Jene Einzelgewerkschaften, die sich seit 1949 dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) anschlossen, unterscheiden sich von anderen Gewerkschaften durch zwei Organisationsprinzipien: Dem Einheitsgewerkschafts- und dem Industrieverbandsprinzip. Den Richtungsgewerkschaften und den ihnen nahestehenden Parteien der Weimarer Republik gelang es bis 1933 nicht, ihre ideologischen Differenzen zu überwinden und eine Einheitsfront zur Abwehr des Nationalsozialismus zu bilden. Die Erfahrung des Faschismus und des antifaschistischen Widerstandes bis 1945 führten zu Bestrebungen, Einheitsgewerkschaften aufzubauen. Für DGB-Gewerkschaften gilt folglich der Grundsatz: „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“.
Die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) auf Grundlage des Tarifvertragsgesetzes (TVG) führte bis 2010 zu einer Erweiterung dieses Grundsatzes. Tarifpluralitäten mussten grundsätzlich durch das Spezialitätenprinzip aufgelöst werden, sodass prinzipiell nur ein Tarifvertrag, der, auf den gesamten Betrieb bezogen, sachnäher war, für diesen Betrieb zulässig war. Die über fünfzig Jahre bestehende Tarifeinheit ergab sich ohne Notwendigkeit aus dem TVG und führte zu dem Grundsatz „ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag“. Am 27. Januar 2010 wurde dieser durch das BAG aufgegeben. Damit passte das Gericht die Rechtsprechung der gewandelten Tariflandschaft an, welche durch das Erstarken von Gewerkschaften, die nicht nach Einheits- und Industrieverbandsprinzip organisiert sind, immer häufiger Tarifkollisionen erzeugte. Dieses Urteil war Anlass einer gemeinsamen Initiative des DGBs und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit dem Ziel, die Tarifeinheit in abgewandelter Form gesetzlich festzulegen. Diesem ungewöhnlichen Bündnis gingen Befürchtungen und Hoffnungen im Zusammenhang mit der Tarifeinheit voraus, deren Herausarbeitung und Kritik Ziel der vorliegenden Arbeit ist.
Inhalt
1. Exposition der Fragestellung
2. Tarifkollisionen und ihre Auflösung vor dem 27. Januar 2010
2.1. Tarifkonkurrenz
2.2. Tarifpluralität
2.3. Auflösung von Tarifkollisionen
3. Tarifpolitische Folgen für die Gewerkschaften des DGBs
3.1. Gefahr der Unterbietung
3.2. Schutz vor Überbietung
4. Ende des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifpluralität
5. Die Initiative von DGB und BDA
5.1. Kontroverse Diskussionen
5.1.1. Spaltung der Beschäftigten
5.1.2. Marginalisierung der Spartengewerkschaften
5.1.3. Verhinderung der Unterbietungskonkurrenz
5.1.4. Entstehung „Englischer Verhältnisse“
5.2. Ende der Initiative
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Exposition der Fragestellung
Jene Einzelgewerkschaften, die sich seit 1949 dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) anschlossen, unterscheiden sich von anderen Gewerkschaften durch zwei Organisationsprinzipien: Dem Einheitsgewerkschafts- und dem Industrieverbandsprinzip. Den Richtungsgewerkschaften und den ihnen nahestehenden Parteien der Weimarer Republik gelang es bis 1933 nicht, ihre ideologischen Differenzen zu überwinden und eine Einheitsfront zur Abwehr des Nationalsozialismus zu bilden.[1] Die Erfahrung des Faschismus und des antifaschistischen Widerstandes bis 1945 führten zu Bestrebungen, Einheitsgewerkschaften aufzubauen. Die Etablierung einer solchen als „allgemeine Gewerkschaft“ mit untergeordneten Industrieorganisationen scheiterte in der BRD am Widerstand der westlichen Alliierten sowie der bestehenden Industriegewerkschaften und führte dort zum Industrieverbandsprinzip, wohingegen in der DDR mit Etablierung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) eine „allgemeine Gewerkschaft“ eingerichtet wurde.[2] Der DGB wurde hingegen als relativ schwacher Dachverband ohne eigene Tarifkompetenz mit autonomen Mitgliedsgewerkschaften gegründet, die, wie der DGB selbst, dem Prinzip der Einheitsgewerkschaften folgten und alle Arbeitnehmer_innen einer Branche, unabhängig ihres Berufes und ihrer politischen Anschauung, zu vertreten beanspruchten. Das Industrieverbandsprinzip wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands schließlich auch auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen. Die Trennung von Facharbeiter_innen und ungelernten Arbeiter_innen, wie sie durch das Berufsverbandsprinzip hervorgerufen wird, sollte durch diese Organisation aller abhängig Beschäftigten in einer Branche überwunden werden.[3] Für DGB-Gewerkschaften gilt folglich der Grundsatz: „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“.
Die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) auf Grundlage des Tarifvertragsgesetzes (TVG) führte bis 2010 zu einer Erweiterung dieses Grundsatzes. Tarifpluralitäten mussten grundsätzlich durch das Spezialitätenprinzip aufgelöst werden, sodass prinzipiell nur ein Tarifvertrag, der, auf den gesamten Betrieb bezogen, sachnäher war, für diesen Betrieb zulässig war. Die über fünfzig Jahre bestehende Tarifeinheit ergab sich ohne Notwendigkeit aus dem TVG und führte zu dem Grundsatz „ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag“. Am 27. Januar 2010 wurde dieser durch das BAG aufgegeben.[4] Damit passte das Gericht die Rechtsprechung der gewandelten Tariflandschaft an, welche durch das Erstarken von Gewerkschaften, die nicht nach Einheits- und Industrieverbandsprinzip organisiert sind, immer häufiger Tarifkollisionen erzeugte.[5] Dieses Urteil war Anlass einer gemeinsamen Initiative des DGBs und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit dem Ziel, die Tarifeinheit in abgewandelter Form gesetzlich festzulegen. Diesem ungewöhnlichen Bündnis gingen Befürchtungen und Hoffnungen im Zusammenhang mit der Tarifeinheit voraus, deren Herausarbeitung und Kritik Ziel der vorliegenden Arbeit ist.
Hierzu werden in Kapitel 2 die grundlegenden Begrifflichkeiten, nämlich Tarifkonkurrenz und -pluralität sowie deren Auflösung dargestellt. Grundlage bilden hier vor allem die Dissertationen von Roland Delbos, Jeremy Bister und Andreas Witzig zum Thema Tarifkollisionen. Kapitel 3 betrachtet die tarifpolitischen Folgen aus der ständigen Rechtsprechung zu Gunsten der Tarifeinheit, welche einerseits Unterbietungskonkurrenz für DGB-Gewerkschaften befördert sowie andererseits die Überbietung weitgehend verhinderte. Zur Analyse der Fälle dienen Positionspapiere der konkurrierenden Gewerkschaften, sowie Aufsätze von Robert Fuß und Daniel Behruzi zu unternehmensfreundlichen Gewerkschaften. Das Buch „Kleine Gewerkschaften und Berufsverbände im Wandel“, herausgegeben von der Hans Böckler Stiftung, diente dem Verständnis der Spezialistengewerkschaften. In Kapitel 4 werden die Gründe für die Aufhebung des Grundsatzes der Tarifeinheit erörtert, um anschließend in Kapitel 5 die Initiative von DGB und BDA vorzustellen und diskutieren zu können. Hierbei wird die Kritik von außerhalb und innerhalb des DGBs durch Gewerkschafter_innen, Arbeitsrechtler_innen und Journalist_innen zusammengefasst. Zuletzt folgt ein Fazit auf Grundlage der vorangegangenen Untersuchungsergebnisse, in dem Befürchtungen und Hoffnungen des DGBs in Bezug auf die Tarifeinheit zusammengefasst und eine persönliche Kritik an der Initiative formuliert wird.
Zum allgemeinen Verständnis der DGB-Gewerkschaften dienten vor allem Beiträge von Josef Schleifstein und Frank Deppe in „Einheitsgewerkschaft. Quellen. Grundlagen. Probleme.“ sowie mehrere Aufsätze aus dem von Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels herausgegebenen Buch „Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“.
2. Tarifkollisionen und ihre Auflösung vor dem 27. Januar 2010
Einen Tarifvertrag (TV) können nach Paragraph 3 TVG Absatz 1 Gewerkschaften mit einzelnen Arbeitgeber_innen und deren Vereinigungen schließen. Dabei kann jedes einzelne Arbeitsverhältnis nur von einem TV geprägt werden. Tarifkollisionen sind Fälle der Tarifkonkurrenz oder der Tarifpluralität. Solche entstehen, sobald geltende TVs im selben Geltungsbereich desselben Betriebes (teilweise) dieselben Sachverhalte regeln.[6] Mit dem Grundsatz der Tarifeinheit wurden diese Kollisionen aufgelöst, indem in jedem Betrieb nur ein TV zugelassen wurde.[7] Dies hatte für Arbeitnehmer_innen, welche sich in der unterlegenen Gewerkschaft organisierten, zur Folge, dass sie keinen Anspruch auf die Erfüllung des gültigen TVs mehr hatten. Das BAG erkannte das Problem und empfahl in solchen Fällen den Wechsel zur obsiegenden Gewerkschaft.[8] Letztere unterwirft die unterlegene Gewerkschaft der Friedenspflicht, was mit Blick auf die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) von Verfassungsrechtlern als unzulässig kritisiert wurde.[9]
2.1. Tarifkonkurrenz
Im Allgemeinen entsteht Tarifkonkurrenz, wenn mehrere geltende TVs auf dasselbe Arbeitsverhältnis (persönlich, räumlich und fachlich) anwendbar sind, da beide Parteien des Arbeitsverhältnisses gleichzeitig mehrfach tariflich gebunden sind. Eine solche tritt im Wesentlichen bei Abschluss eines Haus-TVs mit derselben Gewerkschaft, die zuvor einen Verbands-TV mit dem Arbeitgeber_innenverband abgeschlossen hat oder mit derselben Gewerkschaft, die zuvor einen allgemeinverbindlichen Verbands-TV beschlossen hat, auf.[10] Zudem entsteht sie bei einem Wechsel auf Arbeitgeber_innenseite zu einem neuen Verband, der ebenfalls mit der vorherigen Gewerkschaft verhandelt oder wenn einzelne Arbeitnehmer_innen mehreren Gewerkschaften angehören, die unterschiedliche TVs mit dem Arbeitgeber_innenverband ausgehandelt haben.[11] Ergänzende TVs (z.B. der Abschluss eines Lohn-TVs in Folge eines Mantel-TVs) oder solche, die ausdrücklich den ursprünglichen TV aufheben oder ablösen, fallen deshalb nicht unter den Begriff der Tarifkonkurrenz und bedürfen somit keiner Auflösung.[12]
2.2. Tarifpluralität
Erfassen mehrere TVs verschiedener Gewerkschaften denselben Betrieb, entsteht allgemein Tarifpluralität. Nur die Arbeitgeber_innen sind in diesem Fall mehrfach an TVs gebunden. Für das einzelne Arbeitsverhältnis gilt, je nach Gewerkschaftszugehörigkeit der abhängig Beschäftigten, der TV, den die jeweilige Gewerkschaft mit der_dem Arbeitgeber_in oder deren_dessen Verband ausgehandelt hat. Deshalb sind Arbeitgeber_innen in solchen Fällen an zwei nicht miteinander konkurrierende TVs gebunden. Trotzdem wurde nach der alten Rechtsprechung grundsätzlich Tarifeinheit hergestellt.[13] Ausnahmen von diesem Grundsatz erfolgten für Fälle der gewillkürten Tarifpluralität. Schloss die_der Arbeitgeber_in freiwillig mehrere Haustarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften, musste keine Tarifeinheit hergestellt werden.[14] Der Sparten-TV der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) vom 30. Januar 2008 konnte auf diese Weise parallel zu dem von Transnet und GDBA (heute vereint in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG) ausgeführt werden. Solche Fälle blieben jedoch sehr selten, da die Zulässigkeit eines Streiks für den zweiten Haus-TV umstritten blieb.[15]
2.3. Auflösung von Tarifkollisionen
In der ständigen Rechtsprechung des BAG wurden Tarifpluralitäten wie Tarifkonkurrenzen behandelt, das heißt, dass sie trotz der prinzipiellen Möglichkeit mehrere TVs innerhalb eines Betriebes parallel anzuwenden, nach dem Grundsatz der Tarifeinheit aufgelöst wurden.[16] Vorherrschender Mechanismus hierbei war das Spezialitätenprinzip. Im Falle der Kollision wurde jener TV, der den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes am nächsten Stand (räumlich, fachlich und persönlich) bevorzugt. Die Beurteilung der Spezialität war jedoch nicht immer eindeutig und offensichtlich, sodass im Zweifel der TV, welcher die meisten Arbeitsverhältnisse erfasste oder derjenige, dessen Gewerkschaft den höchsten Organisationsgrad im Betrieb hatte, andere TVs verdrängte. In aller Regel folgte daraus, dass ein Haus-TV spezieller war als ein Flächen-TV und somit letzteren verdrängte. Bei Tarifkonkurrenzen, also Tarifkollision innerhalb eines Arbeitsverhältnisses, ist eine solche Auflösung wenig umstritten, da auf eine_n Arbeitnehmer_in nur schwer zwei TVs gleichzeitig angewendet werden können (beispielsweise durch Kombination). Die Auflösung von Tarifpluralitäten, also Tarifkollisionen innerhalb eines Betriebes, erfolgte aus Gründen der Praktikabilität, der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit. So wurde unter anderem angeführt, dass ohne Auflösung von Tarifpluralitäten, Arbeitnehmer_innen ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft offenlegen müssten. Der Grundsatz: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, galt somit trotz etwaiger Ausnahmen und Kritik von Arbeitsrechtler_innen bis zum 27. Januar 2011.[17]
3. Tarifpolitische Folgen für die Gewerkschaften des DGBs
Die zwei größten Dachverbände neben dem DGB, in dessen Gewerkschaften fast 6,2 Millionen Mitglieder[18] organisiert sind, sind der dbb beamtenbund und tarifunion (bis 2003 DBB, Deutscher Beamtenbund) mit ca. 1,3 Millionen Mitgliedern[19] in neununddreißig Fachgewerkschaften und der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) mit unter 0,3 Millionen Mitgliedern[20] in den jeweiligen Einzelgewerkschaften.
Die mit Gründung des DGBs angestrebte Einheitsgewerkschaft konnte schon zu Beginn nicht vollständig erzeugt werden. Die Trennung von Arbeiter_innen, Angestellten und Beamt_innen zeigte sich mit den Gründungen der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) und des Deutschen Beamten Bundes (DBB) bis 1950. Die Integration christlicher Gewerkschafter_innen in den DGB scheiterte an dessen teilweise offener Unterstützung der SPD in Wahlkämpfen sowie der Verwehrung zusätzlicher Vorstandsmandate, was 1955 zur Abspaltung und 1959 zur Gründung des CGBs als Richtungsgewerkschaft führte.[21] Dem Wandel der Produktionsweise, welcher unter anderem durch Individualisierung, Flexibilisierung und Tertiarisierung die Homogenität der Arbeiter_innenschaft, wie sie durch den Fordismus erzeugt wurde, zerstörte, standen die DGB-Gewerkschaften relativ machtlos gegenüber. Der Anteil an männlichen Industriefacharbeitern, den „geborenen“ Gewerkschaftsmitgliedern, wie sie Siegfried Mielke bezeichnet, sank, wohingegen die Zahl der traditionell schwach organisierten Angestellten zunahm. Während die DGB-Gewerkschaften zwischen 1991 und 2001 ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, wuchsen die Berufs- und Spartengewerkschaften, wie die der Ärzt_innen (Marburger Bund) oder die des fahrenden Bahnpersonals (GDL).[22] Diese verlassen zunehmend Tarifgemeinschaften, um selbst TVs aushandeln zu können, die bessere Konditionen für ihre Mitglieder bieten.[23] Anders verhält es sich bei den CGB-Gewerkschaften, deren Organisationsgrad sehr gering ist. Sie fallen regelmäßig durch das Unterbieten von Flächen-TVs der DGB-Mitglieder auf.
Aus Sicht der DGB-Gewerkschaften hatte die Rechtsprechung zu Gunsten der Tarifeinheit in diesem Sinne zwei wesentliche Folgen: Zum Einen konnten ihre Flächen-TVs unterlaufen werden, indem auf Grundlage des Spezialitätenprinzips ein Haus-TV mit schlechteren Bedingungen den TV der DGB-Gewerkschaft verdrängte, zum Anderen schützte es jedoch ihre TVs teilweise vor den stärker werdenden Fachgewerkschaften, die aufgrund des Berufsverbandsprinzips kaum der Spezialität, welche sich auf alle Arbeitsverhältnisse bezieht, gerecht werden können.
3.1. Gefahr der Unterbietung
Durch den Grundsatz der Tarifeinheit bot sich für Unternehmer_innen die Möglichkeit, einen aufgrund ihrer Verbandszugehörigkeit geltenden Flächen-TV, der mit einer DGB-Gewerkschaft geschlossen wurde, durch einen für sie günstigeren, spezielleren TV zu verdrängen. Vor allem die Mitgliedsgewerkschaften des CGBs, zeigten sich zu solchem Vorgehen in vielen Fällen bereit.
Ein Aufsehen erregendes Beispiel war der Fall des Kabelherstellers Nexans 2005. Der Flächen-TV der IG Metall sollte dort durch einen Haus-TV mit der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM) verdrängt werden. Nach Angaben der IG Metall hätte dieser langfristig zu Lohn- und Gehaltskürzungen zwischen 400 und 700 Euro und zu sofortigen Kürzungen von durchschnittlich siebzehn Prozent geführt.[24] Die CGM sprach hingegen von zwei bis drei Prozent Einbußen bei gleichzeitiger Arbeitszeitverlängerung.[25] Nur die Proteste und Streik drohungen (ein Streik hätte evtl. gegen die Friedenspflicht verstoßen) der Beschäftigten konnten diesen TV abwenden. Ein minimaler Organisationsgrad christlicher Gewerkschafter_innen im Betrieb in Verbindung mit einem spezielleren Haus-TV und schlechter Organisation anderer Gewerkschaften reichte somit in der Regel aus, um Flächen-TVs zu verdrängen.[26] Dass es sich hierbei nicht um unglückliche Verhandlungsergebnisse, sondern um Methode handelt, zeigt unter anderem der „Praxistip“ für Unternehmer_innen aus der Zeitschrift Arbeit und Arbeitsrecht von 2006: „Der Abschluss eines CGM-Firmentarifvertrages zur ‚Verdrängung‘ eines DGB-Flächentarifs kann dann empfehlenswert sein, wenn der DGB-Organisationsgrad der Belegschaft gering ist, [...] und auch bei dessen Durchführung nicht mit massiven Neueintritten in die DGB-Gewerkschaft zu rechnen ist.“[27]
[...]
[1] Vgl. Schleifstein, Josef (1982): Zu den historischen Quellen und politischen Grundlagen der Bildung von Einheitsgewerkschaften nach 1945. In: Deppe, Frank/Müller, Ludwig/Pickshaus, Klaus/Schleifstein, Josef: Einheitsgewerkschaft. Quellen Grundlagen Probleme. Nachrichten-Verlags-GmbH. Frankfurt/Main. S. 9 – 19. S. 13 ff.
[2] Vgl. Deppe, Frank (1982): Die Funktion der Einheitsgewerkschaft und der Kampf um eine gesellschaftliche Neuordnung nach 1945. In: Ebd. S. 20 – 35. S. 20 ff.
[3] Hassel, Anke (2003): Organisation: Struktur und Entwicklung. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlage GmbH. Wiesbaden. S. 102 – 121. S. 108.
[4] BAG v. 27.01.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645.
[5] Vgl. Bister, Jeremy (2011): Tarifpluralität – Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb und seine Folgen. In: Europäische Hochschulschriften. Reihe II. Rechtswissenschaft. Bd./Vol. 5119. Peter Lang GmbH. Frankfurt/Main. S. 17 f.
[6] Bister (2011): Tarifpluralität. S. 40.
[7] Witzig, Andreas (1992): Der Grundsatz der Tarifeinheit und die Lösung von Tarifkonkurrenzen. Inaugural-Dissertation. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. S. 19.
[8] BAG v. 20.03.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736, 739
[9] Vgl. Rieble, Volker (2010): Verfassungsfragen der Tarifeinheit. In: Rieble, Volker/Junker, Abbo/Giesen, Richard (Hrsg.): ZAAR Schriftenreihe. Band 21. ZAAR Verlag. München. S. 24.
[10] Vgl. Bister (2011): Tarifpluralität. S. 40 f.
[11] Delbos, Roland (1970): Tarifkonkurrenz und Tarifeinheit. Inaugural-Dissertation. Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. S. 2.
[12] Bister (2011): Tarifpluralität. S. 42.
[13] Vgl. Bister (2011): Tarifpluralität. S. 42 f.
[14] Ruch, Kristina (2009): Dreiseitige Vereinbarungen. Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat. In: Thüsing, Gregor/Waltermann, Raimund (Hrsg.): Bonner Schriften zum deutschen und europäischen Recht der Arbeit und der Sozialen Sicherheit. Peter Lang GmbH. Frankfurt/Main. S. 162.
[15] Kempen, Otto/Schubert, Jens (2010): Informationen zum Vorschlag von DGB und BDA über die Tarifeinheit. URL: <http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarifpolitik/dgbbda_verdiberater.pdf>; Stand: 30.08.2011. S. 1.
[16] BAG v. 05.09.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 20.03.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736.
[17] Vgl. Bister (2011): Tarifpluralitäten. S. 44 ff.
[18] Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) (ohne Datum): Mitgliederzahlen 2010. URL: <http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/2010>; Stand: 30.08.2011.
[19] dbb beamtenbund und tarifunion (ohne Datum): Der dbb. URL: <http://www.dbb.de/dbb.php>; Stand: 30.08.2011.
[20] Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschland (CGB) (2011): Im Blickpunkt. URL: <http://www.cgb.info/aktuell/imblickpunkt.php>; Stand: 30.08.2011.
[21] Vgl. Hassel, Anke (2003): Organisation. S. 105 f.
[22] Vgl. Mielke, Siegfried (2003): Gewerkschaften. In: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Leske + Budrich. Opladen. S. 230 – S. 237. S. 230 f.
[23] Vgl. Oschminsky, Frank (2010): Die Tarifpolitik. URL: <http://www.bpb.de/themen/6SQZ0E,1,0,Die_Tarifpolitik.html>; Stand: 04.09.2011.
[24] Vgl. Rhode, Wolfgang (2009): Verkauft und Verraten. Wie selbst ernannte „Gewerkschaften“ Arbeitnehmer und ihre Interessen missachten. URL: <http://www.igmetall.de/cps/rde/xbcr/SID-42C661F3-5533B115/internet/docs_ig_metall_xcms_143409__2.pdf>; Stand: 31.08.2011. S. 41 f.
[25] Gewerkschaftspolitischer Informationsdienst (ohne Datum): Interview mit Detlef Lutz zum Tarifabschluss zwischen Nexans und der CGM. URL: <http://www.cgb-nrw.de/dateien/presseinfos/GPI_Interview_Nexans_CGM_mit_Detlef_Lutz.pdf>; Stand: 04.09.2011. S. 1.
[26] Vgl. Behruzi, Daniel (2009): „Gelbe“ Organisationen als kriminelle Lohndrücker. In: Rügemer, Werner (Hrsg.): ArbeitsUnrecht. Anklagen und Alternativen. Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster. S. 114 – 119. S. 116 f.
[27] Wilhelm, Gerhard/Dannhorn, Wolfgang (2006): CGM tariffähig. Neue Möglichkeiten für den Arbeitgeber? In: Arbeit und Arbeitsrecht. Jg. 2006. Heft 6. S. 343 – 345. S. 344.