Neben der rein rechtlich-politischen Verfahrensberatung in Aufnahmestellen für Flüchtlinge nimmt die Sozialberatung eine große Rolle ein.
Viele Menschen sind von der Flucht und den Erlebnissen im Heimatland traumatisiert. Oft begleitet von der Trauer um den Verlust von Familienangehörigen. Ohnmächtig ob der fehlenden Zukunftsperspektive gehören psychosoziale Beratungsgespräche zum Alltag.
Diese Ausarbeitung befasst sich mit der Fallanalyse von Frau S. Sie ist 36 Jahre alt und stammt aus dem Irak. Ihre zwei Söhne (14 und 12) begleiten sie. Der ältere der beiden ist Autist.
Die Familie war über zwei Monate auf der Flucht.
Inhaltsverzeichnis
1 Kontext der Beratung
2 Überblick über den Beratungsprozess
2.1 Angaben zur Klientin
2.2 Dauer der Beratungen
3 Anamnese/Hintergrund der Klientin
3.1 Visualisierungen der familiären Strukturen von Fr. S.
3.2 Hypothesen zu Beginn der Beratung
4 Überweisungskontext
5 Ziele und Auftrag der Klientin
6 Kontrakt
7 Darstellung des Beratungsverlaufs
7.1 Hypothesen während der Beratungsverlaufs
7.2 Veränderungen zwischen den Beratungsverlaufs
7.3 Interventionen/ Wirkung der Interventionen (Stabilisierungsarbeit)
7.4 Abschluss
8 Abschluss mit Einschätzung des Prozesses
8.1 Rückmeldungen der Klientin/ Dolmetscherin
8.2 Rückmeldungen der Ehrenamtlichen
9 Eventuelle Nachbetreuung
9.1 Wirkung der Supervision/Kollegialer Supervision/das Reflecting Team
10 Reflexion
1 Kontext der Beratung
Ich arbeite in der Aufnahmestelle in X und im Zuge der Sozial- und Verfahrensberatung können Menschen, die auf der Flucht sind bzw. waren und in der EA ihren Asylantrag stellen wollen ihre Fluchtgründe zu begründen um vorübergehend oder dauerhaft Schutz in Deutschland zu bekommen.
Die Menschen möchten als erstes Informationen über die weitere Vorgehensweise in der Erstaufnahmestelle, die Zeit und Dauer ihres Aufenthalts, die weitere Vermittlung in die Landkreise nach Y erfahren. Die Flüchtlinge sind verunsichert, sie kennen unsere Kultur nicht, aufgrund der Sprachbarriere, können sie nicht kommunizieren. Zusätzlich können Fragen in Bezug auf die Familienzusammenführung, Verlegungswunsch zur Kernfamilie, medizinische Fragen oder das Asylverfahren besprochen werden.
2 Überblick über den Beratungsprozess
2.1 Angaben zur Klientin
Frau S., 36 Jahre alt, wohnte seit einem Tag in der EA-X, sie stammt aus dem Irak, geboren in Bagdad, ethnische Gruppenzugehörigkeit Kurdin, sie spricht Arabisch, trägt einen langen Mantel und ein Kopftuch, ich hätte sie als eine 50 jährige Dame geschätzt. Ihre zwei Söhne begleiten sie, Kind 1, 14 Jahre alt, Autist und Kind 2, 12 Jahre alt. Die Familie war über zwei Monate auf der Flucht und ist am 24.5.2015 in die Erstaufnahmestelle angekommen.
2.2 Dauer der Beratungen
Vom 24.06.2015 bis zum 20.07.2015 war S. in der EA-X. In dieser Zeit hatten wir vier intensive Gespräche im Büro, diese dauerten jeweils eineinhalb Stunden. Zweimal besuchte ich sie in ihrem Zimmer sowie einmal zur Begleitung zur Sandspieltherapie für ihren Sohn, die ich betreut hatte.
Zu diesem Sozial- und Verfahrensberatungen gehört noch die Betreuung von der Dolmetscherin Frau B. und einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin, Frau C. die in dieser Zeit eine große Rolle gespielt hatte.
3 Anamnese/Hintergrund der Klientin
3.1 Visualisierungen der familiären Strukturen von Fr. S. Erstkontakt
Am 24.05.2015 kam Fr. S. mit ihren zwei Kindern in mein Büro und erzählte mir aufgeregt auf Arabisch ihre Geschichte. Ich verstand Sie leider nicht und zu dieser Zeit hatte ich keinen Arabisch-Dolmetscher zur Hand, deswegen habe ich ihr für den nächsten Tag einen Termin gegeben, bis dorthin konnte ich eine Dolmetscherin organisieren.
Dolmetscherin: Am folgenden Tag konnte ich eine Dolmetscherin für Arabisch und Kurdisch organisieren, die offiziell für die Sozial- und Verfahrensberatung übersetzt. Frau B. übersetzt für den Dolmetscherpool für den Landkreis Z. Sie ist geschult und seit mehreren Jahren als Dolmetscherin tätig
Frau S. kam mit ihren zwei Söhnen in die Beratung. Dem älteren Sohn Kind 1 konnte ich ansehen, dass er geistig abwesend war, als ob er in einer anderen Welt wäre. Die Klientin war sehr erleichtert als sie am nächsten Tag in mein Büro kam und die Dolmetscherin B. antraf, die sie herzlichst auf Kurdisch begrüßte.
Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, damit S. Bescheid wusste, dass alles was sie sagte in maximal 2-3 Sätzen zurückübersetzt wurde, bevor sie weiter erzählen konnte.
Frau S. zeigte auf ihren jüngeren Sohn und stellte ihn als Kind 2 vor, dann deutete sie auf den älteren Sohn und sagte, dass er Kind 1 heißt. S. erzählte, als ihr Mann ermordet wurde, während des Saddam Hussein-Regimes, war ihr älterer Sohn Kind 1 gerade sieben Monate alt. Die Kultur verlangt, damit sich die Söhne von dem Vater verabschieden können, wird der Säugling auf den toten blutdurchströmten Körper des Vaters gelegt. Frau N. musste es zulassen. Sie konnte nicht zusehen, wollte den Säugling wegnehmen, doch sie hatte sich nicht getraut, sie stand gelähmt da und war wie erstarrt.
Sie musste aus ihrer Heimat, ihrem Haus weggehen da der Islamische Staat sie immer wieder bedrängte und nicht in Ruhe ließ. Sie musste regelmäßig Bakschisch bezahlen damit die IS ihr Haus in Ruhe lassen. Sie hatte ein großes Haus, viele Bedienstete und ein gutes, wohlhabendes Leben. Einige Leute haben ihr von der Flucht nach Europa erzählt. Sie bezahlte einige Schlepper, die sie aus dem Irak mit unterschiedlichen Fahrzeugen rausgebracht hatten und bis in die Türkei gebracht hatten. Sie war alleine mit ihren zwei Söhnen unterwegs. Bis nach Griechenland kam sie mit einigen Irakern, die ihr unterwegs geholfen hatten. Die Mittelmeerüberquerung war kräfteraubend, gefährlich und sehr stressig. Sie hatte viele persönliche Sachen im Meer verloren, hatte über 4.000USD für die Überfahrt in einem kleinen Schlauchboot bezahlt.
Weiter erzählte sie von Ungarn, wo sie zum ersten Mal von ihrem älteren Sohn Kind 1 getrennt wurde. in Ungarn wurde sie inhaftiert da sie sich nicht ausweisen konnte.
3.2 Hypothesen zu Beginn der Beratung
Diese Erzählung war für sie sehr emotionell. Sie hat viel geweint, konnte sich lange Zeit nicht beruhigen und deswegen konnte sie keine klaren Sätze bilden und sich artikulieren.
Die Erzählung von der Flucht, die vor allem die Mittelmeerüberquerung und die Haftzeit beinhalten, die sie zusammen mit ihren Kindern in Ungarn gemacht hat, war für sie ein traumatisierendes Erlebnis. Ihr jüngerer Sohn Kind 2 kam mit ihr in Haft und der ältere Sohn Kind 1, konnte mit einem Bekannten, den die Familie unterwegs getroffen hatte weitergehen. Aber wohin? Wie würde sie ihren Sohn Kind 1 wieder treffen? Er kann nicht alleine existieren, er ist behindert, er würde sterben.
Ich konnte ihren Erzählungen gut folgen, ebenfalls ihren Befürchtungen als besorgte Mutter. Sie tat mir leid und ich empfand große Traurigkeit in ihren Worten. Ich konnte ihre Gefühle, die durch Tränen und Seufzern gesättigt waren, sehr gut verstehen und nachempfinden.
Für Frau S. war dieser Gedanke, dass ihr Sohn Kind 1 sterben könnte, unerträglich. Sie hat geschrien, sie war in Panik ausgebrochen und konnte sich während des Erzählens kaum beruhigen. Drei Tage in der Haft haben sie fast in den Wahnsinn getrieben. Danach wurden ihre Fingerabdrücke zur Registrierung abgenommen und sie konnte entlassen werden. Wie sollte sie ihren Sohn finden?
Sehr aufgeregt hat sie weitererzählt. Obwohl, die Übersetzung der Dolmetscherin zu mir immer zeitversetzt war, konnte ich live in der Situation sein und ihre Emotionen nachempfinden.
Meine Gedanken waren bei dem kleinen Jungen, der irgendwo alleine mit einem Fremden unterwegs ist, vielleicht verwirrt, ängstlich und ohne ihm vertraute Personen. An dieser Stelle konnte ich deutlich spüren, wie ich als sechsjähriges Kind in einem Maschendrahtzaun hängengeblieben bin und stundenlang geweint habe, mein Körper tat weh als ich mich versuchte wegzureisen und nicht gehört wurde.
S. konnte ihren Sohn finden. Als Mutter hat sie ihre Kinder und sich selbst aus dem Krieg gerettet. Die lange und beschwerliche Flucht auf sich genommen. In Europa, in Ungarn- in einem Land, dessen Namen sie vorher noch nie gehört hatte, hat sie einen Sohn verloren. Der ältere Sohn, Kind 1 ist Autist, er ist in vielen Lebenslagen behindert, sehr eigenwillig, hat seine eigene Welt und sie hatte ihn im Stich gelassen. In einem Moment, wo er sie gebraucht hatte. S. gibt ihr eigenes Versagen zu, sie erzählte, dass ihr Sohn sie als Mutter nicht versteht. Viele Sachen sind bereits im Krieg und auf der Flucht passiert, wo das Vertrauen an seine Grenzen gegangen ist. Sie mussten vor dem Krieg flüchten, da ihre Mutter sie dort im eigenen Haus nicht beschützen konnte, dann auf dem Weg durch die vielen unbekannten Länder, wo alles fremd war, als nächstes kam das große Meer, gefährlich und wild und schließlich verliert sie ihren Sohn
Meine Hypothese zu Beginn der Beratung ist, dass die Klientin verzweifelt und überfordert ist. Sie kam nicht zur Ruhe, möchte ihren Kindern endlich einen sicheren Platz bieten, jedoch kann sie es nicht. Sie hat Angst, sie ist traumatisiert und versucht bei jeder Gelegenheit ihre Not zu erzählen und abzuladen.
4 Überweisungskontext
Die Sozial- und Verfahrensberatung in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in X dient als Orientierungshilfe für das weitere Vorgehen in Deutschland. Informationen und Beratung über den Ablauf des Verfahrens, Verfahrensrechte und Pflichten bei Asylantragstellung, Beratung und Begleitung im Hinblick auf die EU-Asylzuständigkeitsverordnung (Dublin III)- bei S. wäre das zuständige Land Ungarn, Abklärung eines besonderen Schutzbedürftigkeit im Einzelfall, Achtsamkeit bei Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder anderen psychiatrischen oder körperlichen Krankheiten oder Behinderung.
Die Entwicklung einer neuen Lebensperspektive, sowie das Finden von Lösungsansätzen für die vielseitigen und sehr komplexen Probleme sind dabei unerlässlich.
5 Ziele und Auftrag der Klientin
Eine „gute und sichere Zukunft“ für ihre Kinder
Stabilisierung der Klientin
Informationen über die ersten Schritte in Deutschland
Verlegungswunsch nach Y
Sie möchte zusammen mit ihren Kindern und ihrem Bekannten nach Y. Andere Bewohner in der Erstaufnahmestelle haben ihr erzählt, dass es viele Iraker dort gibt und auch sehr gute Schulen für Autisten.
[...]