6] Damit wurde sichergestellt, dass der Reichtum immer unter den gleichen Familien aufgeteilt anwuchs. Eine deutliche Zunahme von Dominanz und Abhängigkeitsstrukturen sind eine Folge dieser Entwicklung in der damaligen Bevölkerung. Geld, Moral und Zirkulation von Gütern gehen eine Verbindung ein, die fragen lässt, wie diese Strukturen überhaupt entstehen konnten.
Im 18. Jahrhundert ändert sich das Verhältnis von Ökonomie und Moral. Die gängige Vorstellung, dass die Wirtschaft ein verlängerter Arm der Aristo-kratie sei, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Jörn Leonhard greift in seinem Text die Idee von Bernard de Mandeville auf, der mit seiner Wirtschaftstheorie zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Auffassung vertritt, dass „wirtschaftlicher Erfolg nicht auf ethischen Prämissen beruhe, sondern auf den an sich unmora-lischen Eigeninteressen der einzelnen Wirtschaftssubjekte. Das gelte gerade für solche Gruppen wie etwa Priester, Ärzte und Anwälte, die ihr Handeln üblicherweise aus moralischen Ansprüchen begründeten.“[7] Damit beleuchtete Mandelville, laut Leonhard, die Gewohnheiten der unterschiedlichen Akteure im beruflichen Kontext, um „ideologiekritisch den Mechanismen und Konse-quenzen eines wohlverstandenen Egoismus auf die Spur zu kommen.“[8] Daraus folgte ein bedeutendes Modell, „nach dem das unmoralische Eigeninteresse der Akteure in der Summe aller Einzelhandlungen zu einem funktionierenden Gemeinwesen führe.“[9] Der angeborene Egoismus des Menschen wird nutz-bringend umgewandelt, denn somit kann das ökonomische Handeln der Akteure in der Gesellschaft aktiviert werden. Was aber eine radikale Wirt-schaftsordnung nach sich zieht, „schlossen sich ethische Wertsysteme und ökonomisches Handeln [doch] gegenseitig aus.“[10] Leonhard greift den Gedan-ken von Friedrich von Hayek auf, der Mandelville „als Vordenker des sich selbst regulierenden Marktes betrachtet.“[11] Aber selbst Mandelville war noch nicht von der selbstregulierenden Kraft der Märkte überzeugt, forderte er doch „politische Kontrolle im Sinne eines etatistischen Merkantilismus, der aber nicht mehr ethisch im Sinne des fürstlichen Haushalts, sondern alleindurch das ökonomische Ziel der Gewinnmaximierung begründet war.“[12] Auch wenn Mandelville seine Theorien in Großbritannien entwickelte, haben die ökono-mischen, ethischen und moralischen (und religiösen)Ziele auch ihre Gültigkeit für das Heilige Römische Reich deutscher Nation, welches bis 1806 existierte und einen zersplitterten Teppich von deutschen Königreichen, Kurfürsten-tümern und Fürstentümern beinhaltete. Ebenso gilt dies auch für andere europäische Regionen und Königreiche, war doch schon damals der europäische Kontinent ein reger Austauschplatz für neue Gedanken und Theorien. Denn der Schauplatz der Handlung liegt bei Lessings „Emilia Galotti“ nicht in Deutschland, sondern Lessing verlegte das bürgerliche Trauerspiel in die italienische Renaissance, um einer eventuellen Zensur zuvor zu kommen.
Aber für das bessere ökonomische Verständnis von Deutschland und Lessings „Emilia Galotti“ soll hier noch auf die deutsche Kameralwissenschaft eingegangen werden. Im 18. Jahrhundert gibt es in den deutschen Territorien große politische und wirtschaftliche Veränderungsprozesse. In vielen Wissens-gebieten entstehen neue Ansatzpunkte im Denken, verbunden mit neuen gesellschaftlichen Strukturen, die nach einem neuen politischen Wissen verlangen. Deutlich in der Kritik stand die politische Philosophie, welche auf einer veralteten Lehrtradition basierte.[13] In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen laut Marcus Sandl„dann die Umrisse eines neuen Fächerkanons, in dem Natur- und Staatsrecht ebenso wie die Staatengeschichte und die zeit-genössische Statistik“ berücksichtigt wird.[14] Den wesentlichen neuen Bereich des politischen Wissens stellt die Kameralwissenschaft dar. In ihr gehen die Ökonomie, die Polizeilehre (Verwaltungstheorie) und die Kameralistik (Finanz-politik) eine gleichberechtigte Verbindung ein.[15] „Die Kameralwissenschaften korrespondierten damit aufs engste mit der Forderung nach einer sachbezogenen Grundlegung des Wissens, unter welcher der Angriff auf die aristotelischen Lehrformen vorgetragen worden war.“[16] Daneben werden wissenschaftssystematische Grundstrukturen kreiert, „mit deren Hilfe die angrenzenden rechtlichen, historischen und politischen Wissensbereiche in einen Gesamtzusammenhang integriert und in ihren Erkenntnisgehalten neu bestimmt werden konnten.“[17] Sandl lässt in seinem Text erkennen, welcher tiefe Zusammenhang zwischen dem Ordnungsgedanken und dem politisch-ökonomischen Wissen jener Zeit besteht. Das ökonomische 18. Jahrhundert suchte nach einer neuen Ordnung, um die politisch-ökonomische Erkenntnisbildung zu manifestieren. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird dieser theoretischen Erkenntnisbildung aufgrund neuer Denkmodelle, der Ökonomie von Adam Smith und der kritischen Philosophie von Kant, ein Ende gesetzt.[18] Die Staatswirtschaft erfährt demzufolge im 18. Jahrhundert eine grundlegende Reform, die anscheinend von Lessing sehr treffend aufgegriffen wird, um im bürgerlichen Trauerspiel „Emilia Galotti“ den Konflikt zwischen dem empfind-samen neuen moralischen Bürgertum und dem in alten Strukturen und Konventionen verharrenden deutschen Adel zu zeigen. An der Kameral-wissenschaft wird deutlich, wie stark die bürgerlichen Kräfte im 18. Jahrhundert gewirkt haben müssen, damit diese neue Form des Denkens überhaupt möglich wurde. Denn dieses starke neue Denken der Menschen nach bisher unbekannten Lösungsansätzen wäre eine entscheidende Komponente um zu verstehen, was die Menschen in der damaligen Zeit antrieb, um ökonomische, politische und gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das dieses neue Denken die Menschen auch überfordern könnte, wird in der „Emilia Galotti“ von Lessing besonders deutlich. Das erstarkte deutsche Bürgertum in Form der Familie Galotti ist immer bestrebt, sich anständig, moralisch und ehrenhaft zu verhalten. In dem ökonomischen und unehrenhaften Besitzanspruch des Prinzen an Emilia Galotti werden alle strengen Regeln und Ansprüche (Gesetze der Familie) der Familie Galotti zerstört. Sie sind mit der kriminellen Energie des Prinzen und seines Hofes vollkommen überfordert, zerstören sie doch alle Ideale des empfindsamen Bürgertums. Es ist immer bestrebt, sich vom Adel sehr streng abzugrenzen, der immer ohne Moral, ohne Religion und ohne Recht und Gesetz handelt. Im 5. Aufzug, 4. Auftritt spricht der Vater: „Mir vorschreiben, wo sie hin soll? – Mir sie vorenthalten? – Wer will das? Wer darfdas? – Der hier alles darf, was er will? Gut, gut; so soll er sehen, wie viel auch ich darf, ob ich es schon nicht dürfte! Kurzsichtiger Wüterich! Mit dir will ich es wohl aufnehmen. Wer kein Gesetz achtet, ist ebenso mächtig, als wer kein Gesetz hat. Das weißt du nicht? Komm an! Komm an! – Aber, sieh da! Schon wieder; schon wieder rennet der Zorn mit dem Verstande davon. – Was will ich?“[19]
[...]
[1] Lessing, Gotthold Ephraim: „Emilia Galotti“. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Stuttgart 2001, S. 21f.
[2] Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 269.
[3] Vgl. Honour, Hugh/Fleming, John: Weltgeschichte der Kunst, München/Berlin/ London/New York 2007, S. 566-577.
[4] Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart 1995, S. 14.
[5] Vgl. Lessing 2001, S. 16f.
[6] Foucault 1974, S. 226.
[7] Leonhard, Jörg: Moral der Ökonomie und Ökonomie der Moral. Die Differenzierung der political economy im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Michael Hochgeschwender/Bernhard Löffler (Hrsg.): Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 71.
[8] Leonhard 2011, S. 71.
[9] Ebd.
[10] Ebd., S. 72.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Sandl, Marcus: Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18.Jahrhundert, Köln 1999, S. 1.
[14] Sandl 1999, S. 1.
[15] Vgl. Ebd.
[16] Sandl 1999, S. 1.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 2.
[19] Lessing 2001, S. 77.