Als eine gemeinhin bekannte Krankheitsbezeichnung leidet das Tourette-Syndrom häufig unter einer Klischeevorstellung, die durch die Uninformiertheit vieler Menschen über die eigentlichen Ausmaße dieser Erkrankung zustande kommt. Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zufolge litten im Jahr 2012 300.000 bis 500.000 Menschen in Deutschland unter dieser Krankheit, von denen die wenigsten „Obszönitäten schreiend“ (Kostarellos 2015: 3) durch die Gegend laufen (Podbregar, 2012).
Weltweit liegt der Annäherungswert bei 0,05-3 %, jedoch ist es nahezu unmöglich genaue Zahlen zu nennen, da bei vielen Betroffenen noch keine Diagnose gestellt worden ist (Rothenberger et al. 2001, zit. nach Viert, T. 2005: S. 10). Es hat auch nicht jeder, am Tourette-Syndrom Erkrankte, automatisch sichtbare Zuckungen. Auch fällt die Krankheit, entgegen der landläufigen Meinung vieler Menschen, nicht in den Bereich der psychischen Erkrankungen (Kostarellos 2015: 4). Diese Missverständnisse führen dazu, dass Tourette-Kranke oftmals ausgegrenzt werden und ihnen mit Unverständnis begegnet wird. Das wiederum ist eine ganz natürliche Reaktion eines unwissenden Menschen auf etwas Unbekanntes, nicht regelkonformes und vor allem nicht den konventionellen Erwartungen entsprechendes. Die Abweichung von der Norm und das Ausbrechen aus einer allgemeingültigen Moralvorstellung macht Nicht-Betroffenen Angst und das Unwissen eben dieser Menschen führt zu einer Stigmatisierung der Tourette-Kranken in vielen Lebensbereichen (Viert 2005: 44f.).
Aufgrund dieses, noch nicht ausreichend gedeckten, Bedarfs an Information über das Tourette-Syndrom werden im Folgenden, nach einer Definition des Begriffs, der historische Hintergrund, die der Krankheit zugehörigen Merkmale und ätiologische Annahmen erläutert. Abschließend soll noch auf einen Teil des sprachwissenschaftlichen Aspekts dieser Erkrankung eingegangen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Tourette-Syndrom
2.1. Geschichtlicher Hintergrund
2.2. Merkmale
2.2.1. Motorische Tics
2.2.2. Vokale Tics
2.2.3. Zwangsstörungen
2.2.4. Hyperkinetisches Syndrom
2.3. Ätiologie
2.4. Sprachwissenschaftlicher Aspekt
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als eine gemeinhin bekannte Krankheitsbezeichnung leidet das Tourette-Syndrom häufig unter einer Klischeevorstellung, die durch die Uninformiertheit vieler Menschen über die eigentlichen Ausmaße dieser Erkrankung zustande kommt. Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zufolge litten im Jahr 2012 300.000 bis 500.000 Menschen in Deutschland unter dieser Krankheit, von denen die wenigsten „Obszönitäten schreiend“ (Kostarellos 2015: 3) durch die Gegend laufen (Podbregar, 2012). Weltweit liegt der Annäherungswert bei 0,05-3 %, jedoch ist es nahezu unmöglich genaue Zahlen zu nennen, da bei vielen Betroffenen noch keine Diagnose gestellt worden ist (Rothenberger et al. 2001, zit. nach Viert, T. 2005: S. 10). Es hat auch nicht jeder, am Tourette-Syndrom Erkrankte, automatisch sichtbare Zuckungen. Auch fällt die Krankheit, entgegen der landläufigen Meinung vieler Menschen, nicht in den Bereich der psychischen Erkrankungen (Kostarellos 2015: 4). Diese Missverständnisse führen dazu, dass Tourette-Kranke oftmals ausgegrenzt werden und ihnen mit Unverständnis begegnet wird. Das wiederum ist eine ganz natürliche Reaktion eines unwissenden Menschen auf etwas Unbekanntes, nicht regelkonformes und vor allem nicht den konventionellen Erwartungen entsprechendes. Die Abweichung von der Norm und das Ausbrechen aus einer allgemeingültigen Moralvorstellung macht Nicht-Betroffenen Angst und das Unwissen eben dieser Menschen führt zu einer Stigmatisierung der Tourette-Kranken in vielen Lebensbereichen (Viert 2005: 44f.).
Aufgrund dieses, noch nicht ausreichend gedeckten, Bedarfs an Information über das Tourette-Syndrom werden im Folgenden, nach einer Definition des Begriffs, der historische Hintergrund, die der Krankheit zugehörigen Merkmale und ätiologische Annahmen erläutert. Abschließend soll noch auf einen Teil des sprachwissenschaftlichen Aspekts dieser Erkrankung eingegangen werden.
2. Das Tourette-Syndrom
Der französische Arzt Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette ist der Namensgeber für das Gilles de la Tourette-Syndrom (kurz: Tourette-Syndrom, Tourette oder TS). Es handelt sich hierbei um eine neuropsychiatrische Erkrankung, dessen Leitsymptom die sogenannten Tics sind. Dies sind Bewegungen bzw. Laute, die unwillkürlich, schnell, plötzlich einschießend und sogar im Schlaf auftreten (Joseph et al. 2002a, zit. nach Viert, T. 2005: S. 10). Häufig sind diese aber gar nicht unwillkürlich, denn bei einigen Tourette-Kranken (Tourettern) stellt sich kurz bevor es zu dem jeweiligen Tic kommt ein Anspannungsgefühl ein, z.B. ein Brennen im Auge vor dem Augenblinzeln. Dadurch ist es für manche Touretter möglich Tics zu unterdrücken (Viert 2005: 10).
In der ICD-10, der internationalen Klassifikation der Krankheiten, fällt das Tourette-Syndrom unter die Kategorie der Verhaltensstörungen und im DSM-5, dem englischen diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, wird es als Entwicklungsstörung des Nervensystems klassifiziert (Kostarellos 2015: 5).
Das Tourette-Syndrom ist zwar eine chronische Erkrankung, aber das muss nicht heißen, dass sie lebenslang besteht (Wittmann 2001: 18). Es kommt oft vor, dass die Symptome nach 8-10 Jahren nachlassen oder ganz verschwinden (Rothenberger 1991, zit. nach Wittmann, M. 2001, S. 18).
2.1. Geschichtlicher Hintergrund
Die Symptome des Tourette-Syndroms fanden zum ersten Mal vor ca. 2000 Jahren bei dem griechischen Gelehrten, Arzt und Hippokrates-Schüler Aretios von Kappadokien Erwähnung. Dieser schilderte damals „ ...Fälle von Zuckungen, Grimassenschneiden, Gebell, plötzlichen Flüchen und unvermittelten blasphemischen Äußerungen... “ (Hartung 1995, zit. nach Wittmann, M. 2001: S. 3). Da er keine wissenschaftliche Erklärung für diese Phänomene hatte, schob er es auf „den Einfluß [sic!] der Götter“ oder er nannte es „Wahnsinn“ (Hartung 1995, zit. nach ebd.: 3).
Etwa 70 bis 140 n. Chr. schrieb der römische Biograph und Geschichtsschreiber Gaius Suetonius Tranquillus über den römischen Imperator Claudius:
"Claudius besaß eine gewisse würdevolle Erscheinung, die sich am ehesten dann zu seinem Vorteil zeigte, wenn er saß oder stand und keine Gefühlsregung zeigte. Denn, obwohl er groß, gut gebaut und ansehnlich war, sowie einen feingeschnittenen Kopf mit weißem Haar und einen schönen Nacken besaß, stolperte und wackelte er, wenn er ging, wohl wegen der Schwäche seiner Knie. Wenn er durch das Spiel oder das ernsthafte Geschäft erregt war, hatte er einige unangenehme Merkmale aufzuweisen. Es handelte sich dabei um unkontrolliertes Lachen, Speichelfluß [sic!] im Bereich des Mundes, eine 'laufende Nase', Stammeln und anhaltende nervöse Tics. Diese nahmen unter emotionaler Belastung so stark zu, daß [sic!] sein Kopf von einer Seite zur anderen flog“ (Rothenberger 1991, zit. nach Wittmann, M. 2001: S. 3).
Das eigentliche Tourette-Syndrom wurde das erste Mal 1825 vom französischen Neurologen Jaques Itard beschrieben, dessen adlige Patientin, die Marquise de Dampierre, unter vokalen wie auch motorischen Tics litt (Rothenberger 1991, zit. nach ebd.: 4). Dieser Fallbericht fand wenig Beachtung bis Georges Gilles de la Tourette ihn 1885 in seiner Beschreibung von „neun Patienten, die seit ihrer Kindheit von Tics in Form von unkontrollierbaren Lauten und Worten betroffen waren“ (Chowdhury 2009: 11), wieder aufgriff. Obwohl die Ärzte damals einen psychologischen Ursprung vermuteten, war Gilles de la Tourette der Annahme, die Krankheit sei erblich. Heute geht man davon aus, dass das Tourette-Syndrom eine, der genetischen Vererbung zugrundeliegende, Krankheit mit vielen, sich unterschiedlich manifestierenden, Symptomen ist (ebd.: 11).
2.2. Merkmale
Das Tourette-Syndrom kennzeichnen die verschiedensten motorischen und/oder vokalen Tics. Rothenberger (1991, zit. nach Kostarellos, C. 2015, S. 5) erklärt das Phänomen der Tics wie folgt:
„Tics treten als unwillkürliche Bewegungen und/oder vokale/verbale Äußerungen auf, bei denen funktionell zusammenhängende Skelettmuskelgruppen eines Körperbereichs oder mehrerer Körperbereiche gleichzeitig bzw. nacheinander beteiligt sind. Die Tics sind plötzlich einschießend, kurzdauernd, unerwartet, stereotyp wiederkehrend; in der Intensität, Häufigkeit und Art schwanken sie und erscheinen in zeitlich unregelmäßiger Folge. Sie dienen keinem willentlich vorbestimmten Zweck, obwohl sie die Muskelgruppen in ihrer normalen Funktion benutzen (z.B. beim Kopfschüttel-Tic). Die Tics können manchmal über längere Zeit stabil bleiben. Sie lassen unter nicht-angstbesetzter Ablenkung und Konzentration nach, interferieren kaum mit intendierten Bewegungen (werden z.B. beim Schreiben ganz unterdrückt oder auf dabei nicht beteiligte Muskelgruppen ‘umgeleitet’), können möglicherweise auch während des Schlafes auftreten und nehmen unter emotionaler Anspannung zu. Tics können willkürlich für Minuten bis Stunden unterdrückt werden. Sie zeigen sich fast durchweg zuerst (und am häufigsten) proximal und später (und seltener) im distalen Körperbereich.“ (Rothenberger 1991, zit. nach ebd.: 5)
Außerdem leiden fast alle Touretter unter weiteren Störungen, wie Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle, Lernschwierigkeiten, Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Depressivität, Stottern oder autistische Verhaltensweisen (Wittmann 2001: 21). Am häufigsten treten bei Tourette-Kranken die Zwangsstörung und das Hyperkinetische Syndrom als Begleiterkrankungen auf (ebd.: 22), auf die in Kapitel 2.2.3. und 2.2.4. eingegangen wird.
2.2.1. Motorische Tics
Die motorischen Tics werden hinsichtlich ihrer Komplexität nochmal aufgeteilt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Rothenberger et al. 2003, zit. nach Viert, T. 2005: S. 16)
Die einfachen motorischen Tics laufen rasch, plötzlich einschießend und nicht-zweckgerichtet ab. Das Mundaufreißen z.B. kann auch mit Schmerzen verbunden sein. Die komplexen motorischen Tics hingegen passieren langsamer und sind scheinbar zweckgerichtet, z.B. das Berühren von Gegenständen (Rothenberger 1991, zit. nach Viert, T. 2005: S. 16f.).
Die meisten Touretter schaffen es diese Tics in die Bewegungen ihres Alltags einzubauen, sodass sie nicht mehr so stark auffallen (Viert 2005: 17).
2.2.2. Vokale Tics
Die vokalen Tics werden ebenso wie die motorischen Tics nochmal unterteilt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Rothenberger et al. 2003, zit. nach Viert, T. 2005: S. 17)
Bei den einfachen vokalen Tics handelt es sich um das Ausstoßen sinnloser Laute oder Geräusche. Den komplexen vokalen Tics liegen meist Bedeutungen zugrunde, wie z.B. in folgendem Satz: „Wau – oh ja – oh Mann, jetzt hast du`s gesagt – jupp, das ist es – aber aber aber … - richtig, richtig … - ach ja, ach ja, ach ja …“ (Rothenberger 1991, zit. nach ebd.: 17).
2.2.3. Zwangsstörungen
Zu den am häufigsten vorkommenden Begleiterkrankungen des Tourette-Syndroms zählen Zwänge. Sie treten bei 40-60% aller Tourette-Kranken auf (Scholz et al. 2001, zit. nach Viert, T. 2001: S. 21). Sie treten in Form von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen in Erscheinung.
Die Zwangsgedanken sind gekennzeichnet von Angst vor Verschmutzung, Vergiftung oder Verseuchung. Außerdem drehen sich diese zwanghaften Gedanken um Ordnung, Genauigkeit, religiöse Inhalte oder, dass Angehörigen etwas zugestoßen sein könnte (Wittmann 2001: 23). Diese Gedanken müssen dann „immer und immer wieder gedacht werden“ (Viert 2005: 21) und dabei ist es für die Tourette-Kranken sehr schwer sich auf etwas anderes zu konzentrieren (Joseph et al. 2002b, zit. nach Viert, T. 2005: S. 21).
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