In dieser Hausarbeit sollen Martha C. Nussbaums Arbeiten zu Ethik und Politik in Bezug auf ihre Idee von Gerechtigkeit und Gleichheit erläutert und auf ihre antiken beziehungsweise aristotelischen Elemente untersucht werden. Meine These, die ich mit dieser Hausarbeit belegen möchte, lautet: Martha Nussbaums aristotelischer Sozialdemokratismus ist nicht so aristotelisch, wie er klingt, denn Aristoteles verfolgt vielmehr eine aristokratische politische Philosophie, als eine sozialdemokratische oder demokratische Politik! Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt und die ich versuchen werde zu klären, lautet: Wie aristotelisch ist Frau Nussbaums aristotelischer Sozialdemokratismus?
Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Einblick in die praktische Philosophie des Aristoteles gegeben sowie seine Gerechtigkeitskonzeption auf Grundlage des fünften Buches der „Nikomachischen Ethik“ erläutert. Daraufhin wird auf den von Nussbaum geschilderten „aristotelischen Sozialdemokratismus“ eingegangen und in diesem Zusammenhang die Gerechtigkeitstheorie der US-amerikanischen Philosophin erläutert. Meine Arbeit wird sich vor allem auf Nussbaums Wirken in den 1990er Jahren und den beginnenden 2000er Jahren fokussieren, da sie diese Phase besonders der Erforschung des guten Lebens widmete.
Daraufhin werde ich mich der Kritik an Nussbaums aristotelischem Sozialdemokratismus, wie sie Richard Mulgan äußert, zuwenden.
Im Schlussteil der Arbeit wird auf die bereits genannte zentreale Frage eingegangen, indem ich prüfe, ob man Aristoteles aus heutiger Sicht als Sozialdemokraten bezeichnen kann. Außerdem werde ich meine These anhand geeigneter Stellen aus Aristoteles Nikomachischer Ethik sowie der Politik belegen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ein kurzer Einblick in die praktische Philosophie des Aristoteles
2.1 Gerechtigkeit bei Aristoteles
3. Der aristotelische Sozialdemokratismus Martha Nussbaums
3.1 Grundelemente des nussbaumschen Fähigkeiten-Ansatzes
3.2 Die starke vage Konzeption des Guten
4. Kritik an Nussbaums aristotelischem Sozialdemokratismus
4.1 Aristoteles – ein Sozialdemokrat?
5. Schlussfolgerungen
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Begriff der Gerechtigkeit beschäftigt die Menschen bereits in der Antike. Platon widmet der Gerechtigkeit beziehungsweise der gerechten Gesellschaftsordnung große Teile seines berühmten Werkes „Der Staat“. Auch dessen Schüler Aristoteles beschäftigt sich mit der Gerechtigkeit, bricht jedoch in einigen Ansichten mit den Ideen Platons.
Aber auch zeitgenössische Philosophen haben Gerechtigkeitsansätze entwickelt. In den 1980er Jahren wurde insbesondere durch John Rawls` „A Theory of Justice“[1] eine Diskussion zwischen Liberalisten und Kommunitaristen hervorgerufen, in der die ganze Bandbreite philosophisch-politischer Kritik zu vernehmen ist. Die Liberalisten sind der Auffassung, jeder Mensch bedürfe der rechtlichen Freiheit und lasse sich nicht durch Äußeres fremd bestimmen. Vielmehr sei die Selbstbestimmung Leitlinie des menschlichen Handelns. Kommunitaristen hingegen bezweifeln, dass formale Rechte den Gerechtigkeitsansprüchen einzelner Personen gerecht werden können. Sie stellen die identitätsbildende Funktion der Gesellschaft und eine gemeinschaftliche Konzeption des Guten in den Vordergrund ihrer Theorien.[2]
Durch diese Debatte kam es zu Alternativansätzen, die beide Auffassungen miteinander zu verbinden versuchen. So zum Beispiel die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum, die sich mit ihrer Konzeption vor allem an der aristotelischen Denkrichtung orientiert. Sie greift somit in ihren Untersuchungen auf die antike Philosophie, insbesondere auf die des Aristoteles zurück und hält diese für eine unverzichtbare Ausgangsbasis.
In dieser Hausarbeit sollen Nussbaums Arbeiten zu Ethik und Politik in Bezug auf ihre Idee von Gerechtigkeit und Gleichheit erläutert und auf ihre antiken beziehungsweise aristotelischen Elemente untersucht werden. Meine These, die ich mit dieser Hausarbeit belegen möchte, lautet: Martha Nussbaums aristotelischer Sozialdemokratismus ist nicht so aristotelisch, wie er klingt, denn Aristoteles verfolgt vielmehr eine aristokratische politische Philosophie, als eine sozialdemokratische oder demokratische Politik! Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt und die ich versuchen werde zu klären, lautet: Wie aristotelisch ist Frau Nussbaums aristotelischer Sozialdemokratismus?
Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Einblick in die praktische Philosophie des Aristoteles gegeben sowie seine Gerechtigkeitskonzeption auf Grundlage des fünften Buches der „Nikomachischen Ethik“ erläutert. Daraufhin wird auf den von Nussbaum geschilderten „aristotelischen Sozialdemokratismus“ eingegangen und in diesem Zusammenhang die Gerechtigkeitstheorie der US-amerikanischen Philosophin erläutert. Meine Arbeit wird sich vor allem auf Nussbaums Wirken in den 1990er Jahren und den beginnenden 2000er Jahren fokussieren, da sie diese Phase besonders der Erforschung des guten Lebens widmete.
Daraufhin werde ich mich der Kritik an Nussbaums aristotelischem Sozialdemokratismus, wie sie Richard Mulgan äußert, zuwenden.
Im Schlussteil der Arbeit wird auf die bereits genannte zentreale Frage eingegangen, indem ich prüfe, ob man Aristoteles aus heutiger Sicht als Sozialdemokraten bezeichnen kann. Außerdem werde ich meine These anhand geeigneter Stellen aus Aristoteles Nikomachischer Ethik sowie der Politik belegen.
2. Ein kurzer Einblick in die praktische Philosophie des Aristoteles
Die beiden bedeutendsten Werke der praktischen Philosophie des Aristoteles sind zum einen die Nikomachische Ethik[3] und zum anderen die Politik.
Generell lässt sich sagen, dass Aristoteles mit der NE einen Leitfaden für ein glückliches Leben und einen guten Menschen geben will. Das Werk ist durch die Frage bestimmt, wie das höchste Gut oder auch das höchste Ziel beschaffen und wie es zu erreichen ist. Um dies herauszufinden sucht er zunächst das letzte Ziel des Handelns beziehungsweise das oberste Gut, also das, wonach alles strebt und bestimmt die Glückseligkeit (eudaimonia) als das „vollkommene und selbstgenügsame Gut und das Endziel des Handelns“.[4] Im Verlauf der NE beschreibt Aristoteles verschiedene Tugenden (areté), die er als Charakterdisposition, auch dauernde Beschaffenheit oder Habitus genannt, bezeichnet. Um diese Charakterdispositionen zu bestimmen, entwickelt er seine bekannte Lehre von der Mitte (mesotes). Diese besagt, dass alle ethischen Tugenden eine Mitte zwischen zwei Extremen, also dem Übermaß und dem Mangel darstellen. So ist beispielsweise die Freundlichkeit eine Mitte zwischen Schmeichelei und Streitsucht.
Aristoteles vertritt einen sogenannten Essentialismus, indem er sagt, dass es eine dem Menschen eigentümliche Fähigkeit gibt, die ihn als Menschen auszeichnet und von den anderen Lebewesen unterscheidet.
In der Politik untersucht Aristoteles hauptsächlich verschiedene Verfassungsformen und versucht die beste Verfassungsform beziehungsweise die ideale Polis zu bestimmen. Hierbei wird auch die anthropologische Grundauffassung des antiken Philosophen deutlich. Für ihn sind der Staat und die Menschen von Natur aus und zudem ist der Mensch für ihn ein staatliches Lebewesen (zoón politikón). Die Menschen sind für ihn jedoch nicht nur als Individuen verschieden, sondern es gibt auch von Natur aus verschiedene Arten von Menschen. So gibt es für Aristoteles beispielsweise freie Bürger von Natur aus, aber auch Sklaven, die von Natur aus dazu bestimmt sind, unfrei zu sein. Er geht also von einer fundamentalen Ungleichheit und einer natürlichen Rangordnung der Menschen aus. Des Weiteren ist für Aristoteles die Sprache sowie die Vernunft (logos) das, was sie von den anderen Lebewesen unterscheidet, denn dadurch können sie das Nützliche und Schädliche sowie das Gerechte und Ungerechte bestimmen.[5]
2.1 Gerechtigkeit bei Aristoteles
Das fünfte Buch der NE behandelt die Gerechtigkeit. Aristoteles leitet dies mit drei Überlegungen zu Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ein.
„ Wir müssen nun die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit untersuchen und
fragen, mit welchen Handlungen sie zu tun haben, was für eine mittlere Disposition die Gerechtigkeit ist und zwischen welchen Extremen das Gerechte die Mitte ist.“[6]
Aristoteles sagt, die Gerechtigkeit ist, wie jede ethische Tugend, eine Charakterdisposition, die Menschen so beschaffen mache, dass sie das Gerechte tun beziehungsweise auf gerechte Weise handeln und Gerechtes wünschen. Die Ungerechtigkeit sei genau das Gegenteil. Aristoteles macht deutlich, dass sich Dispositionen von den wissenschaftlichen Kenntnissen und Fähigkeiten dadurch unterscheiden, dass man eine Wissenschaft oder Fähigkeit, wenn man sie beherrscht, zu seiner spezifischen Funktion (ergon) beziehungsweise zu seinem Vorteil aber eben auch zum Gegenteil, also zum Nachteil verwenden könne. Ein Arzt könne mit seinem medizinischen Wissen beispielsweise Gesundheit und Krankheit gleichermaßen bewirken. Eine Charakterdisposition hingegen sei so definiert, dass sie nur in eine Richtung verlaufen kann. Ein Mensch kann demnach, laut Aristoteles, entweder nur gerecht oder ungerecht sein.
Nach dieser Bestimmung der Gerechtigkeit als Charakterdisposition kommt Aristoteles zu der Auffassung, dass die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit mehrere Bedeutungen haben. Er kommt zu der Überlegung, dass sich viele Dinge durch ihr Gegenteil leichter veranschaulichen lassen und beginnt demnach zunächst mit der Bestimmung des Ungerechten. Ungerecht scheint derjenige zu sein, der die Gesetzte missachtet und sich nicht an die Regeln hält. Dementsprechend ist derjenige gerecht, der die Gesetze befolgt. Diese Art der Gerechtigkeit, die sich auf das herrschende Recht und somit auf alle Bereiche des Handelns bezieht, nennt Aristoteles Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn. Des Weiteren nennt Aristoteles den Habsüchtigen ungerecht, da dieser mehr haben will (mehr Güter und weniger Übel) und demnach eine Einstellung der Ungleichheit hat. Wer nun aber eine Einstellung der Gleichheit in diesem Bereich anstrebt, ist als gerecht zu bezeichnen. Diese zweite Art der Gerechtigkeit nennt Aristoteles Gerechtigkeit im speziellen Sinn.
Aristoteles unterscheidet somit zwei Arten von Gerechtigkeit, die allgemeine Gerechtigkeit und die spezielle oder auch partikulare Gerechtigkeit. Zu Beginn des dritten Kapitels geht er zunächst auf die allgemeine Gerechtigkeit ein, welche er nochmals in das Gerechte als das Gesetzliche und das Gerechte als vollständige Tugend unterteilt. In Bezug auf das Gerechte als das Gesetzliche verdeutlicht Aristoteles, dass das Befolgen der Gesetzte die Glückseligkeit in der politischen Gemeinschaft bewirkt und erhalten wird. Er ist somit der Auffassung, dass die Gesetze die Bürger dazu bringen, nach den verschiedenen Tugenden wie zum Beispiel der Sanftmütigkeit, Tapferkeit oder Besonnenheit, zu handeln. Wenn nun die Gesetze gut formuliert wurden, so gebieten sie, nach Aristoteles, genau das, was die tugendhafte Tätigkeit ausmacht.[7] Zur Definition des Gerechten als vollständige Tugend gelangt der Philosoph indem er sagt, dass die Gesetze von den Bürgern fordern, nach den einzelnen Tugenden zu leben und diese zu befolgen. Dementsprechend sei die Gerechtigkeit als die Tugend zu verstehen, die alle ethischen Tugenden vereinigt. Sie sei die vollkommene Gutheit des Charakters, jedoch nicht absolut gesehen, sondern in Bezug auf den anderen Menschen.[8]
Im Anschluss an die Erläuterungen zur allgemeinen Gerechtigkeit erörtert Aristoteles die Gerechtigkeit im speziellen Sinne. Wie wir bereits gesehen haben ist für Aristoteles das Motiv der Ungerechtigkeit im speziellen Sinn das „Mehr-haben-wollen“ beziehungsweise die Gewinnsucht. Ihre Gegenstände sind demnach teilbare und zufallsabhängige Güter wie Ehre, Geld und Sicherheit.[9]
Auch die Gerechtigkeit im speziellen Sinne unterteilt Aristoteles nochmals in zwei weitere Gerechtigkeitsformen, nämlich in die Verteilungsgerechtigkeit beziehungsweise distributive Gerechtigkeit und in die ausgleichende Gerechtigkeit. Letzteres unterteilt er zudem in freiwillige und unfreiwillige Transaktionen.
Die Verteilungsgerechtigkeit kann auch als politische Gerechtigkeit begriffen werden, denn sie ist die Art von Gerechtigkeit, die für Aristoteles in einer Verfassung die Vergabe der Ämter und insbesondere der Regierung rechtfertigt. Bei der Verteilung muss man hier die Würdigkeit beziehungsweise den Wert der Person als Richtmaß und Anspruchsgrund der Gerechtigkeit nehmen und die Dinge proportional zuordnen. Jemand, der sich also als würdiger beziehungsweise tüchtiger erweist als ein anderer würde beispielsweise mehr materielle Dinge oder höhere Ämter zugeordnet bekommen.[10] Es gibt, je nachdem welche Verfassungsform vorliegt, verschiedene Konzeptionen der Verteilungsgerechtigkeit. So wäre zum Beispiel in der Demokratie die demokratische Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit derjenige Faktor, der legitimiert, dass alle frei geborenen männlichen Bürger einen Anspruch auf die Beteiligung an der Regierung haben. In allen Verfassungen, mit Ausnahme der Tyrannis, ist laut Aristoteles eine ihr entsprechende Gerechtigkeitskonzeption enthalten.[11] Auf diesen Aspekt wird im Laufe dieser Hausarbeit noch genauer eingegangen.
Nach der Untersuchung der Verteilungsgerechtigkeit widmet sich der Philosoph der ausgleichenden Gerechtigkeit. Diese Art der Gerechtigkeit ist auf den privaten Verkehr zwischen den Bürgern bezogen und nicht wie die Verteilungsgerechtigkeit auf den öffentlichen und politischen Bereich. Aristoteles verweist direkt zu Beginn des siebten Kapitels darauf, dass bei dieser Form der Gerechtigkeit die Unterscheidung der Personen keine Rolle mehr spielt. Er sagt, es sei gleichgültig, ob ein guter Mensch einen schlechten betrogen habe oder umgekehrt. Dem Geschädigten müsse demnach unabhängig von seinem gesellschaftlichen Status Recht widerfahren. Der Richter habe die Aufgabe, bestehendes Unrecht und Ungleichheit wieder auszugleichen. Diese Art der Gerechtigkeit sei jedoch nicht mit der einfachen Widervergeltung („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) zu verwechseln, wie sie beispielsweise bei den Pythagoreern ausgeübt wurde. Aristoteles nennt hier das Beispiel, dass jemand, der von einem Beamten geschlagen wurde, nicht einfach zurückschlagen darf beziehungsweise verdiene jemand, der einen Beamten geschlagen hat, ein höheres Strafmaß als die einfache Widervergeltung seiner Handlung. In diesem Zusammenhang weist Aristoteles auf die Struktur der arbeitsteiligen Gesellschaft hin. Er sagt, jede Gemeinschaft komme erst dadurch zustande, dass ihre Mitglieder, die durch ihre spezifischen Aufgaben unterschiedliche Leistungen erbringen, diese mit anderen austauschen wollen. Um dies zu ermöglichen, sei es notwendig, die Leistungen (beispielsweise des Arztes) oder die Produkte (beispielsweise des Zimmermanns), die sich sowohl qualitativ als auch quantitativ voneinander unterscheiden, zu vergleichen und auf einen Nenner zu bringen. Nach Aristoteles gibt es ein Maß, welches den Tausch reguliert, und zwar das Bedürfnis. Als Vertreter dieses Bedürfnisses sei das Geld eingeführt worden, durch das die Dinge vergleichbar gemacht wurden und das einen Tausch bei ungleichzeitigen Bedürfnissen ermöglicht. Das Geld könne dabei die Dinge nicht wirklich kommensurabel machen, es sei aber ein von der Gesellschaft aufgestelltes Wertmaß, durch welches der Handel erleichtert wurde.[12]
Ein weiterer, letzter Aspekt, den Aristoteles in Bezug auf die Gerechtigkeit nennt, ist die Billigkeit. Die Billigkeit ist, dem Philosophen zufolge, eine zur Gerechtigkeit gehörende Tugend, die das gesetzliche Recht in bestimmten Situationen korrigieren soll. Eine Person, die billig handelt, halte sich demnach nicht genau an das Gesetz, sondern sei vielmehr auch mit weniger zufrieden. Die Billigkeit wird also als Korrektur des geltenden Rechts gesehen und ist nach Meinung des Philosophen sogar besser als dieses.[13]
3. Der aristotelische Sozialdemokratismus Martha Nussbaums
Martha Craven Nussbaum war von 1986 bis 1993 Mitarbeiterin des World Institute for Development Economics Research der United Nations University in Helsinki und dort erarbeitete sie eine Ethik der Entwicklungspolitik, die die unterschiedlichen kulturellen Traditionen berücksichtigt und einbezieht. Sie vertritt explizit einen „aristotelischen Sozialdemokratismus“ und beruft sich in ihren Texten sogar mehrmals auf Karl Marx. Sie bezeichnet sich selbst als Aristotelikerin und greift dementsprechend auch ausgiebig auf die Werke des Aristoteles zurück.
Für eine erste definitorische Annäherung wird zunächst verdeutlicht, warum Nussbaum, genau wie schon Aristoteles, eine essentialistische Theorie, wie sie sie mit dem aristotelischen Sozialdemokratismus verfolgt, zu einem Kernbestand ihres Programms macht. Nussbaum verspürt in der heutigen Politik ein Bedürfnis nach Essentialismus, dass sie folgendermaßen formuliert:
„Wir können nicht sagen, wie es einem Land geht, solange wir nicht wissen, wie die Menschen dort im Hinblick auf die zentralen menschlichen Funktionen aktiv sein können.“[14]
Nussbaum ist, genau wie schon Aristoteles, der Meinung, dass die Natur des Menschen und die Frage nach dem guten Leben eine philosophische Vorrangstellung einnimmt. Dies lasse sich jedoch nicht einfach objektiv bestimmen, sondern sei nur aufgrund von Erfahrungen, die die Menschen miteinander gemein haben, zu verstehen. Diese Erfahrungen, wie beispielsweise ein gemeinsames Gefühl des Durstes, des Hungers oder des Bedürfnisses nach Schlaf und Wärme, seien dafür verantwortlich, dass wir als Menschen auf allgemeine und universelle Werte schließen können. Die gemeinsamen Erfahrungen veranlassen die Menschen, so Nussbaum, sich gegenseitig zu verstehen, auch wenn sie in fremden Kulturen und Traditionen leben und lassen sich gegenseitig für die jeweiligen Bedürfnisse einsetzen.
Eine Rückbeziehung auf die Antike und insbesondere auf die Philosophie des Aristoteles sei für Nussbaum, die sich durchaus dessen Defizite[15] bewusst ist, eine unverzichtbare Ausgangsbasis. Die Philosophin hält die Reflexion über das gute Leben, wie sie in den Werken des Aristoteles zu finden ist, für eine gute Basis, um eine Neuformulierung des politischen Liberalismus zu schaffen. Dieser solle mit einer „überzeugenderen Theorie des Guten verknüpft [werden], als sie etwa Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit unterstellt“.[16]
Nussbaums Ziel ist es, eine Theorie zu formulieren, die „spezifische Bedingungen unseres Menschseins“ berücksichtigt. Dies versucht sie, indem sie auf die menschliche Natur verweist und diese zunächst „mit der epistemologischen Position eines internen Realismus kombiniert und in einem zweiten Schritt argumentiert, daß [Sic!] der Begriff nur in einer normativen Interpretation zugänglich und zulässig ist“.[17] Außerdem versucht sie anhand von Aristoteles` Schriften nachzuweisen, dass dessen Konzept der menschlichen Natur nicht auf „metaphysisch-biologistischen Prämissen“ beruht und sich durchaus mit ihren Formulierungen deckt.[18]
Wie Nussbaum ihre aristotelische Konzeption im Einzelnen vornimmt und zu welchen Resultaten sie gelangt, wird im Folgenden präsentiert.
3.1 Grundelemente des nussbaumschen Fähigkeiten-Ansatzes
Martha Nussbaum verweist zu Beginn ihrer Darstellung zunächst auf das siebte Buch der Politik des Aristoteles, in dem der Philosoph über die Aufgabe des Staates spricht. Diese sei durch den Leitsatz „kein Bürger darf an Lebensunterhalt und Mangel leiden“ geprägt und finde erst dann Erfüllung, wenn jeder Einzelne gut lebt.[19] Bei Aristoteles ist dieser Ansatz in die Breite und Tiefe angelegt, was bedeutet, dass die Aufgabe des Staates bei ihm zum einen alle Mitglieder der Gesellschaft involviert und zum anderen nicht nur die gerechte Verteilung von Eigentum, Bodenschätzen oder Ämtern beachtet wird, sondern auch die Selbstentfaltung der einzelnen Menschen von Bedeutung ist.[20] Die aristotelische Konzeption basiere also auf einer „ziemlich umfassenden Theorie des menschlich Guten und der guten Lebensführung“ und die Aufgabe des Staates werde faktisch durch eine solche Theorie definiert.[21]
Nussbaum richtet sich jedoch mit ihrer Anthropologie besonders gegen ökonomische Theorien, die das gute Leben lediglich an quantitativen ökonomischen Kennziffern messen. Diese Ansichtsweise sagt, so die Philosophin, nichts über die eigentliche Lebensqualität einzelner Menschen aus, wie etwa über die Zugangschancen zu Bildung oder die ärztliche Versorgung. Sie verweist in diesem Punkt auf die aristotelische Überzeugung, dass man den Reichtum immer in Bezug auf seine Verwendung betrachten müsse. Für Aristoteles war ein Mehr nicht unbedingt besser, da dies zum Beispiel zu starkem Konkurrenzdenken führen, die sozialen Kontakte schwächen oder von den Wesentlichen Dingen ablenken könnte. Nussbaum macht deutlich, dass die aristotelische Konzeption nicht darauf aus ist, zu hinterfragen, wie viel die Menschen besitzen, sondern dass vor allem die Fähigkeiten, die sie in die Gemeinschaft einbringen können, von großer Bedeutung sind. So habe schon Aristoteles erkannt, dass Menschen in bestimmten Situationen beziehungsweise aufgrund unterschiedlichen Ausgangspositionen, verschiedener Güter bedürfen. So ist zum Beispiel die richtige Menge von Nahrungsmitteln für den Ringer Milo aufgrund seiner körperlichen Tätigkeit, seiner Größe und seines Berufes sehr groß und für die meisten Menschen wäre dies viel zu viel. Würde Milo jedoch nur so viel an Nahrungsmitteln bekommen, wie ein Philosoph, dann wäre dies viel zu wenig. Nussbaum überträgt dieses Beispiel des antiken Philosophen auf die heutige Gesellschaft.
„Wenn wir uns die Gesellschaft näher ansehen, entdecken wir noch mehr Unterschiede. Kinder aus benachteiligten Minderheitsgruppen brauchen mehr finanzielle Unterstützung als Kinder aus der Mittelschicht, um Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten zu bekommen. Dies können wir erkennen, wenn wir uns anschauen, was zu tun und zu sein sie imstande sind. Wie die Dinge heute liegen, brauchen Frauen mit Kindern, wenn sie erwerbstätig sein möchten, mehr Unterstützung in Form von Kinderbetreuung usw. als andere Erwerbstätige, die nicht mit ähnlichen sozialen Hindernissen zu kämpfen haben. All dies ist ein Grund mehr, warum für den Aristoteliker die zentrale Frage nicht lautet: „Wieviel haben sie?“ sondern: „Was können sie tun und sein?“ Seiner Meinung nach leistet die Regierung keine gute Arbeit, wenn sie nicht jedes Mitglied der Gesellschaft zum guten Leben und Handeln befähigt – auch wenn sie ihm viele Dinge gibt.“[22]
Des Weiteren wendet sich Nussbaum gegen sogenannte social-choice Theorien, die lediglich die individuelle Bedürfnisbefriedigung von Individuen für ausschlaggebend für die Angemessenheit von politischen Maßnahmen halten. Diese utilitaristische Perspektive vergesse, dass Menschen oftmals nicht über ihre wahren Bedürfnisse aufgeklärt wären. Der Begriff des Wunsches sei dehnbar und somit ein unzuverlässiger Wegweiser zum menschlichen Guten. Da die Menschen sich laut Nussbaum an ihre Lebensumstände gewöhnen und somit keinen Wunsch zu dessen Verbesserung entwickeln, führe die genannte Theorie der Utilitaristen häufig nur zur Aufrechterhaltung des Status quo.
Die Grundidee der aristotelischen Konzeption, wie Martha Nussbaum sie versteht, setzt sich als Ziel, den Menschen als Lebewesen in der Welt zu bestimmen und dabei seine Fähigkeiten und seine Grenzen zu berücksichtigen. Nussbaum ist der Meinung, dass wir anhand unserer Selbsterfahrung, anhand empirischen Daten sowie anhand traditionellen Geschichten und Mythen ein kulturübergreifendes Wissen über die Natur des Menschen gewinnen können.[23] Die aristotelische Konzeption sei also eine „Konzeption des Menschen“. Diese Konzeption basiere jedoch keineswegs auf einer „metaphysischen Biologie“, wie oftmals von Kritikern behauptet wurde, sondern auf den gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte. Diese Geschichten seien dafür verantwortlich, dass sowohl Freunde als auch Fremde verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.[24]
[...]
[1] Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge/Massachusetts 1999.
[2] Vgl. hierzu: Beckmann, Klaus u.a. (Hsrg.): Individuum versus Kollektiv. Der Kommunitarismus als „Zauberformel“?, Frankfurt/M 2000. Vgl. auch: Forst, Rainer: Kommunitarismus und Liberalismus – Stationen einer Debatte, in: Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M 1995, S. 181-212.
[3] Ich werde im Folgenden „Nikomachische Ethik“ mit NE abkürzen!
[4] Aristoteles: Nikomachische Ethik I 6, 1097 b 20.
[5] Aristoteles: Politik I 2, 1253a 1ff.
[6] NE V 1, 1129a 3.
[7] Ebd. V 2, 1129b – 4, 1130b.
[8] Ebd. V 4, 1130a 11-28.
[9] Vgl. Wolf, Ursula: Aristoteles` >Nikomachische Ethik<, Darmstadt 2013, S. 101.
[10] NE V 6, 1130a 10 – 1131b 5.
[11] Knoll, Manuel: Aristokratische oder Demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, München 2009, S. 108.
[12] NE V 7, 1131b 25 -1133b 25.
[13] Ebd. V 14.
[14] Nussbaum, Martha C.: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M 1993, S. 246.
[15] Nussbaum ist der Meinung, man könne die Ausführungen des Aristoteles zur Gerechtigkeit oder zum guten Leben für aufschlussreich halten, ohne seine Einstellung zu Frauen und Sklaven, denen er jegliche politische Anerkennung abspricht, zu teilen.
[16] Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit oder das gute Leben, herausgegeben von Herlinde Pauer-Stauder und übersetzt von Ilse Utz, Frankfurt/M 1999, S. 8.
[17] Ebd. S. 10.
[18] Ebd.
[19] Vgl. ebd. S. 24.
[20] Ebd. S. 33.
[21] Ebd. S. 32.
[22] Ebd. S. 36-37.
[23] Vgl. Maihofer, Andrea: Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit und das gute Leben, in: Soziologische Revue 23 (2000), S. 83.
[24] Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 46.