Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Pflichten des Sokrates, beruhend auf den Schriften des Platon, "Apologie" und "Kriton".
In diesen beiden Werken des Platon hat es den Anschein, als werden Formen der Pflicht beschrieben – in der "Apologie" gegenüber Gott und im Dialog „Kriton" gegenüber dem Staat. Ich werde in dieser Untersuchung beide Texte untersuchen sowie gegenüberstellen.
Die Frage, welche zu beantworten ist, lautet: Beschreibt Platon in seinen Werken Formen der Pflicht? Beschreibt er womöglich zwei grundverschiedene Formen? Kann man überhaupt von einer Pflicht sprechen und wenn nicht, welches Wesen tragen dann die beschriebenen Handlungen des Sokrates?
Inhalt
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Sokrates Pflicht gegenüber Gott
2.2 Sokrates Pflicht gegenüber dem Staat
2.3 Des Sokrates Pflichten im Vergleich
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Beim ersten Lesen der Verteidigungsrede des Sokrates entstand bei mir der Eindruck, dass es sich bei dem Grund der Anklage, beziehungsweise der Schuld oder gar dem Verbrechen, lediglich um ein Resultat eines Pflichtbewusstseins handeln muss. Bei mir kam der gleiche Eindruck auf, als ich im Anschluss daran den Dialog „Kriton" las. In diesen beiden Werken des Platon hat es den Anschein, als würden Formen der Pflicht beschrieben – in der Verteidigungsrede gegenüber Gott und im Dialog „Kriton" gegenüber dem Staat. Ich werde in dieser Untersuchung meinem ersten Eindruck nachgehen, indem ich die beiden Texte untersuche sowie gegenüberstelle.
Ich beginne im Kapitel 2.1 mit der Analyse der Verteidigungsrede des Sokrates und im Anschluss daran gehe ich auf Platons Dialog Kriton ein. Ich erhoffe mir dadurch einen Überblick über die elementaren Aussagen bezüglich eines möglichen Pflichtbewusstseins schaffen zu können, doch darf man nicht vergessen, welchen Zweck dieser erste Teil der Arbeit hat – er ist eine Grundlage für das letzte Kapitel des Hauptteils. In diesem letzten Abschnitt des Hauptteiles stelle ich die herausgearbeiteten Punkte gegenüber. Ich werde die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Fälle aufzeigen, in der Hoffnung mir selbst und dem Leser Aufklärung zu geben. Denn es bleibt die Aufgabe, meinem ersten Leseeindruck nachzugehen und nach Bestätigung dessen zu suchen.
Die Frage, welche zu untersuchen ist, lautet: Beschreibt Platon in seinen Werken „Die Verteidigung des Sokrates” und „Kriton” Formen der Pflicht? Beschreibt er womöglich zwei grundverschiedene Formen? Kann man überhaupt von einer Pflicht sprechen und wenn nicht, welches Wesen tragen dann die beschriebenen Handlungen des Sokrates?
2. Hauptteil
Die Kapitel 2.1 sowie 2.2 haben die Aufgabe den Leser auf den angestrebten Vergleich im Kapitel 2.3 vorzubereiten. Ich werde deshalb in den folgenden zwei Kapiteln eine Übersicht bzgl. den wichtigsten und entschiedensten Aussagen herstellen, um somit einen verständnisvollen und übersichtlichen Vergleich im letzten Kapitel darstellen zu können.
2.1 Sokrates Pflicht gegenüber Gott
Die Grundlage dieses Kapitels ist Platons verfasste Verteidigungsrede des Sokrates. Ich werde die Kernaussagen des Textes auf den folgenden Seiten darstellen.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass der Staat Athen Anklage gegen Sokrates erhoben hat. Es wird in zwei Formen von Klägern unterschieden. Die erste Form ist nicht zu greifen, da sie wie Schatten ohne Gesicht und Körper ist. Aufgrund dessen bezeichne ich diese Form als objektive Kläger. Die zweite Form hat ein Gesicht in Form des Meletos und ist deshalb subjektiv. Die objektiven Kläger behaupten, dass Sokrates sündigt indem er unterirdische sowie himmlische Dinge untersucht. Darüber hinaus wird behauptet, dass er Unrecht zu Recht macht und dies auch andere Menschen lehrt. Sokrates äußert sich zu dem Punkt des Lehrens, doch ist für meine Untersuchung wichtig was im Anschluss daran gesagt wird. Er gibt nämlich eine Begründung für die Anklage selbst. Es bleibt schließlich zu erfragen, weshalb er sich solchen Beschuldigungen zu unterziehen hat. Warum er in dem Ruf steht die Jugend zu beeinflussen. Weshalb er Unrecht zu Recht macht und warum behauptet wird, dass er nicht an die Götter glaubt. Für Sokrates ist es eindeutig. Die Weisheit hat ihn in diese prekäre Lage gebracht und eben diese Weisheit hat ihren Ursprung in den Göttern – in jenen, an die Sokrates laut der Anklage nicht glauben soll.
Um dies zu erläutern wird auf Sokrates Freund Chairephon verwiesen. Dieser ging zum Orakel von Delphi, um zu erfragen, ob es einen weiseren Menschen gibt als Sokrates – die Pythia leugnete dies. Aufgrund dieses Ereignisses begann Sokrates seine Untersuchung, da er die Behauptung des Orakels anzweifelte. Er ging zu einem Staatsmann und stellte fest, dass dieser Mann zwar denkt weise zu sein, es jedoch nicht ist und somit er selbst in einem Punkt weiser ist als dieser, da er „[…] was [er] nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.” (Platon 1982, S. 12). Darüber hinaus ging er zu den Dichtern und Handwerkern. In beiden Fällen stellte sich das gleiche Resultat heraus. Die einen dichten zwar weise, doch bleibt ihnen der Sinn ihrer eigenen Dichtung vorenthalten und die anderen beherrschen ihr Handwerk und leben deshalb in dem Glauben Sämtliches auf Erden zu beherrschen. Sokrates ist der Meinung, dass der Missmut gegen ihn aufgrund dieser Art der Untersuchung entflammt ist. Die darauf folgende Aussage ist eine Relativierung der Weisheit des Menschen gegenüber der Weisheit Gottes. Es wird gesagt, dass die Götter Sokrates willkürlich ausgesucht haben, um an ihm zu zeigen, dass die Weisheit des Menschen Nichts oder eben nur Weniges wert sei – exakt dies ist der Auftrag, dem sich Sokrates verpflichtet fühlt und die Verteidigung zeigt diesen Punkt in unbestreitbarer Klarheit. „Dieses nun, nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, gehe ich auch jetzt noch umher, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige ihm, dass er nicht weise ist.” (Platon 1982, S. 14). Sokrates geht in seiner Ausführung noch einen Schritt weiter, denn er sagt, dass er dem Auftrage Gottes in solcher Konsequenz nachgegangen ist, sodass er in „[…] tausendfältiger Armut lebe […] wegen dieses dem Gotte geleisteten Dienstes.” (Platon 1982, S. 14).
In den darauffolgenden Abschnitten geht der Angeklagte speziell auf die Klage der Jünglingsbeeinflussung ein. Er gibt zu, dass die Jugend ihn bei seinen Untersuchungen lauschten und dass diese daraufhin angeregt wurden selbst Nachforschungen anzustellen. Auch sie befragten Menschen nach ihrer Weisheit und auch bei ihren Untersuchungen stellte sich heraus, dass zwar viele denken weise zu sein, es jedoch in Wahrheit nicht sind. Somit hat die Wut der Menschen gegenüber Sokrates ihren Grund im Offenbar-Machen ihrer eigenen Fehlbarkeit sowie nicht vorhandener Weisheit und demzufolge ist der Grund der Anklage vielmehr verletzter Stolz als wahrhaftes Verbrechen. „Denn die Wahrheit, denke ich, möchten sie nicht sagen wollen, dass sie nämlich offenbar werden als solche, die zwar vorgeben, etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber nichts wissen.” (Platon 1982, S. 14). Dies waren jene Punkte der objektiven Ankläger und Sokrates ist der Meinung, dass er die Gründe ihres Missmutes zu Genüge dargelegt, sowie widerlegt hat.
Die Klage des subjektiven Klägers Meletos unterscheidet sich kaum von der der Objektiven. Er behauptet ebenso, dass Sokrates die Jugend verdirbt und darüber hinaus die Götter des Staates nicht annimmt, doch dafür im Gegenzug Neues, Dämonisches anerkennt. Sokrates richtet sein Hauptaugenmerk auf den Vorwurf der Ablehnung der staatlichen Götter und dem damit verbundenen Glauben an das Dämonische. Er verteidigt sich indem er sagt, dass er sehr wohl gläubig ist und dass er sehr wohl an die Götter glaubt. Untermauert wird diese Aussage durch den ihm vorgeworfenen Glauben an das Dämonische. Der Glaube an das Dämonische ist für Sokrates zugleich ein Glaube an Dämonen selbst und da die Dämonen die Kinder der Götter sind kommt er zu dem Schluss, dass er sehr wohl an die staatlichen Götter glaubt, denn, „[…] welcher Mensch könnte dann wohl glauben, dass es Kinder der Götter gäbe, Götter aber nicht?” (Platon 1982, S. 19). Der Angeklagte hat seinem Verständnis nach sämtliche Vorwürfe widerlegt, doch wirft er selbst die Frage auf, die für meine Untersuchung elementar ist. „Aber schämst du dich denn nicht, Sokrates, dass du dich mit solchen Dingen befasst hast, die dich nun in Gefahr bringen zu sterben?” (Platon 1982, S. 20) Sokrates leitet seine Antwort mit dem Verhalten des Achilles ein. Dieser nahm Rache für den Tod des Patroklos und er tat dies mit dem Wissen, dass er daraufhin sterben wird. Für Sokrates ist klar, dass Achilles dies tat weil er lieber den Tod erleiden wollte als den Beleidiger, in Form des Hektor, am Leben zu lassen. Sokrates schließt aus dem Denken und dem Handeln des Achilles auf sein eigenes Denken und Handeln – Jeder Mensch soll sich in dem Bereich aufhalten, welcher ihm am besten dünkt oder wohin ihn ein oberer Wille führt und muss dann „[…] jede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst irgendetwas in Anschlag bringen gegen die Schande.” (Platon 1982, S. 20).
Sokrates betrachtet seine erbrachten Taten als Dienst für die Götter, denn er wurde von diesen beauftragt nach Weisheit zu suchen und ebenso vollzog er sein Leben in ständiger Rastlosigkeit und getrieben von der Pflicht gegenüber den Göttern. Der Angeklagte hat seine eigenen Angelegenheiten ruhen lassen, um all seine Kraft in diese Aufgabe zu investieren. „Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, dass meine Angelegenheiten zurückstehen, […].” (Platon 1982, S. 23). Dieser Punkt wird untermauert mit der eigenen Armut und dass niemand zu finden sei, der beweisen könne, dass er selbst jemals einen Lohn für sein Reden genommen hat.
Im Anschluss an diese Aussage geht Sokrates auf den zweiten Anklagepunkt des Meletos ein – die Beeinflussung der Jugend. Er äußert sich zu dem möglichen Grund ihres Interesses für sein Reden. Sokrates vertritt die Annahme, dass die Jünglinge Freude empfanden, als sie herausfanden, dass doch nicht alle Menschen so weise sind, wie sie selbst von sich behaupteten. Er selbst hat daran aber keine Freude, da es seine zu erfüllende Pflicht ist. „Mir aber ist dieses, wie ich behaupte, von dem Gotte auferlegt zu tun durch Orakel und Träume und auf jede Weise, wie nur je göttliche Schickung einem Menschen etwas auferlegt hat zu tun.” (Platon 1982, S. 26).
Selbst nach der Verurteilung hält Sokrates an seinem Standpunkt fest und der Monolog welchen Platon zum Ende der Verteidigung verfasst hat, offenbart diesen Punkt eindeutig. Er lässt ihn sagen, dass selbst wenn er auswandern müsste, er trotzdem mit den Jünglingen reden würde, dass er weiterhin seiner Suche nachgehen würde und dies tut er, weil er sich nicht von der göttlichen Pflicht befreien kann.
Es ist für mich beeindruckend in welcher Konsequenz Sokrates an seinem Standpunkt festhält. Selbst nach dem Todesurteil geht der Protagonist weiter in seiner Konsequenz. Er richtet eine Bitte an seine Kläger. Sie sollen seine Söhne lehren, sie bestrafen, sie quälen, sollten sie den Reichtum höher schätzen, als die Tugend oder sollten sie etwas vorgeben zu sein, was sie nicht sind. Er möchte, dass seine Söhne so behandelt werden, wie er selbst all jene Jünglinge und all jene Menschen behandelt hat bei seiner Suche nach der menschlichen Weisheit. Sokrates gibt somit den Auftrag der Götter weiter an jene, die ihn von dieser Pflicht durch die Verurteilung zum Tode befreien. (Vgl. Platon 1982, S. 9ff).
2.2 Sokrates Pflicht gegenüber dem Staat
Nachdem ich im vorherigen Kapitel die Hauptpunkte der Verteidigung des Sokrates’ dargelegt habe, gehe ich nun auf Platons Dialog „Kriton" ein.
Das Gespräch zwischen Sokrates und Kriton findet in der Gefängniszelle nach der Verurteilung zum Tode statt. Der Grund für Kriton's Erscheinen ist der Wunsch, dem Sokrates zur Flucht zu verhelfen, selbst wenn er dabei enorme Geldsummen aufbringen müsste. Denn „[…] was für einen schlechten Ruf könnte es wohl geben, als dafür angesehen zu sein, dass man das Geld höher achte als die Freunde?” (Platon 1982, S. 41). Sokrates beruhigt Krition, indem er sagt, dass es nicht darauf ankommt, was die Vielen denken. Es kommt lediglich darauf an, dass die Besseren wissen, wie es sich zugetragen hat, da auch nur die Besseren die gute Meinung besitzen und eben diese ist die Meinung der Vernünftigen. Demzufolge kommt es für Sokrates auch nur darauf an, was derjenige sagt, der vom Geschäft des Guten und Gerechten ein Sachverständiger ist und somit selbst gerecht ist und die Wahrheit sagt. Aufgrund dessen ist auch nur das gute und gerechte Leben lebenswert – genauso wie auch nur die Meinung des guten und gerechten Menschen beachtenswert ist. Sokrates baut seine nächsten Gedanken auf der Grundlage der Gerechtigkeit auf und kommt zu dem Schluss, dass er nicht gerecht handeln würde, sollte er ohne dem Wissen der Athener aus dem Gefängnis oder gar der Stadt flüchten. Dieser Punkt wird verstärkt indem gesagt wird, dass unrechtes Tun stets falsch ist, selbst wenn man Unrechtes tut als Folge der Ungerechtigkeit selbst. Jedoch stelle ich mir die Frage – wem gegenüber würde sich Sokrates ungerecht verhalten im Falle einer Flucht?
Er selbst schildert es dem Kriton wie folgt. „Erwäge es denn so: Wenn, indem wir von hier davonlaufen wollten, oder wie man dies sonst nennen soll, die Gesetze kämen und das gemeine Wesen dieser Stadt, und uns in den Weg tretend fragten: Sage nur, Sokrates, was hats im Sinne zu tun? Ist es nicht so, dass du durch diese Tat, welche du unternimmst, uns, den Gesetzen, und also dem ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist?” (Platon 1982, S. 48). Sokrates würde demzufolge an den Gesetzen und zugleich an dem gesamten Staat Unrecht verüben und diesem Schaden zufügen. Es existiert somit eine Pflicht gegenüber dem Staat in dem er sein gesamtes Leben gelebt hat. Diese Abhängigkeit entsteht dadurch, dass der Staat jedem Bürger das Leben geschenkt, Bildung ermöglicht und Freiheit gegeben hat. Die Freiheit bezieht sich auf die Möglichkeit den Staat zu verlassen, sollte man mit den Umständen der Politik nicht einverstanden sein. Bleibt man jedoch in dem Staat ist dies gleichzusetzen mit einem stillen Einvernehmen gegenüber Politik und Rechtssprechung. Bei einer Flucht würde er handeln „[…] wie nur der schlechteste Knecht handeln [könnte], indem [er] […] zu entlaufen versucht gegen alle Verträge und Versprechungen, nach denen [er] […] versprochen hat, als Bürger zu leben.” (Platon 1982, S. 52). Aufgrund dessen gilt die Regel – wer in Athen lebt, geht zugleich einen Vertrag als Bürger ein und gibt ein Versprechen für die Achtung der Gesetze sowie der Rechtssprechung ab. Aus diesem Grund kann Sokrates nicht fliehen und es ist dabei nicht von Belang ob er seine Strafe als gerecht oder ungerecht erachtet, da er 70 Jahre den Regeln und den damit verbundenen staatlichen Pflichten gefolgt ist und die Privilegien durch den Staat genossen hat.
Zum Schluss des Dialogs Kriton schafft Platon noch eine wichtige Verbindung zwischen den menschlichen Gesetzen und dem Göttlichen. Er lässt Sokrates im Monolog sagen, dass wenn er die Gesetze Athens missachtet, er nicht nur diesem menschlichen Recht zuwiderhandeln würde sondern dass er dadurch zugleich bei den Göttern der Unterwelt in Missgunst fallen würde. Der letzte Satz des Sokrates schließt wiederum mit Gott ab und es besteht auch hier die Verbindung zwischen gerechtem Handeln innerhalb des Menschengeschlechts und dem göttlichen Willen. (Vgl. Platon 1982, S. 39ff). „Wohl denn Kriton! So lass uns auf diese Art handeln, da uns hierhin der Gott leitet.” (Platon 1982, S. 54).
2.3 Des Sokrates Pflichten im Vergleich
Die beiden ersten Kapitel dieser Untersuchung bilden die Grundlage für meinen angestrebten Vergleich. Dieser bezieht sich auf die zwei Formen des Pflichtbewusstseins, welche durch Sokrates zum Ausdruck gebracht wurden. Die Unterschiede beider Probleme lassen sich an sieben Punkten festmachen.
Punkt Eins: Sokrates fühlt sich in beiden Werken des Platon gegenüber einem äußeren Willen verpflichtet fühlt. Die Pflicht gegenüber Gott ist für Sokrates jedoch von bedeutend höherer Priorität als jene gegenüber dem Staat. Denn für ihn ist klar, dass er stets der Suche nach der Weisheit vorrangig begegnen wird, als dem gehorsamen Verhalten gegenüber dem Staat.
Punkt Zwei: Die Ausübung, beziehungsweise die Befolgung der Pflicht ist verschieden. Jene gegenüber dem Staat ist passiv, lediglich die Pflichtverletzung ist aktiv. Die Pflicht gegenüber Gott ist jedoch in der Ausführung aktiv, denn man muss Initiative zeigen, um diese zu erfüllen. Aufgrund dessen bedarf sie des Handelns.[1] Ich möchte hierbei auf den Handlungsbegriff von Hannah Arendt verweisen. Sie sieht in dem Handeln eine natürliche Fähigkeit des Menschen und dieses Vermögen ist abhängig von der Pluralität innerhalb der Gesellschaft. Für diese Untersuchung ist entscheidend, dass das Handeln nur im Bereich des Öffentlichen stattfindet und gekennzeichnet ist durch Taten und Worte. Mithilfe dieser Eckpfeiler der Theorie Arendt’s ist schon zu erkennen, dass das, was Sokrates tat, eine Handlung war. Er hat sich nicht systemkonform verhalten, sondern Initiative gezeigt. Er hat durch seine Suche nach der Weisheit den öffentlichen Bereich mit seinen Reden genährt und die Pluralität innerhalb der Gesellschaft aufrechterhalten. (Vgl. Arendt 1967, S. 15f).
Punkt Drei: Die Sanktion bei Pflichtverletzung ist verschieden. Sollte man seine Pflicht gegenüber dem Staat nicht erfüllen, folgt eine direkte Sanktion – im Fall von Sokrates war dies die Todesstrafe. Würde jedoch Sokrates gegenüber dem Göttlichen seine Pflicht nicht erfüllen, ist die Strafe nicht eindeutig zu bezeichnen. Platon geht auf diese Möglichkeit lediglich ein, indem er Sokrates sagen lässt, „[…] oder wohin einer von seinen Obern gestellt wird, da muss er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und weder den Tod noch sonst irgendetwas in Anschlag bringen gegen die Schande.” (Platon 1982, S. 20). Ergo ist die Schande jene Sanktion, die man erhält, sollte die Pflicht gegenüber Gott nicht erfüllt werden. Eine Schande selbst ist ein Affekt, welche von Individuum zu Individuum in unterschiedlicher Stärke und Dauer zum Ausdruck kommt. Sie ist somit subjektiver Natur und das Subjektive ist meiner Meinung nach elementar beim Vergleich der Pflichten des Sokrates. Diese Behauptung wird durch das Folgende bekräftigt. Die Pflicht gegenüber dem Staat und wie man dementsprechend pflichtbewusst lebt, ist allgemein bekannt. Jeder Bürger ist davon in Form von Gesetzen in Kenntnis gesetzt und aus diesem Grund kann man diese Form als objektive Pflicht betiteln. Die Pflicht gegenüber den Göttern ist jedoch rein subjektiv. Sokrates ist der einzige, der von dieser Pflicht in Kenntnis gesetzt ist.[2] Sie ist individuell und somit kann auch nur die Sanktion diesen Charakter tragen, beziehungsweise kann die Sanktion nicht sichtbar oder nachvollziehbar für die Außenwelt sein. Aufgrund dessen kann man die Pflicht gegenüber den Göttern auch subjektive Pflicht nennen.
Punkt Vier: Das Erlangen der Pflicht. Auf der einen Seite erhält man die staatlich-objektive Pflicht zugleich mit der Geburt und auf der anderen Seite erhält Sokrates seine göttliche Aufgabe direkt durch Gott in Form von Träumen sowie dem Orakel von Delphi. Man erkennt an diesem Fakt eindeutig das Aktiv-Passiv-Verhältnis der beiden Formen der Pflicht. Entscheidend ist, dass man sich bei der göttlichen Pflicht aktiv dafür entscheiden muss und bei der staatlichen Pflicht aktiv dagegen. Die einzige Möglichkeit innerhalb der staatlich-objektiven Pflicht aktiv zu werden, besteht in der Pflichtverletzung. Wir haben es somit mit zwei vollkommen verschiedenen Arten von Tätigkeiten zu tun. Auf der einen Seite das aktive Handeln gekennzeichnet durch Initiative, Taten sowie Worten und auf der anderen Seite das passive Dulden gekennzeichnet durch systemkonformes Sich-Verhalten.
Punkt Fünf: Potentielle Pflichtentziehung. Es ist in Sokrates Verteidigungsrede deutlich geworden, dass er sich nicht von der göttlich-subjektiven Pflicht entziehen kann. Denn selbst wenn er unter der Auflage, seine Untersuchung einzustellen, freigesprochen werden würde, würde er seine Suche trotzdem fortführen. Diese Pflicht ist eben in brutaler Konsequenz an das Subjekt Sokrates gebunden. Die Pflicht gegenüber dem Staat besteht nicht in solch einer Radikalität und ist nicht an ein Subjekt, sondern an ein Territorium gebunden. Sie existiert nur solange das Subjekt sich dem Staat unterstellt, beziehungsweise in seinem Territorium lebt. Wäre Sokrates vor der Anklageerhebung ausgewandert, hätte er von seinem Freiheitsrecht Gebrauch gemacht und die Klage wäre nicht legitim, da er nicht mehr der staatlich-objektiven Pflicht unterstellt gewesen wäre. Man erkennt hier deutlich den Unterschied zwischen den Pflichten bezüglich der Dauerhaftigkeit. Betrachtet man diesen Punkt mit Termini der Metaphysik des Aristoteles wird dies meiner Ansicht nach noch deutlicher. Die staatlich-objektive Pflicht wird aktuell mit der Geburt, doch besitzt jeder Bürger potenziell die Fähigkeit aus diesem Verhältnis auszutreten. Die göttlich-subjektive Pflicht ist zur Zeit der Geburt eines Menschen rein potenziell und erst durch ein Ereignis hin kann diese Potenz in den Status des Aktus transformiert werden. Der entscheidende Unterschied zur objektiven Pflicht ist jedoch, dass wenn erst einmal der Status des Aktus erreicht ist, kann dieser nicht wieder in den Status des Potenziellen verschoben werden. Im Falle von Sokrates kann man sagen, dass er vom Status des Aktuellen getrieben wurde. (Vgl. Aristoteles 1920, S. 228ff).
Punkt Sechs: Die Form der Belohnung für eine erfolgte Pflichterfüllung. Einen Lohn von Seiten Gottes gibt es nicht direkt. Allerdings bin ich der Meinung, dass es eine Belohnung vom Staat gibt. Platon drückt es nicht per se so aus, doch ist eine Form der Belohnung das Weiterleben. Darüber hinaus gibt der Staat dem Menschen Bildung, Sicherheit und verlangt aufgrund dessen Gehorsamkeit. Gott gibt dem beauftragten Menschen nichts, ergo erfolgt diese Pflichterfüllung aufgrund der Pflicht selbst und nicht aufgrund einer erbrachten Leistung oder einer Schuld. Eines muss dabei meiner Meinung nach berücksichtigt werden: ein Resultat der göttlich-subjektiven Pflichterfüllung ist die Tugend sowie das gute Leben. Aufgrund dieses Punktes werden meine Termini der objektiven– und subjektiven Pflicht wieder relevant – nur das Subjekt selbst kann die Belohnung in Form der Tugend erfahren, wohingegen die Belohnung vom Staat für jeden Bürger sichtbar sein muss.
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