Betrachtet man die Nationalflagge der 1918 proklamierten Republik Estland, fällt auf, dass die Farben blau-schwarz-weiß auch die Farben der 1884 geweihten Fahne des Vereins studierender Esten (EÜS) sind.
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, die Entstehung der estnischen Nation im Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung der studentischen Verbindungen bis hin zum Verein studierender Esten, zu betrachten.
Um diese Zusammenhänge zu klären, liegt ein Schwerpunkt auf den beiden Themen Studentenverbindungen und Nationswerdung. So sollen zunächst Einblicke in die Entstehung und Geschichte des Verbindungswesens im Allgemeinen und die der deutschbaltischen und estnischen Verbindungen im Speziellen gegeben werden. In einem zweiten Schritt wird dann nach einer Einführung zur Geschichte Estlands die Terminologie des „Nationswerdens“ genauer betrachtet. Im letzten Schritt gilt es dann die Studentenverbindungen in diesen Kontext einzuordnen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ein Überblick zum Ursprung und den Charakteristika der Studentenverbindungen
2.1 Deutschbaltische Studentenverbindungen
2.2 Der Verein studierender Esten
3. Nationales Erwachen und die Rolle der Verbindungen
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Betrachtet man die Nationalflagge der 1918 proklamierten Republik Estland, fällt auf, dass die Farben blau-schwarz-weiß auch die Farben der 1884 geweihten Fahne des Vereins studierender Esten (EÜS) sind.
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, die Entstehung der estnischen Nation im Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung der studentischen Ver- bindungen bis hin zum Verein studierender Esten, zu betrachten. Um diese Zusammenhänge zu klären, liegt ein Schwerpunkt auf den beiden The- men Studentenverbindungen und Nationswerdung. So sollen zunächst Einblicke in die Entstehung und Geschichte des Verbindungswesens im Allgemeinen und die der deutschbaltischen und estnischen Verbindungen im Speziellen gegeben werden. In einem zweiten Schritt wird dann nach einer Einführung zur Geschichte Estlands die Terminologie des „Nationswerdens“ genauer betrachtet. Im letzten Schritt gilt es dann die Studentenverbindungen in diesen Kontext einzuordnen.
Während bei den Ausführungen zu den Verbindungen vor allem mit dem von Hans-Dieter Handrack herausgegebenen Werk „Die Korporation als prägende gesellschaftliche Organisation im Baltikum“ gearbeitet wurde, erfolgt die Erläute- rung der Nationswerdung an den Ausführungen und dem Periodenmodell von Miroslav Hroch.
2. Ein Überblick zum Ursprung und den Charakteristika der Studentenverbindungen
Die Vorläufer der Studentenverbindungen werden in der Forschung und besonders auch von den heutigen Studentenverbindungen selbst bis ins Hoch- und Spätmittelalter zurückverfolgt.
An den ersten Universitäten schlossen sich in der damaligen Organisationsform der Nationes Studenten ähnlicher regionaler Herkunft, welche in der Regel auf- grund der noch wenigen Universitäten von weit her kamen, zusammen. Nationes waren aber nicht im modernen Sinn nationalstaatlich motiviert, sondern bildeten aus praktischen Gründen Interessen und Schutzgemeinschaften, da der einzelne Student in der fremden Stadt kaum Rechte besaß und nicht zur Stadtge- meinschaft gehörte.1 Somit konnte er keine kommunalen Rechte und Privilegien für sich beanspruchen, weshalb sich diese Zusammenschlüsse als wichtige Stützen im studentischen Leben erwiesen.
Eng damit verbunden war die Entstehung der Bursen. Der Begriff Burse leitete sich vom lateinischen Wort Bursa für Börse oder Geldbeutel ab und bedeutete in diesem Fall „gemeinsame Kasse“. Diese Zusammenschlüsse ähnelten heutigen Studentenwohnheimen. Es handelte sich dabei um Wohn-, Ess- und Lehrgemeinschaften. Die dort lebenden Studenten wurden bursati oder bursarii gennant, woraus sich der spätere Begriff Bursch entwickelte.2
Im Zuge der zahlreichen Universitätsgründungen und der territorialen Konfessi- onsbindung der Universitäten in Folge der Reformation, verlor die Organisations- form der Nationes bis zum 16. Jahrhundert an Bedeutung, was sich damit be- gründen lässt, dass sich die Einzugsgebiete der Universitäten regional beschränk- ten und die Anzahl der Studenten am jeweiligen Hochschulort somit auch ab- nahm.3
Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelten sich dann neue Landsmann- schaftliche Zusammenschlüsse heraus. Diese bestanden ebenfalls aus Studenten ähnlicher Herkunft und Gesinnung, allerdings mit strikteren Regeln. Der Eintritt war nicht freiwillig und wurde von den älteren Studenten erzwungen. Kennzei- chen dieser Zusammenschlüsse waren auf der einen Seite die Deposition und der ausufernde Pennalismus4 und auf der anderen Seite das formale Organisationsge- füge mit Senior und Consenior, dem Abhalten von Conventen und dem Tragen von Farben, was wir auch bei heutigen Verbindungen noch finden.5 Das Lebens- bundprinzip bestand nicht. Nach dem Verlassen der Universität endete auch die Mitgliedschaft.6
Dieses war erst Ergebnis der Herausbildung der Orden gegen Ende des 18. Jahr- hunderts, die neben den Landsmannschaften die zweite Gruppe der damaligen Verbindungen bildeten. Bei den Orden handelte es sich um studentische Zusam- menschlüsse nach dem Vorbild der Freimaurerlogen. Mit diesen teilten sie die Geheimhaltung, die selbstbestimmte Auswahl ihrer Mitglieder, ein durchdachtes Zeremoniell und schließlich das Lebensbundprinzip. Sie unterschieden sich aber auch dadurch von den Landsmannschaften, dass sie ein weltanschauliches Pro- gramm hatten. Von diesen Orden stammte nicht nur die Tradition des Lebensbun- des, sondern auch der Zirkel als äußeres Zeichen, was sich ebenfalls bei heutigen Verbindungen noch findet.7
Weder die Landsmannschaften noch die Orden hatten politische Bedeutung.8
Am Ende des 18. Jahrhunderts bildete sich dann noch die Form der Corps heraus, die entschieden unpolitisch waren und sich mehr der Erziehung und Persönlich- keitsbildung verpflichtet fühlten und auch noch heute bestehen.9 Aus diesen genannten Vorläufern und natürlich noch einiger Randgruppen, Diffe- renzierungen und Besonderheiten, die im Rahmen dieser Arbeit nicht thematisiert werden können, entwickelten sich dann zum 19 Jh. hin die politisch motivierten Burschenschaften.
Viele Studenten beteiligten sich in dem Befreiungskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft und schlossen sich deshalb dem Lützowschen Freicorps an, das 1813 durch Major Adolf Freiherr von Lützow mit Erlaubnis des preußischen Kö- nigs gegründet worden war, um die regulären Truppen zu unterstützen. Hier und in der danach einsetzenden Restauration wird in der älteren Forschung der Schlüs- selpunkt zum entstehenden Nationalbewusstsein und der Gründung der ers- ten Burschenschaft, mit dem Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland“ gesehen.10 Allerdings wurde der Nationalismus im Verbindungswesen nicht ausschließlich aus der Gegnerschaft zu Frankreich und der Volksrivalität bestimmt, sondern schon von der Aufklärung an, vielmehr aus dem Fortschrittsdenken und den ge- sellschaftlichen Machtansprüchen des Bildungsbürgertums gebildet.11
Der Krieg gegen Frankreich ist daher nicht als Ursache sonder eher als Auslöser für die Gründungen der Burschenschaften zu verstehen, da sich in der Kleinstaate- rei die Unfähigkeit und Schwäche der Deutschen absolutistischen Fürstentümer gezeigt hat.12
Die Forderung nach staatlicher Einheit aller deutschen Territorien und nach Partizipation der Bürger an der staatlichen Willensbildung und Gesetzgebung, ist kennzeichnend für die Burschenschaftsbewegung nach 1815.13
In diese Zeit lässt sich dann auch eine Zunahme der Studentenverbindungen in Dorpat erkennen, was abgesehen von den studentischen Bewegungen vor allem auch an der Wiedereröffnung der Universität lag.
[...]
1 Kurth, Alexandra: Männer - Bünde - Rituale, Studentenverbindungen seit 1800, 2004 Frankfurt/Main, S. 55 - 57.
2 Schwinges, Rainer C.: Der Student in der Universität, in: Rüegg, Walter (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1 Mittelalter, München 1993, S. 203 - 204.
3 Vgl Müller, Rainer A.: Landsmannschaften und studentische Orden an deutschen Universitäten des 17. Und 18. Jahrhunderts, in: Brandt, Harm- Hinrich; Stickler, Matthias (Hrsg.): Der Burschen Herrlichkeit. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, S.17.
4 Vgl. hier Füssel, Marian: Riten der Gewalt : zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung, Bd. 32, Berlin 2005, S. 608 - 631.
5 Vgl. Kurth S. 70-71.
6 Ebd. S. 65 - 71.
7 Ebd. S. 72 - 78.
8 Gladen, Paulgerhard : Gaudeamus igitur: Die studentischen Verbindungen einst und jetzt. München 1986, S. 12.
9 Möller, Silke: Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“, studentische Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1871 - 1914 (Diss.), Stuttgart 2001, S. 110.
10 Hardtwig, Wolfgang: Studentische Mentalität - Politische Jugendbewegung - Nationalismus : die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: Historische Zeitschrift, Bd. 242, München 1986, S. 586 - 588.
11 Hardtwig 1986, S. 606 - 608.
12 Ebd. S. 602- 603.
13 Ebd. S. 605.