Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, Nietzsches Auseinandersetzung mit Sokrates in der Götzen-Dämmerung (1889) besonders hinsichtlich der Aspekte Sprache, Leib und Existenz nachzugehen. Die mit dem Buch "Die Geburt der Tragödie" beginnende Beschäftigung mit dem griechischen Philosophen findet im Kapitel "Das Problem des Sokrates" der genannten Schrift seinen exemplarischen Ausdruck und soll als textlicher Ausgangspunkt dienen. Nietzsches Denken über den Leib, das gerade für sein Spätwerk charakteristisch ist, hat auch in diesem Text seine Spuren hinterlassen, und erfährt anhand der Figur des Sokrates ihre Verdeutlichung. Dabei geht es insbesondere um die Themen von Gesundheit, Krankheit und décadence, deren Bezug zum Leib Nietzsche selber thematisiert hat und deren Bedeutung er anhand des „Falls“ Sokrates veranschaulichen möchte.
Besonders das erste Kapitel ist der kritischen Analyse des Sokrates hinsichtlich der genannten Termini gewidmet. Die sprachliche Seite, die durch die sokratische Dialektik repräsentiert wird, wird eigens im zweiten Kapitel behandelt und soll ebenso im Zusammenhang zur Leiblichkeit gebracht werden. Das dritte Kapitel bringt die sokratische Moral in Bezug zum Leib. Abschließend soll im letzten Kapitel die existenzielle Seite durch den Vergleich zweier verschiedener Lebensformen, nämlich der sokratischen und der zarathustrischen, genauer herausgearbeitet werden. Grundlegende Absicht der Arbeit ist es, die Frage zu klären, wie die genannten Aspekte genau zusammenhängen und welche „Lebensform“ (Wittgenstein) bzw. welche Philosophie („Philosophie als Lebensform“, Hadot) jeweils dadurch konstituiert wird. Ich möchte hierbei Nietzsches These erörtern und verteidigen, dass die zarathustrische Lebensform für die Zukunft des Menschen bestimmend ist und die sokratische Lebensform dies nicht ist. Anhand der genannten Kapitel und der dort behandelten Aspekte, soll dies aufgezeigt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Sicht des späten Nietzsche auf das „Problem“ des Sokrates unter Berücksichtigung der Aspekte von Sprache, Leib und Existenz
1.1 Sokrates als ein „ décadent“ oder über das Krankheitsbild eines Philosophen
1.2 Das „Problem“ der sokratischen Dialektik als leiblich-geistiges Phänomen
1.3 Die sokratische Moral als „Symptom“ der Dekadenz
1.4 Zarathustra gegen Sokrates oder ein Vergleich zweier konträrer Lebensformen
Bibliografie
Einleitung
Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, Nietzsches Auseinandersetzung mit Sokrates in der Götzen-Dämmerung (1889) besonders hinsichtlich der Aspekte Sprache, Leib und Existenz nachzugehen. Die mit dem Buch Die Geburt der Tragödie beginnende Beschäftigung mit dem griechischen Philosophen findet im Kapitel Das Problem des Sokrates der genannten Schrift seinen exemplarischen Ausdruck und soll als textlicher Ausgangspunkt dienen. Nietzsches Denken über den Leib, das gerade für sein Spätwerk charakteristisch ist, hat auch in diesem Text seine Spuren hinterlassen, und erfährt anhand der Figur des Sokrates ihre Verdeutlichung. Dabei geht es insbesondere um die Themen von Gesundheit, Krankheit und décadence, deren Bezug zum Leib Nietzsche selber thematisiert hat und deren Bedeutung er anhand des „Falls“ Sokrates veranschaulichen möchte. Besonders das erste Kapitel ist der kritischen Analyse des Sokrates hinsichtlich der genannten Termini gewidmet. Die sprachliche Seite, die durch die sokratische Dialektik repräsentiert wird, wird eigens im zweiten Kapitel behandelt und soll ebenso im Zusammenhang zur Leiblichkeit gebracht werden. Das dritte Kapitel bringt die sokratische Moral in Bezug zum Leib. Abschließend soll im letzten Kapitel die existenzielle Seite durch den Vergleich zweier verschiedener Lebensformen, nämlich der sokratischen und der zarathustrischen, genauer herausgearbeitet werden. Grundlegende Absicht der Arbeit ist es, die Frage zu klären, wie die genannten Aspekte genau zusammenhängen und welche „Lebensform “ (Wittgenstein) bzw. welche Philosophie („Philosophie als Lebensform“, Hadot) jeweils dadurch konstituiert wird. Ich möchte hierbei Nietzsches These erörtern und verteidigen, dass die zarathustrische Lebensform für die Zukunft des Menschen bestimmend ist und die sokratische Lebensform dies nicht ist. Anhand der genannten Kapitel und der dort behandelten Aspekte, soll dies aufgezeigt werden. Neben dem Text Das Problem des Sokrates gilt es noch andere Schriften Nietzsches wie Die Fröhliche Wissenschaft oder Ecce Homo sowie den Nachlass, die Briefe und die Vorlesungsaufzeichnungen heranzuziehen, da Nietzsche auch an anderen Stellen seines Werkes auf das Thema des Sokrates zurückkommt. Um die Gefahr einer zu einseitigen Fixierung auf Nietzsches Texte zu vermeiden, soll an geeigneten Stellen sowohl ein Blick auf die Platonischen Schriften, wie beispielweise auf den Phaidon, geworfen werden, als auch die dazugehörige Sokrates-Forschung ihre Berücksichtigung erfahren. Daneben wird gleichfalls auf einige Nietzsche-Interpreten wie Volker Gerhardt, Günter Figal u.a. einzugehen sein.
1. Die Sicht des späten Nietzsche auf das „Problem“ des Sokrates unter Berücksichtigung der Aspekte von Sprache, Leib und Existenz
1.1 Sokrates als ein „ décadent“ oder über das Krankheitsbild eines Philosophen
Begonnen werden soll mit einem zentralen Gedanken, den Nietzsche schon in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft äußert. Er macht darin den grundlegenden Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von Philosophen:
„ Man hat nämlich vorausgesetzt, dass man eine Person ist, notwendig auch die Philosophie seiner Person (von mir hervorgehoben, F.F): doch gibt es da einen erheblichen Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mängel, welche philosophieren, bei dem Anderen seine Reichtümer und Kräfte. Ersterer hat seine Philosophie nötig, sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im besten Fall die Wollust einer triumphierenden Dankbarkeit, welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muss. Im anderen, gewöhnlicheren Falle aber, wenn die Nothstände Philosophie treiben, wie bei allen kranken Denkern – und vielleicht überwiegen die kranken Denker in der Geschichte der Philosophie – : was wird aus dem Gedanken selbst werden, der unter dem Druck der Krankheit gebracht wird? Dies ist die Frage, die den Psychologen angeht: und hier ist das Experiment möglich.“[1]
Das Zitat sei deshalb hier zitiert, weil es zeigt, wie Nietzsche das Verhältnis von Philosophie und Gesundheit verstanden haben möchte. Er stellt hier, wenn man so will, eine Phänomenologie der Gesundheit bzw. der Krankheit vor, eine detaillierte Beschreibung von Zuständen des Leibes also, die insofern ein Novum in der Philosophiegeschichte ist, da es bis dahin nichts Vergleichbares gab. Nietzsche führt damit die Krankheit selbst als ernsthaftes Thema in den philosophischen Diskurs ein und unterstreicht damit ihre Bedeutung für die Philosophie. Dem kranken Leib (KSA 3, S.348) entsprechen seiner Auffassung nach krankhafte „Zustände des Geistes“. Warum ist aber dieser Punkt so wichtig? Er ist es deshalb, da die leiblichen Zustände des Philosophen sich auf sein Denken selbst auswirken, ihm nämlich eine bestimmte Form geben[2]. Für Nietzsche kann Philosophie selber nicht abgetrennt vom Leib verstanden werden, sie ist selber „Auslegung“ desselben bzw. dessen „Missverständnis“. Ein Denker, der dem Leib nicht gerecht wird, weil er ihn in falscher Weise interpretiert, neigt nach Nietzsche eher zu einer negativen Philosophie. Darunter versteht er eine Philosophie, die „den Frieden höher stellt als den Krieg“ (ebd.), eine „Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glücks“, eine „Metaphysik“, die ein Finale kennt und ein Verlangen nach „Abseits“ und „Jenseits“ zulässt. Sie entspricht dem „kranken Denker“, der unter dem „Druck“ der Krankheit zu dieser Philosophie gekommen ist. Dass der Zustand des Leibes sich auf die Philosophie eines Menschen auswirkt ist das eine, das andere, vielleicht noch grundlegendere, ist, dass diese Zustände zu verschiedenen „Urtheilen“ über den „Werth des Daseins“ führen. Die daraus resultierenden „Welt-Bejahungen“ oder „Welt-Verneinungen“ sind Folge des leiblichen Zustandes. Das Denken, welches sich für oder gegen das Dasein entscheidet, muss nach Ansicht Nietzsche als ein leibliches Symptom (KSA 3, S.349) begriffen werden. Es verweist auf den Leib zurück, der entweder gerät oder entartet. Auch hier muss an seine Unterscheidung zwischen dem gesunden und dem kranken Leib gedacht werden, denn die beschriebenen Zustände entsprechen jeweils einem der beiden.
Welche Bedeutung kommt aber dieser Unterscheidung hinsichtlich der Figur des Sokrates zu? Nietzsche selbst weist zu Beginn seiner Abhandlung auf die Krankheit bei Sokrates hin. Zumindest glaubt er aus den berühmten letzten Worten des platonischen Protagonisten diese herauslesen zu können[3]. Sokrates wird von ihm unter die Kategorie der „kranken Denker“ subsumiert, der Denker also, die ihre Philosophie als „Halt, Beruhigung, Arznei“ nötig haben. Worin zeigt sich aber die Krankheit bei Sokrates? Was versteht Nietzsche selbst darunter? Um auf diese Fragen adäquate Antworten geben zu können, ist es erforderlich zwei wichtige Begriffe aus der Terminologie des späten Nietzsche einzuführen und zu erläutern. Als erstes soll dabei auf den Terminus der décadence eingegangen werden. Dieser ist deshalb in diesem Kontext wichtig, weil Sokrates selber als ein „décadent“ bezeichnet wird. Vereinfach gesagt, versteht Nietzsche unter diesem Begriff das niedergehende und damit verarmte Leben, was meist zu einer Verneinung der irdischen Existenz führen kann[4],[5]. Zur Dekadenz gehört somit wesenhaft der Nihilismus [6]. Sokrates wird auf Grund seiner freiwilligen Entscheidung für den Tot als einer der ersten Nihilisten in der Geschichte des europäischen Nihilismus angesehen. Sein Trinken des Schierlingsbechers deutet Nietzsche als Akt der Welt-Verneinung (GD[7], Das Problem des Sokrates, KSA 6, S.73): „Sokrates wollte sterben: - nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher…“. Nietzsches These ist dabei, dass die Negation des Lebens selber ein Resultat des kranken Leibes ist[8]. Dieser Aspekt der Weltverneinung wird eigens im zweiten Stück der Abhandlung betont (GD, Das Problem des Sokrates 2, KSA 6, S.68). Die Kennzeichnung des Sokrates als „Niedergangstyp“, als „Verfalls-Symptom“ in den ersten beiden Stücken, bildet also die Ausgangslangslange seines Textes. Es gilt nun einige wesentliche Züge des Krankheitsbildes zu skizzieren.
Nietzsche macht als erstes Anzeichen für Sokrates dekadentes Wesen „die Wüstheit und Anarchie in den Instinkten“ (GD, Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, S.69) bei ihm aus. Er bezichtigt dem platonischen Protagonisten daher der Dekadenz, da er seine Instinkte bekämpfen musste[9], um „Herr“ (GD, Das Problem des Sokrates 9, KSA, S.71) über sich werden zu können[10]. Die Bekämpfung der Instinkte bedeutet aber für Nietzsche den Leib zu missachten, ihm einen „Missverständnis“ preiszugeben. Der gesunde Leib ist somit nach Nietzsche derjenige, der sein instinktives Wesen nicht negiert, sondern es zu lässt[11]. Die Negierung der Instinkte führt selbst zu einer Entartung der Instinkte und damit zum kranken Leib. Neben der Rede vom Instinktiven gebraucht Nietzsche in seinem Diskurs auch den Begriff des Triebes. Genau wie die Instinkte von Sokrates in Zaum gehalten werden müssen, werden auch die Triebe von ihm „tyrannisiert“. Auch dies macht Nietzsche als eine Verkennung des Leibes aus. Wodurch werden sie aber aus Nietzsches Sicht unterdrückt? Durch die Vernunft, die Sokrates als „Gegentyrannen“ (ebd.) gegen die Triebe erfunden habe. Diese sei als „Retterin“ (GD, Das Problem des Sokrates 10, KSA 6, S.72) begriffen worden, um die anarchischen Instinkte zu bändigen. Nach Nietzsche ist diese Art von Rationalismus jedoch „pathologisch“, weil sie ein Leben schafft, das „hell, kalt, vorsichtig, bewusst“ sei und die Instinkte schwächt[12]. Mit dem Primat des Vernünftigen und der Negierung des Unbewussten wird man jedoch dem Leib nicht gerecht, man deformiert ihn, da die „Vernünftigkeit um jeden Preis“ (GD, Das Problem des Sokrates 11, KSA S.72) kein Gegenmittel gegen die décadence sein kann. Sie verändert nur ihren „Ausdruck“ und überwindet sie selbst nicht, so Nietzsches Hauptvorwurf. Sie sei Teil der Krankheit bei Sokrates[13]. Zur Schätzung der Vernunft, gehört jedoch bei Sokrates auch sein Logizismus, der in seiner Dialektik[14] sich voll entfaltet. Daneben auch sein Moralismus, der mit seinem Rationalismus verbunden wird und in der Formel „Vernunft=Tugend= Glück“ (GD, Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, S.69) ihren Ausdruck hat[15]. Obwohl die genannten Aspekte von Nietzsche durchaus nicht unpolemisch vorgetragen werden, gibt es auch einen sachlichen Teil in seiner Argumentation. Dieser lässt sich so zusammenfassen, dass der Rationalismus sokratischer Prägung den Leib und seine Instinkte negiere und daher zur Dekadenz desselben führe[16].
Ein weiterer Aspekt, der zum dekadenten Wesen des Sokrates gehört und hier nur kurz auf Grund seines problematischen Status angedeutet sei, ist nach Nietzsche seine Physiognomie. Das Aussehen („Hässlichkeit“; GD, Das Problem des Sokrates 3, KSA 6, S. 68f.) desselben wird als Beweis für seine Dekadenz angesehen, weil es auf den entarteten Leib verweist. Nietzsches bringt Sokrates sogar in die Nähe des „Verbrechers“ und resümiert hierbei die typischen physiognomischen bzw. kriminalanthropologischen Ansichten seiner Zeit: „monstrum in fronte, monstrum in animo“ (ebd.). Er vertritt daher ernsthaft die Ansicht, dass die Dekadenz auch am Leib selbst sichtbar wird[17]. Das lässt sich auch wie folgt formulieren: dem schönen Leib entspricht die Gesundheit, während dem dekadenten Leib („monstrum in fronte“) die Krankheit zukommt. Um sich hierbei argumentativ abzusichern, beruft sich Nietzsche auch auf die Anekdote über den antiken Physiognomen Zopyros, der sich „auf Gesichter“ verstand[18]. Natürlich lässt sich fragen, ob dieser Aspekt zutrifft oder nicht, in Nietzsches Argumentation ist er jedoch nicht unwichtig. Er sollte also nicht sofort als unsachlich disqualifiziert werden[19].
1.2 Das „Problem“ der sokratischen Dialektik als leiblich-geistiges Phänomen
Nietzsches Auseinandersetzung mit der sokratischen Dialektik reicht weiter als es seine Abhandlung über Sokrates vermuten lässt. Um genau zu sein, reicht sie bis zu seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie zurück[20]. Auch gibt es Reflexionen über dieselbe in der mittleren Schaffensperiode[21]. Doch mit dem Spätwerk verschärft sich Nietzsches Ton über die Dialektik. Ihr Bild wird in der Götzen-Dämmerung drastischer gezeichnet als im Vergleich zum Frühwerk und soll nun genauer untersucht werden. Bevor dies jedoch geschehen kann, muss geklärt werden, was unter derselben zu verstehen ist.
Den Begriff der Dialektik hat Platon zu einem terminus technicus seiner Philosophie erhoben. Vor Sokrates gab es diesen Terminus noch nicht bzw. nicht in der Prägung, die ihr Platon verliehen hat. Der Begriff ist vom griechischen Verb dialegesthai abgeleitet, was soviel wie ein Gespräch führen bedeutet. Die Dialektik muss somit als eine Art der Gesprächsführung verstanden werden, die zumindest zwei Gesprächspartner voraussetzt[22],[23]. Sie basiert im Wesentlich auf ein gemeinsames Handeln, dass sich im Fragen und Antworten, im Prüfen und Abwägen und im Zustimmen und Ablehnen zeigt. Die dialektike techne ist ebenfalls auf den logos angewiesen bzw. funktioniert nur durch ihn. Dieser Begriff wird im Allgemeinen mit „Rede“ und „Vernunft“ wiedergegeben. Es geht hierbei jedoch um die „Rede“, die es mit Urteilen und Gründen zu tun hat. Die dialektische Technik basiert auf den in diesem Sinne verstanden logos und währe ohne ihn nicht denkbar[24]. Was hier auch entscheidend ist, ist der Umstand, dass es sich hierbei um einen rationalisierten logos handelt, der der griechischen Vernunftkultur des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstammt. Anders gesagt: Der dialektische logos ist vom griechischen Rationalismus nicht zu trennen. Er gehört wesensmäßig zu ihm. Daher das Insistieren der dialektischen Philosophie auf eine sachliche Argumentation, die nur dem Primat der Vernunft verpflichtet ist und erst damit auf diskursive Weise zur Wahrheit bzw. zur Erkenntnis des Seienden kommen kann. Des Weiteren gehört zur sokratischen Dialektik das logon didonai, das Rede-und-Antwort-Stehen, dass im Regelfall Sokrates von seinen Gesprächspartnern einfordert. Das gerade diese sokratische Forderung als problematisch empfunden wird, soll im Folgenden in Bezug zu Nietzsches Bild der Dialektik thematisiert werden[25].
Sofern man sich auf die oben gemachte Beschreibung der dialektischen Technik stützt, lässt sich fragen, worin für Nietzsche das „Problem“ derselben besteht. Sein erster Kritikpunkt ist der, dass die sokratische Dialektik sich erst durch eine Veränderung im griechischen „Geschmack“ (GD, Das Problem des Sokrates 5, KSA 6, S.69) gesellschaftlich etablieren konnte. Nietzsche weist dabei auf den Umstand hin, dass in der Zeit vor Sokrates die „dialektischen Manieren“ in der athenischen Gesellschaft abgelehnt worden sind. Hierbei spielt die Dichotomie Adel-Pöbel eine wichtige Rolle, weil Nietzsche in seinem Diskurs Sokrates auf Grund seiner „Herkunft“ (GD, Das Problem des Sokrates 3, KSA 6, S. 68) dem „Pöbel“ zuordnet und auch seine Dialektik in gleicher Weise bewertet. Er begründet das damit, dass in der vorsokratischen Zeit allein in der aristokratischen Gesellschaft die „Autorität“ in sittlichen Dingen galt und das dialektische Beweisverfahren als „unanständig“ galt. Das Beweisen-Wollen im dialektischen Gespräch, das sich nach Nietzsche in seinen Syllogismen zeigt selbst, wird somit von ihm negativ beurteilt. Was für Platon der diskursive Weg zur Wahrheit ist, hat für Nietzsche wenig „werth“ (GD, Das Problem des Sokrates 5, KSA 6, S.69f.)[26]. Der zweite Kritikpunkt in seiner Argumentation ist der, dass die sokratische Dialektik an sich wenig überzeugend ist und nur eine „Notwehr“ für die Art von Menschen ist, die ihr „Recht zu erzwingen haben“ (GD, Das Problem des Sokrates 6, KSA, S.70). Sie sei ein „schonungsloses Werkzeug“, das durch die Messerstiche[27] des Syllogismus[28] den Gesprächspartner tyrannisiert. Nietzsches kritisiert an der dialektischen Technik, dass sie eigentlich keine wirklich sachliche Gesprächsführung ist, sondern aus einem „Pöbel-Ressentiment“ (GD, Das Problem des Sokrates 7, KSA 6, S.70) hervorgeht, welches Nietzsche glaubt vor allem an der dialektischen „Ironie“ des Sokrates ausfindig machen zu können. Der dialektische Dialog verläuft anders gesagt aus seiner Sicht nicht ganz affektfrei[29]. Der Dialektiker mache den anderen Gesprächspartner wütend, indem er ihn widerlegt und verringe den „Intellekt“ seines „Gegners“. Nietzsche wirft sogar in dieser Hinsicht die Frage auf, ob nicht Dialektik selbst „eine Form der Rache “ (ebd.) ist. Um diese kritischen Charakterisierungen der dialektischen Technik besser prüfen zu können, soll nun beispielhaft auf einen Platonischen Dialog dazu eingegangen werden. Die Wahl fällt hierbei auf eine Textstelle aus dem Frühdialog Laches, indem ein problematischer Aspekt der sokratischen Dialektik von einem Gesprächsteilnehmer geschildert wird (187d-188b):
[...]
[1] Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe; Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari [ im folgenden zitiert als: KSA, mit Band- und Seitenzahl], Band 3, Berlin/ New York 1999, S.347. Abgekürzt wird dieses Werk von nun an auch durch FW.
[2] Das soll vor allem der erste Satz verdeutlichen. Da die Philosophie immer personengebunden ist, ist sie auf den leiblichen Zustand des Philosophen zurückzuführen. Anders gesagt: der leibliche Zustand eines Denkers entscheidet darüber, in welcher der von Nietzsche aufgemachten Philosophen-Kategorien dieser fällt.
[3] Vgl. dazu Platons Phaidon 118a, wo es heißt: „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht.“ Nietzsches gibt das sokratische Diktum zu Beginn seines Textes wieder und verbindet es zugleich mit seiner Deutung, die in diesem Ausspruch einen Hinweis auf Sokrates’ Krankheit sieht. Er habe demnach das Leben als Krankheit empfunden, war somit Pessimist. Was für diese Deutung spricht, ist die Tatsache, dass es im antiken Griechenland tatsächlich eine Praxis gab, die für diese Interpretation zu sprechen scheint. Diese bestand darin, dass die von Krankheit Genesenen dem Asklepios einen Hahn opferten. Derselbe ist nach der griechischen Mythologie der Gott der Heilkunst. Es liegt nahe, dass man hier unter Krankheit die Krankheit des Lebens versteht, von der Sokrates durch den Tod erlöst wurde. Bezüglich dieses Deutungsmodells gibt es aber auch Gegenstimmen, wie die des klassischen Philologen Rüdiger Leimbach (2008) beispielsweise. In seinem Aufsatz (2008, S.288f.) spricht er sich gegen Interpretationen dieser Art aus und verweist auf den Umstand, dass aus den Quellen nicht entschieden werden kann, ob der historische Sokrates an der Krankheit des Lebens gelitten hat oder nicht. Bezüglich des platonischen Sokrates negiert er sogar diese Vorstellung, da es seines Erachtens in den Platonischen Schriften keinen wirklichen Beleg dafür gibt. Obwohl diese Argumentation eine Gegenposition zu Nietzsches Deutung ist, kann ihr hier nicht nachgegangen werden. Sie gilt nur als ein Beispiel der Kritik an Nietzsches Sokrates-Interpretation.
[4] Den Begriff selber hat Nietzsche von den französischen Psychologen wie Paul Bourget Ende des 19. Jahrhunderts übernommen und für seine Philosophie genutzt (vgl. P.Bourget: Essais de psychologie contemporaine, Paris 1883, S.23-32). Allerdings muss darauf verwiesen werden, dass der Terminus bei Nietzsche seine eigentümliche Prägung erfährt, so dass man eigentlich vom nietzscheschen Begriff der décadence sprechen muss. Obwohl sein Begriff der Dekadenz eine gewisse semantische Gemeinsamkeit mit dem der französischen Psychiater und Physiologen seiner Zeit teilt, muss er dennoch von ihrem Terminus noch unterschieden werden.
[5] Neben dem „Problem des Sokrates“ existiert für den späten Nietzsche auch ein „Problem der décadence“. Genauer: beide Probleme sind miteinander verknüpft. Im Vorwort zu seinem Buch Der Fall Wagner erläutert er es genauer (KSA, 6, S.11): „Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der décadence, - ich habe Gründe dazu gehabt. „Gut und Böse“ ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs eine Auge gemacht, so versteht man auch die Moral, - man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit. Moral verneint das Leben… (…)“. Stellen wie diese aus dem Spätwerk, weisen daraufhin, was Nietzsche mit dem Begriff der décadence verbindet. Während Wagner in der genannten Schrift der „Künstler der décadence“ (KSA 6, S.21) ist, muss Sokrates demnach als der „Philosoph der décadence“ gelten.
[6] Dieser Begriff soll hier als Verneinung des Daseins verstanden werden. Eine Diskussion, die der ganzen Komplexität dieses Terminus gerecht wird, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. In den Nachlassaufzeichnungen aus dem Jahr 1888, die zudem in die Entstehungszeit dieser Abhandlung fallen, weist Nietzsche selber auf den Zusammenhang zwischen Nihilismus und Dekadenz hin. Ersterer gehört aus Nietzsches Sicht zu den typischen Formen der décadence (vgl. KSA 13, S.272). Anders formuliert: „der Nihilism ist keine Ursache, sondern nur die Logik der dédadence“ (KSA 13, S.265).
[7] Die Abkürzung GD steht von nun an für Nietzsches Schrift „Götzen-Dämmerung“.
[8] In welcher Relation Krankheit, Nihilismus und Dekadenz für ihn stehen, zeigt auch folgende Notiz aus seiner Schrift Der Wille zur Macht: „ Folgen der décadence: das Laster- die Lasterhaftigkeit, die Krankheit (von mir hervorgehoben, F.F.) - die Krankhaftigkeit; (…); der Pessimismus“. Dieses Zitat verdeutlicht, dass Nietzsche die Dekadenz als Auslöser der Krankheit sieht. Der Nihilismus als die „Logik der décadence“ geht unmittelbar einher mit der Krankheit. Insofern lässt sich auch von der „nihilistischen Krankheit“ bei Sokrates sprechen. Zum Buch selber sei noch angemerkt, dass nach der inzwischen philologisch revidierten Kröner-Ausgabe zitiert wird, so dass die Möglichkeit einer gefälschten Stelle hier auszuschließen ist. Die Erstausgabe dieser Schrift enthielt viele Fälschungen, die seitens Elisabeth Förster-Nietzsche – seiner Schwester- vorgenommen wurden.
[9] Vgl. dazu Nietzsches knappes, aber essentielles Diktum (GD, Das Problem des Sokratees 11, KSA, S.73): „Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence.“
[10] Man muss diesbezüglich hinweisen, dass Sokrates für Nietzsche „kein Ausnahmefall“ war, sondern das „alte Athen“ selbst sich in derselben Art von „Degenerescenz“ befand. Letzterer Begriff meint dasselbe wie décadence. Sokrates selbst sei nur der „extreme Fall“ der Instinktanarchie gewesen.
[11] Wie weit die Schätzung des Instinktiven bei Nietzsche geht, soll folgendes Zitat aus dem Text verdeutlichen, dass in gewisser Weise als Gegenformel zur Dekadenz von Nietzsche aufgestellt wird (GD, Das Problem des Sokrates 11, S.73): „ (…) so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt.“ Oder an anderer Stelle aus der Götzendämmerung (GD, KSA 6, S.90): „Alles Gute ist Instinkt – und, folglich, leicht, notwendig.“ Nietzsches Vorwurf an Sokrates und dessen Schüler Platon ist somit, dass sie sich durch die Missachtung der instinkthaften Natur ihres Leibes von den Instinkten des „älteren Hellenen“ (GD, Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, S.69) bzw. vom „Instinkt des Lebens“ (GD, KSA 6, S.159) losgelöst haben.
[12] Vgl. dazu die Nachschrift in seinem Buch Der Fall Wagner (KSA 6, S.40f.): „Ein Instinkt ist geschwächt, wenn er sich rationalisiert: denn damit, dass er sich rationalisiert, schwächt er sich“ Die Folgen des Rationalismus sind für den Leib aus Sicht Nietzsches auf jeden Fall verheerend.
[13] In Ecce Homo (KSA 6, S.310) formuliert Nietzsche diesen Punkt deutlich: „Das Andere ist das Verständnis des Sokratismus: Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung, als typischer décadent zum ersten Mal erkannt. «Vernünftigkeit» gegen Instinkt. Die «Vernünftigkeit» um jeden Preis als gefährliche, als leben-untergrabende Gewalt.“
[14] Dies wird das Thema des folgenden Kapitels sein. Das auch die Dialektik Teil des Krankheitsbilds ist, soll dort gezeigt werden.
[15] Das Problem der sokratischen Moral wird Thema des Kapitels 1.4 sein. Der Moralismus ist ebenfalls Teil des Krankheitsbilds, kann jedoch erst später eigens thematisiert werden.
[16] Nietzsches Angriffe auf Sokrates zielen auch darauf, dass klassische, weitgehende harmonische Sokratesbild der europäischen Philosophiegeschichte zu destruieren, um zu einem realistischeren – nämlich seinem- zu kommen. Hier wird das vollzogen, was der Untertitel seines Buches Götzen-Dämmerung ankündigt: „mit dem Hammer“ philosophieren. Der „Götze“ Sokrates wird also durch wuchtige Hammerschläge zerstört. Ob Nietzsches polemische Äußerungen gerechtfertigt sind, ist umstritten.
[17] Weitere Dekadenz-Phänomene leiblicher Art sind nach Nietzsche die „Gehörs-Hallucinationen“ des griechischen Philosophen, die als „Dämonion des Sokrates“ bekannt sind. Auch das wird von Nietzsche als pathologisch betrachtet.
[18] Eine Version der Zopyros-Anedokte findet sich beispielsweise in Ciceros Tusculanischen Gesprächen (4.Buch, 80): „ Als bei einer Zusammenkunft Zopyros, der behauptete, die Natur jedes Menschen aus seiner Gestalt ablesen zu können, bei ihm viele Laster festgestellt hatte, da wurde er von den Übrigen ausgelacht, weil ihnen jene Laster an Sokrates unbekannt waren: Sokrates dagegen tröstete ihn und sagte, sie seien allerdings in ihm, aber seine Vernunft habe sie vertrieben.“ Es ist offensichtlich, dass Nietzsches Lesart dieser Anekdote, ihr eine radikalere Fassung verleiht, als wie sie tatsächlich bei Cicero überliefert ist. Insofern kann man sich kritisch gegen diese Art von Deutung wenden.
[19] Anders der Sokratesforscher Taylor (2004, S.125f.), der Nietzsches Äußerungen über Sokrates’ Physiognomie für unsachlich hält und sie daher schnell ab tut, indem er auf dessen „Ambivalenz“ gegenüber dem platonischen Protagonisten hinweist. Dabei ignoriert er aber meines Erachtens einen wichtigen Aspekt von Nietzsches Argumentation. Böhme (2002, S.210 und S.224f.) dagegen ist differenzierter, indem er auf diesen Punkt zumindest kurz eingeht. Allein auch er bleibt bei einer kritischen Haltung gegenüber Nietzsches physiognomischen Ansichten.
[20] Ein Beispiel seiner frühen Einschätzung der Dialektik sei hier zitiert (GT, 14, KSA 1, S.94): „(…) denn wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstsein athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie notwendig zur Selbstvernichtung treiben muss- bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel.“ Während der frühe Nietzsche die Dialektik in Bezug zur Tragödie analysiert, wird der späte einen anderen Schwerpunkt wählen. Auf die These des frühen Nietzsche, dass die Dialektik für den Verfall der Tragödie verantwortlich ist, und die dazugehörige Argumentation kann hier aber nicht eingegangen werden. Es gilt nur zu sehen, dass das Tragödienbuch den Ausgangspunkt für Nietzsches Nachdenken über die sokratische Dialektik darstellt.
[21] Vgl. dazu Nietzsche, Morgenröthe, Nr. 544; KSA 3, S.314f. Auch diese Textstelle, sei hier zitiert: „ Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialoges geht, das Jauchzen über die neue Erfindung des vernünftigen Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde (…) Damals hatte man in Griechenland den anderen älteren und ehedem allmächtigem Geschmack noch auf der Zuge: und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der Dialektik, der „göttlichen Kunst“, wie im Liebeswahnsinn sang und stammelte.“ Auffällig an diesem Zitat ist, dass Nietzsche im Vergleich zum Tragödienbuch zu einer scheinbar positiven Auffassung von Dialektik kommt, wie das Wort „Jauchzen“ z.B. zeigt.
[22] Es kann aber nach Platon auch Denken als das Gespräch der Seele mit sich selbst meinen (Platon, Theatet, 189ef.).
[23] Ein anderer Begriff ist auch der Dialog. Die sokratische Kunst der Gesprächsführung entfaltet sich im Dialog und nichts außerdem. Das dialektische Gespräch unterscheidet sich daher nach Platon von der sophistischen Rhetorik, die als monologisch und schmeichlerisch verurteilt wird.
[24] Vgl. dazu Figal (2006, S.127).
[25] Weitere Züge der Dialektik sollen im Rahmen des nietzscheschen Diskurses über dieselbe thematisiert werden.
[26] Bezüglich dieser Wertung kann man auch an den frühen Nietzsche denken, der am Ende seines Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne zu einem Vergleich zweier verschiedener Menschentypen kommt: dem vernünftigen Mensch und dem intuitiven (Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S.889). Der erste Typus entspricht eigentlich dem, was der späte Nietzsche am Bild des Dialektikers noch mal versucht zu veranschaulichen. Dem dialektischen Rationalist, der diskursiv zur Wahrheit kommen will, wird der intuitive und künstlerische Mensch gegenüber gestellt, der mittels der Intuition zu einer höheren Weisheit kommt. Nietzsches Abwertung des dialektischen Verfahrens, das sich in seinem Spätwerk bemerkbar macht, ist in diesem Essay schon vorgeformt.
[27] Hier ist eine Anmerkung bezüglich Nietzsches Textstil erforderlich: Auffällig an Nietzsches Diskurs ist, dass er um bestimmte Sachverhalte besser veranschaulichen zu können, häufig auf Metaphern zurückgreift. Seine rhetorische Textstrategie greift also auch auf stilistische Mittel wie die Metapher zurück, um sie so wirkungsvoller für seine Argumentation zu gebrauchen. Im Falle der Rede von den „Messerstichen des Syllogismus“ (GD, Das Problem des Sokrates 7, KSA 6, S.70) ist das offensichtlich. Nietzsche zieht somit alle stilistischen Register, um sein Bild der Dialektik so kritisch wie möglich zu zeichnen. Die Metapher ist aber nur eines der im Text verwendeten stilistischen Mittel, welches allerdings besonders hervorsticht. Ob Nietzsches Metapherngebrauch hinsichtlich des Themas seines Diskurses überzeugend ist, bleibt natürlich die Frage und ob er damit zu einem treffenden Bild der Dialektik kommt. Es wäre jedoch zu einfach, ihn auf Grund seines in dieser Hinsicht polemischen anmutenden Metaphergebrauchs als vollkommen unsachlich abzuqualifizieren. Seine Argumentation besteht eben nicht nur aus Metaphern.
[28] Wenn Nietzsche von den „Messerstichen des Syllogismus“ spricht, dann drückt sich darin auch eine Kritik an der Überbewertung des Logischen durch Sokrates aus. Er spricht in dieser Hinsicht von der „Superfötation des Logischen“ (GD, Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, S.69), um damit Sokrates’ Logizismus zu kritisieren. Schon in seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie ist Sokrates jener „despotische Logiker“ (KSA 1, S.96), der kein Verständnis mehr für die Tragödie hat. Nietzsches kritischer Fingerzeig auf den „logischen Sokratismus“ (KSA 1, S.91), ist also eine Geste, die er seit seiner ersten Auseinandersetzung mit Sokrates praktiziert, und hier im Spätwerk eine Wiederholung erfährt, die allerdings noch drastisch gesteigert ist. Es muss des Weiteren hier angemerkt werden, dass bestimmte Motive aus Nietzsches früher Sokrateskritik hier in der Abhandlung wieder aufgenommen werden. Die Kritik am Logizismus ist eines dieser Motive. Für Nietzsche fallen wie für die philosophische Tradition im Allgemeinen Dialektik und Logik zusammen. Dass er die Überwertung des Logischen auch zum dekadenten Wesen des Sokrates zählt, soll thematisiert werden, wenn über den Zusammenhang von Dialektik und Dekadenz gesprochen wird.
[29] In gleicher Weise sieht beispielsweise Deleuze (2002, S.66) Sokrates vom „dialektischen Ressentiment“ und vom „Geist der Rache“ erfüllt und folgt Nietzsche in seiner Negativdeutung desselben. Deleuze spricht in seinem Buche Nietzsche und die Philosophie hinsichtlich der Dialektik auch von einer natürlichen „Ideologie des Ressentiments“ (S.173). Diese Formel, die den Punkt zu treffen scheint, ist zunächst von ihm auf die Hegelsche Dialektik bezogen, wie aus dem Kapitel Wider den Hegelianismus zu ersehen ist, lässt sich aber in seinem Sinne ebenso auf die sokratische Dialektik beziehen. Allerdings kann hier auf seine von Nietzsche beeinflusste Sokrates-Deutung nur am Rande eingegangen werden.