Kaum eine zwischenmenschliche Beziehung könnte ambivalenter sein, als die von Geschwistern. Streitereien, Raufereien und Konkurrenz sind ebenso ein Teil ihrer alltäglichen Realität, wie das gemeinsame Spielen und Erleben, sowie liebevolle Zuneigung und Pflege.
Neid und Eifersucht, ja sogar Hass können eine Geschwisterbeziehung ebenso prägen wie Vertrauen, Bewunderung und Liebe. Geschwister stellen sich gegenseitig vor immer neue Herausforderungen und lernen durch sie, was es bedeutet zu scheitern, aber auch sich durchzusetzen. Sie sind sich nicht nur räumlich sondern auch emotional durch das Band ihres gemeinsamen Ursprungs außerordentlich nahe und untrennbar miteinander verbunden, zugleich jedoch bestrebt sich zu distanzieren und abzusondern. Dabei bleiben die Eltern zumeist außen vor und agieren mitunter zwar als Schiedsrichter, nicht aber als ebenwürdiger Teil dieses eigenen Mikrokosmus. Sie überstehen dieser eigenen Erfahrungswelt jedoch als Halt und Handlungsmotivation. Ihre Zuneigung, Anerkennung und Aufmerksamkeit ist die Triebfeder und das Damoklesschwert geschwisterlichen Handelns. In Anbetracht dieser scheinbar unerschöpflichen Ressource an Erfahrungen, Emotionen und Herausforderungen, liegt die Vermutung nahe, dass das Aufwachsen mit Geschwistern einen nachhaltig persönlichkeitsprägenden Effekt auf jeden Einzelnen von uns haben muss.
Doch ist dieser Effekt bei allen gleich? Was genau an Geschwistererfahrungen prägt unsere Persönlichkeit? Macht es einen Unterschied ob ich der Erst- oder Letztgeborene von vier Geschwistern bin? Ist es schlecht wenn man keine Geschwister hat oder man nicht mit ihnen gemeinsam aufwächst? Und was, wenn Eltern nicht den Rahmen bieten, der dieser Beziehung seinen nötigen Halt gibt?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Geschwisterforschung - Theoriebildung der Psychoanalyse
Retrospektive
Gegenwärtige Situation
Ausblick
Ich und du, wir und ihr - Bildung des Subjekts in Bezugssystemen
Vertikale
Modell: „Quadrangulierung“
Horizontale
Imaginäre Horizontale
Familiensystem
Einzelkinder
Positions- und Konstellationsforschung – Neubelebung einer ausgedienten Theorie
Resümee
Legitimation
Geschwisterpositionen
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Kaum eine zwischenmenschliche Beziehung könnte ambivalenter sein, als die von Geschwistern. Streitereien, Raufereien und Konkurrenz sind ebenso ein Teil ihrer alltäglichen Realität, wie das gemeinsame Spielen und Erleben, sowie liebevolle Zuneigung und Pflege. Neid und Eifersucht, ja sogar Hass können eine Geschwisterbeziehung ebenso prägen wie Vertrauen, Bewunderung und Liebe. Geschwister stellen sich gegenseitig vor immer neue Herausforderungen und lernen durch sie, was es bedeutet zu scheitern, aber auch sich durchzusetzen. Sie sind sich nicht nur räumlich sondern auch emotional durch das Band ihres gemeinsamen Ursprungs außerordentlich nahe und untrennbar miteinander verbunden, zugleich jedoch bestrebt sich zu distanzieren und abzusondern. Dabei bleiben die Eltern zumeist außen vor und agieren mitunter zwar als Schiedsrichter, nicht aber als ebenwürdiger Teil dieses eigenen Mikrokosmus. Sie überstehen dieser eigenen Erfahrungswelt jedoch als Halt und Handlungsmotivation. Ihre Zuneigung, Anerkennung und Aufmerksamkeit ist die Triebfeder und das Damoklesschwert geschwisterlichen Handelns. In Anbetracht dieser scheinbar unerschöpflichen Ressource an Erfahrungen, Emotionen und Herausforderungen, liegt die Vermutung nahe, dass das Aufwachsen mit Geschwistern einen nachhaltig persönlichkeitsprägenden Effekt auf jeden Einzelnen von uns haben muss. Doch ist dieser Effekt bei allen gleich? Was genau an Geschwistererfahrungen prägt unsere Persönlichkeit? Macht es einen Unterschied ob ich der Erst- oder Letztgeborene von vier Geschwistern bin? Ist es schlecht wenn man keine Geschwister hat oder man nicht mit ihnen gemeinsam aufwächst? Und was, wenn Eltern nicht den Rahmen bieten, der dieser Beziehung seinen nötigen Halt gibt?
Als drittes von vier Kindern, habe ich erleben dürfen, wie es sich anfühlt mit älteren Geschwistern aufzuwachsen und der Kleine zu sein, aber auch wie es als großer Bruder ist. Ich habe erlebt wie anstrengend und nervtötend kleine Brüder sein können, denn ich war selbst einer, aber auch wie stolz es einen macht, bei den Großen mitmischen zu dürfen oder seiner kleinen Schwester als starker, großer Bruder zur Seite stehen zu können. Ich habe beobachtet und miterlebt, was es bedeuten kann seine Eltern nicht nur für sich alleine haben zu können, sondern sie mit anderen teilen zu müssen. Erfahrungen, die mich meiner Überzeugung nach in vielerlei Hinsicht prägten und zu dem Menschen geformt haben, der ich heute bin. Erfahrungen, die meine Geschwister zum großen Teil auch gemacht haben. Zwar nicht an meiner Stelle, sondern in ihrer ganz eigenen Position, jedoch innerhalb derselben Familie. Wenn diese Erlebnisse also solch persönlichkeitsprägender Natur zu sein vermögen, warum sind wir dennoch so verschieden, obwohl wir uns gleichzeitig so sehr ähneln?
Im Rahmen dieser Masterarbeit möchte ich herausfinden, welchen Einfluss das Aufwachsen mit Geschwistern auf die Bildung des Subjekts hat, welche Persönlichkeitseigenschaften daraus entstehen können und welche Rolle die Position innerhalb der Geschwisterkonstellation dabei spielt. Ausgehend davon, dass Geschwisterdynamik ein essentieller Faktor bei der Entwicklung und Bildung des Subjekts ist und die individuelle Position innerhalb der Geburtenreihenfolge, sowie die Geschwisterkonstellation dabei maßgebende Variablen sind, welche bestimmte Eigenschaften und Verhaltensmuster, insbesondere hinsichtlich des Sozialverhaltens determinieren, möchte ich herausfinden, inwiefern Geschwisterdynamik und Geburtenreihenfolge die Bildung des Subjekts beeinflussen.
Lange Zeit, hat sich die traditionelle Geschwisterforschung vorrangig bis ausschließlich mit dem Einfluss von Geschwisterpositionen auf die Persönlichkeitsentwicklung befasst, blieb dabei jedoch umstritten. Dennoch halten sich die Persönlichkeitsbilder von Erstgeborenen, Sandwichkindern und Nesthäkchen im gesellschaftlichen Bewusstsein bis heute. Retrospektive Erhebungen zum qualitativen Verlauf geschwisterlicher Beziehungen ergaben verschiedenste Einschätzungen, die sich wenig systematisiert zeigten und kaum die aktuelle Interaktion zwischen Geschwistern im Kindesalter abzubilden vermochten. Zu häufig bezog man lediglich strukturelle Daten wie Alter bzw. Altersabstand, Geschlecht und Geburtsposition in die Forschung mit ein (Brock 2010, 2). Obgleich jedoch ein Großteil der Risiko- und Schutzbedingungen frühkindlicher Entwicklung auf den innerfamiliären Kontext bezogen ist und dementsprechend familiäre Dynamiken und Prozesse betrifft, beschränkte sich die Forschung bislang auf die Untersuchung einzelner Familienmitglieder oder bestimmter Dyaden, schloss aber nicht das gesamte familiäre Umfeld mit ein (Rollett, Weneck 2002; zit. nach Brock 2010, 3).
Erst um die Jahrtausendwende nahmen die Forschungen hinsichtlich geschwisterlicher Beziehungen zu und gerieten zunehmend in den Fokus. Dennoch gibt es noch immer viele Unstimmigkeiten, Unklarheiten wie auch falsche Tatsachen die dem Umstand geschuldet sind, dass es sich bei Geschwisterbeziehungen im Kontext des Familiensystems um ein hochkomplexes und vielschichtiges Thema handelt, dem man, wenn überhaupt, nur sehr schwer gerecht werden kann. Noch komplizierter wird es, wenn man versucht dieses multifaktorielle Konstrukt in Relation mit Entwicklung und Persönlichkeitsbildung zu setzen. Diese Arbeit erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch dies in vollem Umfang tun zu können, wozu der Rahmen einer auf Literaturrecherche basierenden Masterarbeit ohnehin bei weitem nicht ausreichen würde, jedoch soll sie durch die nähere Betrachtung der, in der Vergangenheit begangenen Fehler, von ihnen lernen; Geschwister in Relation zu den ihnen umgebenden Bezugssystemen stellen und ihre Positionen und Konstellationen unabhängig von statischen und determinierenden Rollenzuschreibungen betrachten. Diese Herangehensweise soll es ermöglichen, einen Eindruck davon zu gewinnen, in welcher Form und welchem Umfang Geschwisterdynamik und Geburtsrangfolge mit der Bildung des Subjekts im Zusammenhang stehen und wie wir mit diesem Wissen umgehen können.
„Unsere Denk- und Gefühlswelt, die individuelle Art, Beziehungen zu gestalten, das Verhalten im schulischen und beruflichen Alltag, die Wahl der Liebespartnerin/des Liebespartners und des Freundeskreises, ja sogar die Wahl des Berufs und der Interessengebiete, der Vorlieben, Abneigungen und Einstellungen hängen ... in einem viel größeren Umfang mit unseren ersten Beziehungspersonen nach den Eltern, den Geschwistern, zusammen, als viele Menschen annehmen“
(Veith 2002; zit. nach Frick 2009, 18).
Geschwisterforschung - Theoriebildung der Psychoanalyse
Obwohl Geschwisterbeziehungen im kulturellen Bewusstsein schon seit jeher eine besondere Rolle einnehmen und das „Image einer besonderen Qualität und Intimität der geschwisterlichen Bindung" (Budden1994; zit. nach Rudeck 2012, 4) schon mit Kain und Abel, Hänsel und Gretel oder den Buddenbrooks, um nur einige wenige zu nennen, in etlichen Epochen Stoff für Lieder, Mythen, Sagen und Literatur bot, ließ die theoriebildende Forschung ihre vermeintliche Wichtigkeit lange Zeit unbeachtet und entdeckte diese erst in jüngerer Zeit für sich. Diesem Umstand ist es ebenso geschuldet, wie der Tatsache, dass es sich hierbei um ein hochkomplexes, teils widersprüchliches Thema handelt, dass es bis heute deutliche Lücken in den bestehenden Theorieansätzen gibt, die zudem auch noch ungenügend vernetzt sind und aufgrund dessen heute mit Nichten von einer eigenständigen Geschwistertheorie die Rede sein kann (Rudeck 2012, 5).
Retrospektive
Im deutlichen Kontrast zum kulturellen Bewusstsein und der täglichen Lebenserfahrung, schenkten weder die Sozialforschung, noch die Kindheits- und Bildungsforschung der Thematik der Geschwisterbeziehung und der Geschwisterdynamik in der Vergangenheit nennenswerte Beachtung. Welche Bedeutung die Geburt eines neuen Geschwisterteils und das gemeinsame Aufwachsen im lebensgeschichtlichen Kontext haben könnten und welche Einflüsse Geschwister aufeinander nehmen blieb weitgehend unerforscht (Brock 2010, 2). Allenfalls fanden Geschwister kurze Erwähnungen, wurden in ihrer Bedeutung aber nicht weiter ausgeführt. Entgegen der Erfahrungen diverser Psychotherapeuten und -therapeutinnen hinlänglich der Tatsache, dass Geschwister in ihrer Bedeutung füreinander häufig sogar vor den Eltern Position bezogen, begegneten sie ihr sogar zum Teil mit Ignoranz und übergingen sie fast vollständig (Sohni 2011, 7).
Nachdem beispielsweise 1939 in England knapp die Hälfte aller Schulkinder mitsamt ihrer Lehrer von den Städten auf das Land verschickt wurden, bezog sich der Bindungstheoretiker John Bowlby später hinsichtlich der Deprivation nicht etwa auf den, von den Lehrern erhobenen Befund, dass die Kinder vor allem ihre Geschwister vermissten, sondern betonte lediglich die zentrale Bedeutung der fehlenden Mutter (Mitchell 2003; zit. nach Sohni 2011, 7). Die Entwicklungspsychologie der Nachkriegszeit fokussierte ihr Interesse folglich vorranging auf die vertikale Eltern-Kind-Beziehung und vermied es, sich der horizontalen Beziehung von Geschwistern untereinander in größerem Maß zu widmen. Noch bis in die 1980er Jahre waren Geschwisterbeziehungen im psychoanalytischen Diskurs nahezu vollständig unbeachtet oder sogar auf ein negatives Potenzial reduziert. Grund dafür war vor allem der Ursprung der Psychoanalyse im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts, das mit seiner bürgerlichen Gesellschaft ein „hierarchisches, patriarchalisches Denken und eine seit dem 17. Jahrhundert überkommende vertikale Sicht auf Kinder aus der Erwachsenenperspektive“ mit sich brachte (Sohni 2011, 9). Siegmund Freud, der als Gründer der Psychoanalyse gilt, durchlebte in seiner eigenen Biographie als Erstgeborener zum Teil traumatische Geschwistererfahrungen (vgl. Sohni 2011, 9ff.), deren Betrachtung nahelegen, dass sich aus ihnen seine negative Sicht auf die Geschwisterdynamik ableitete, die er als eine destruktive und bedrohliche Dynamik wahrnahm (Sohni 2011, 13) und somit entscheidend dazu beitrug, dass sie im psychoanalytischen Diskurs derart abgewertet und übergangen wurde. Es gelang Freud nicht, mit dem Instrument der Selbstanalyse, den eigenen Geschwisterkomplex zu lösen und zu bewältigen, was ihn dazu bewegte, diesen aus seiner eigenen Biographie zu retuschieren und sein theoretisches Konzept lediglich auf die vertikale Eltern-Kind-Achse zu beschränken. Offenbar hielt er die destruktive Dynamik seiner eigenen traumatischen Erfahrungen fälschlicher Weise für allgemeingültig (ebd.). So schrieb er:
„Seine Geschwister liebt das kleine Kind nicht notwendigerweise, oft offenkundig nicht. Es ist unzweifelhaft, dass es in ihnen seine Konkurrenten hasst, und es ist bekannt, wie häufig diese Einstellung durch lange Jahre bis zu der Reife, ja noch späterhin ohne Unterbrechung anhält. Sie wird ja häufig genug durch eine zärtlichere abgelöst oder sagen wir lieber: überlagert, aber die feindselige scheint sehr regelmäßig die frühere zu sein. Am leichtesten kann man sie an Kindern von 2[1]/[2] bis 4 und 5 Jahren beobachten, wenn ein neues Geschwisterchen dazukommt“ (Freud 1916; zit. nach Sohni 2011, 14).
Obgleich er überdies betont, dass er es als hochinteressant erachte, kleine Kinder und ihr Verhältnis zu ihren jüngeren Geschwistern zu beobachten, so fügt er doch hinzu, diese Gelegenheit bei den eigenen Kindern versäumt zu haben und bringt sich damit hinsichtlich seiner Aussagen zu Geschwisterbeziehungen zunehmend in Erklärungsnot, da er wiederholt damit ringt, diese überhaupt ausreichend belegen zu können (Sohni 2011, 14).
Unter diesem Blickwinkel fällt auf, dass Freud damit einerseits einen maßgeblichen Teil der Ursache für den in der Vergangenheit vorherrschenden, mangelnden Diskurs bezüglich der Geschwisterdynamik und ihrer Auswirkungen darstellt, zum anderen aber auch zugleich Paradebeispiel für ihre Wichtigkeit und ihren Einfluss ist und damit aufzeigt welche Auswirkungen Geschwisterdynamik tatsächlich auf das eigenen Wesen, also auf das Subjekt und seine spätere Handlungsmotivation haben kann.
Trotz des zögerlichen Fortschritts in der Geschwisterforschung, gab es auch Kontroversen zu Freuds Sichtweise. So war Alfred Adler, der zeitweilig als Freuds Mitstreiter galt und später in Konkurrenz zu jenem Stand, der erste Psychologe, der sich bereits Mitte der 1920er Jahre näher mit der Geschwisterthematik und dem Einfluss ihrer Positionen in größerem Ausmaß beschäftigte. Er kann somit durchaus als „Vater der Geschwisterforschung“ betrachtet werden (Frick 2009, 24). Adler vertrat die Meinung, das Kind käme nicht etwa als jenes egoistisches Wesen zur Welt, welches sich aus Freuds Erläuterungen erschließen ließ, sondern mit einem angeborenen Gemeinschaftsgefühl (Adler 1933; zit. nach Sohni 2011, 18). Durch Gegenstimmen wie dieser, die bereits einen ersten Schritt hin zum Verständnis dessen machten, was wir heute als Geschwisterdynamik betrachten, bildeten sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in der bisherigen Theoriebildung zur Geschwisterlichkeit drei gedankliche Linien heraus, die im Folgenden dargestellt werden sollen (Rudeck 2012, 5):
Die sogenannte „Postitions- bzw. Konstellationsforschung“ beispielsweise, begann als sehr statisch orientierte Forschung, deren Fokus auf dem Einfluss von Geburtenfolge und Geschwisterkonstellation, auf die Entwicklung der Persönlichkeit lag. Im Zuge dessen wurde bis in die 70er Jahre versucht, Geschwisterbeziehungen hinsichtlich des Alters und der Anzahl der Geschwister, sowie ihrer Stellung in der Geschwisterreihe zu untersuchen (ebd.). Die Hypothesen jener Zeit, gingen diesbezüglich davon aus, es gäbe einen Zusammenhang zwischen den besagten Variablen und z.B. dem Intelligenzquotienten eines Geschwisterteils oder aber bestimmten Persönlichkeitsbildern. Karl König, ein vornehmlich heilpädagigisch orientierter Author, beschäftigte sich beispielsweise während der 50er Jahre mit dem Zusammenhang zwischen sozialen Fähigkeiten und der Position innerhalb der Geburtsrangfolge (Frick 2009, 25). Er ging davon aus, die Anzahl der Geschwister spiele eine entscheidende Rolle und die Persönlichkeitsbilder des Erstgeborenen, des sogenannten Sandwichkindes und des Nesthäkchens, würden sich ab dem vierten Geschwisterteil in eben jener Reihenfolge wiederholen (König 2008, 14). Käme es zum Verlust eines der Geschwister, beispielsweise durch seinen Tod, so würde das in der Geschwisterreihe vor ihm stehende, jüngere Geschwisterteil eine Position aufrücken und die nun unbesetzte Stellung in der Reihe stellvertretend einnehmen. Die Folge, so König, sei bei den teils stark konträren Persönlichkeitsbildern bestimmter Stellungen in der Geschwisterfolge, ein tiefer innerer, seelischer Konflikt, der nicht selten zu psychischen Erkrankungen führen könne. Die Reliabilität seiner Thesen zur Korrelation sozialer Fährigkeiten mit der Position innerhalb der Geschwisterkonstellation, dürfte jedoch hinsichtlich der lediglich 150 von ihm dazu untersuchten Personen als eher gering betrachtet werden (Frick 2009, 25).
Warum man bei der damaligen Forschung zum einen von einer statischen sprechen kann, zum anderen von einer noch zu oberflächen, wird hier besonders deutlich und zeigt auf, wie eindimensional das Thema betrachtet wurde. Erst in den 80er Jahren wurden weitere Faktoren wie die Familienstruktur, der sozioökonomische Status der Familie, oder das Erziehungsverhalten der Eltern und der Einfluss jener mit einbezogen. Und auch eine in den Vordergrund tretende, auf Entwicklung und Dynamik fokussierte Beziehungsforschung, machte zunehmend die Mehrdimensionalität des Themas deutlich (Rudeck 2012, 5).
Darüber hinaus, machte die zuvor beschriebene Theoriebildung bezüglich der Eltern-Kind Beziehung einen Fortschitt hin zu interpersonalen Ansätzen. So war, wie bereits im Vorfeld angedeutet, die psychologische Theoriebildung vorerst lediglich auf das Kind fokussiert. Es folgte die Erweiterung der Betrachtung auf die vertikale Eltern-Kind-Beziehung und mit ihr ein ganz besonderes Interesse an der Mutter-Kind Beziehung.
Erst seit den 1980er Jahren, nach ein Einbezug der vertikalen Triade zwischen Eltern und ihrem ersten Kind und später der horizontalen Triade zwischen Geschwistern und Eltern, also der Familie als Bezugssystem, erlaubt uns die psychoanalytische Theorie inzwischen einen umfangreicheren Blick auf Geschwisterbeziehungen (Sohni 2011, 21) und die damit einhergehende Persönlichkeitsentwicklung. Etwas, was durch Freuds Fokus auf die Elter-Kind-Beziehung und die ödipale Entwicklung zur damaligen Zeit kaum denkbar war (Sohni 2011; zit. nach Rudeck 2012, 5). Fälschlicherweise wurde dieser komplexer werdende Prozess der Theoriebildung, von einigen Forschern als Schrittfolge der psychischen Entwicklung selbst gesehen (Sohni 2011, 17).
Anstelle der intrapsychischen Dimension des Freud’schen Sturkturmodells der Persönlichkeitsforschung (ebd.), folgte schließlich der allmähliche Einbezug der interpersonalen Dimension und der wechselseitigen, gleichwertigen Beziehung und mit ihm auch der entgültige Wandel einer vertikalen zur horizontalen Sichtweise. Hegel (1980; zit. nach Sohni 2011,19) führte hierzu einen ersten philosophischen Entwurf an, in welchem Geschwisterlichkeit für ihn den Prototypen wechselseitiger Beziehungen darstellte. Dieser Ansatz lieferte mitunter den wohl wichtisten Impuls der Psychoanalyse, um sich der Geschwisterdynamik zuzuwenden. Das Generationenverhältnis, welches lange Zeit im Vordergrund stand, aber Familien- und bindungstheoretische Ansätze nur vertikal betrachtete und dabei den Begriff der ‚Bindung’ bei der Eltern-Kind Beziehung verortete, im gleichen Zuge jedoch nur den der ‚Beziehung’ als Qualitätsmerkmal von Geschwisterlichkeit zuließ, sollte schließlich durch die bislang vernachlässigte, horizontale Generationsebene ergänzt werden (Rudeck 2012, 5). Folglich kam mit dieser erweiterten Sichtweise der Geschwisterbeziehung in der Theoriebildung eine völlig neue Bedeutung zu, welche Sohni (1998; 2011; zit. nach Rudeck 2012, 5) als wichtigstes Erfahrungsfeld für den Übergang aus der Eltern-Kind Beziehung in die Beziehung mit Gleichstarken und Gleichberechtigten bezeichnet.
Gegenwärtige Situation
Ein entscheidender Punkt, welcher die Theoriebildung der Geschwisterforschung noch um ein Vielfaches komplexer, wie auch beachtungswürdiger macht, ist das Verständnis des Begriffes der ‚Geschwisterlichkeit’ an sich. Ging man, wie bereits angedeutet, vor 250 Jahren, also vor der allmählichen Herausbildung der modernen Familie, noch nicht von der Geschwisterbeziehung im Sinne einer „persönlichen Beziehung“ aus, sondern lediglich von einem biologischen Verwandtschaftsgrad (Nave-Herz 2009; zit. nach Rudeck 2012, 4), so ist das heutige Verständnis dessen inzwischen längst nicht mehr so eindimensional, sondern wesentlich vielfältiger. Zunehmend unkonventionelle Familienstrukturen, wie Patchwork-Familien mit Halb- und Stiefgeschwistern, Pflege- oder Adoptivkindern, sowie eine wachsende kulturelle Vielfalt durch Migration und Globalisierung fördern dieses vielfältigere Verständnis von Geschwisterlichkeit und machen es gleichwohl notwendig es zunehmend von biologischen Merkmalen zu lösen und es als soziales Konstrukt und gesellschaftliche Konvention zu verstehen, in der das alltägliche, gemeinsame Erleben und Erfahrungen Machen im intimen Kontext von entscheidender Bedeutung ist (Rudeck 2012, 4f.).
Geschwisterlichkeit kann nicht alleine auf dem Fundament genetischer Verwandtschaft betrachtet werden. Dies wird zum einen in Anbetracht anderer Kulturen deutlich, welche zum Teil ein ganz anderes Verständnis dessen haben, was wir als Geschwisterlichkeit verstehen, zum anderen im Hinblick auf den Sprachgebrauch, der selbst in Europa signifikante Unterschiede aufzeigt. So sind beispielsweise die Begriffe „Bruder“ und „Schwester“ lediglich in einem Fünftel aller Kulturen üblich (Thimm 2007; zit. nach Rudeck 2012, 4). Im indoeuropäischen Raum bedeuten sie eine brüderliche oder schwesterliche Zusammengehörigkeit in der sozialen Gemeinschaft, nicht aber einen biologischen Verwandschaftsgrad (Sohni 2004, 12). Letzteres Verständnis geht auf die Griechen zurück, welche als erste mit dem Wort „adelphós“ bzw. „adelphi“, also „demselben Mutterleib entstammend“, einen Geschwisterbegriff verwendeten, der eine leibliche Verwandschaft implizerte (Kannicht 2000; zit. nach Sohni 2004, 12). Besonders bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass hier für Bruder und Schwester dasselbe Wort verwendet wurde und die Unterscheidung der Geschlechter lediglich durch die verschiedenen Endungen stattfand. Ein Umstand der, so schlussfolgert Sohni (2004,13): „die Unterschiedlichkeit und die Nähe zwischen Geschwistern zum Ausdruck [bring] , was unser Begriff ,Geschwister’ nicht im gleichen Maße vermag“. Wieder anders verhält es sich mit der französischen Sprache, in der es beispielsweise keine, dem deutschen Wort „Geschwister“ entsprechende Übersetzung, dafür aber eine begriffliche Unterscheidung für Halbgeschwister mütterlicher-, sowie väterlicherseits gibt. Diese Betrachtung des Geschwisterbegriffs im Sprachgebrauch unserer Kultur und jener in anderen Kultueren, macht deutlich, dass kein einheitlicher Begriff für Geschwister existiert, nicht einmal innerhalb unserer Nachbarländer (ebd.). Wer als Geschwisterteil angesehen wird oder welche Position jemand in der Familie inne hat, entscheidet jede Kultur für sich (Nave-Herz 2009; zit. nach Rudeck 2012, 4) und macht dies, je nach sozialem Kontext, zum Teil bereits im Geschwisterbegriff mit den Bezeichnungen „mein jüngerer Bruder“ oder „deine nach dir geborene Schwester“ deutlich (vgl. Sohni 2004,13). Ob es sich dabei tatsächlich um biologische Geschwister handelt, um Cousinen oder Cousins oder gar nichtbiologisch Verwandte und andere Personen, ist dabei in vielen Kulturkreisen von geringerer Bedeutung als jener Prozess des gemeinsamen Aufgewachsens und des miteinander Teilens der eigenen Lebenserfahrungen (Kasten 2003; Sohni 2011; zit. nach Rudeck 2012, 4). Die westafrikanischen Dogon beispielsweise, sprechen bereits von Angehörigen der gleichen Generation als „Brüder“ (Parin 1996; zit. nach Sohni 2011, 35). Und auch Menschen in Namibia, wie auch in Indonesien sprechen bei „Geschwistern“ nicht zwangsläufig von biologisch verwandten Geschwisterteilen, sondern ebenso von Menschen mit denen sie gemeinsam aufwuchsen (Sohni 2011, 36). Überdies kann die Wichtigkeit von Geschwisterlichkeit innerhalb des Familiensystems verschiedener Gesellschaften variieren und so beispielsweise dazu führen, dass Geschwister einen bedeutenderen Rang als die Eltern selbst einnehmen (Sohni 2011; zit. nach Rudeck 2012, 4). Geschwisterschaft kann also kulturell übergreifend nicht allein auf genetisch-biologischer Ebene betrachtet werden, sondern muss durchaus auch von einem institutionell-sozialen Standpunkt betrachtet werden. Letzteres nimmt insbesondere in nicht-westlichen Gesellschaften den größeren Stellenwert ein (Sohni 2011, 36).
Obwohl ein Großeteil psychoanalytischer Theorien häufig den Eindruck erweckt, bei Entwicklung ginge es lediglich um einen progressiven Prozess hin zur Individuation und damit um das Erstreben des Getrenntseins von anderen, sollte unser Verständnis ein anderes sein. Dieses kulturspezifische Verständnis, das besonders in abendländischen Kulturkreisen verbreitet ist, gesteht nicht nur Autonomie einen höheren Stellenwert zu, da soziale Verbundenheit häufig als „Abhängigkeit“ missverstanden wird, sie wird darüber hinaus auch noch fälschlicher Weise als allgemeingültig betrachtet (Sohni 2011, 18).
Schon lange fordern Kritiker dieser westlichen Denkart ein Konzept der „Wir-heit“, die das Selbst eher als ein, wie in der japanischen Kultur, relationales und abhängiges Selbst begreift, oder ähnlich dem Verständnis afrikanischer Kulturkreise nicht als ein, mit einem anderen Individuum korresponidierenden Selbst, sondern mit einer ganzen Gruppe. Eine dahingehende Umorientierung der, noch immer auf die Selbst-Psychologie konzentierten Psychoanalyse, würde auch einen Wandel in unserer Weltsicht bedeuten, was die Beschreibung geschwisterlichen Zusammenspiels erleichtern würde. Ungeachtet dessen, wen wir als unsere Geschwister bezeichnen und wie genau wir mit ihnen aufwachsen, ist unser heutiges, schrittweise entstandenes Verständnis von menschlicher Persönlichkeit und Identität in jedem Fall ein interpersonales, welches von einer Entwicklung miteinander ausgeht und in welcher Autonomie und Individualisierung ebenso entstehen, wie Beziehungsfähigkeit (ebd.).
Geschwisterbeziehungen ändern sich innerhalb verschiedener Lebensphasen immer wieder, je nachdem, welchen Herausforderungen psychosozialer Integration sie ausgesetzt sind:
„In der geschwisterlichen Bezogenheit gestaltet sich eine basale horizontale Beziehungserfahrung in dem Wunsch, sich sowohl voneinander zu unterscheiden als auch einander ähnlich zu sein“ (Sohni 2004, 11).
Unser heutiges Verständnis der Psychodynamik, die hinter der Geschwisterbeziehung steht, umfasst, wie bereits angedeutet, etliche Faktoren und ist weit von dem entfernt, was noch vor wenigen Jahrzenten mit ihr in Verbindung gebracht wurde. Nicht nur die individuelle Entwicklung, sondern die Gesamtfamilie als interpersonale Einheit, einschließlich des vertikalen Eltern-Kind-, sowie dem horizontalen Geschwister-Zusammenspiels, stellen eine nebeneinander stattfindende, multiple und wechselseitig Beeinflussung dar (ebd.):
„Geschwister unterstützen sich nicht nur in ihrer jeweiligen individuellen Entwicklung, sondern die basalen Lebenserfahrungen von Geschwistern sind interpersonal-horizontale Beziehungserfahrungen“ (Sohni 2004, 12).
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