Eine Beschäftigung mit Friedrich Wilhelm Nietzsches Werk, die sich einzig auf die Auseinandersetzung des Philosophen mit Fragen der Politik konzentriert, stößt nach bewegten mehr als 100 Jahren der Wirkungsgeschichte zunächst noch immer auf einen deutlichen Vor-behalt. War es nicht Nietzsche, der durch sein schriftliches Erbe dem europäischen Faschis-mus im Allgemeinen und dem deutschen NS-Regime im Speziellen das Fundament lieferte, auf dessen Grund wie auch immer entartete „Herrenrassen“ unfassbare Verbrechen an der menschlichen Welt anrichteten? Lieferte er nicht die Idee für den arischen Wahnsinn einer rassistischen Züchtung blonder Bestien zur Herrschaft über die Sklaven dieser Welt? War er also, in aller Kürze zusammengefasst, ein avantgardistisch-faschistischer politischer Philo-soph?
Diese Arbeit sucht Nietzsches Werke nach ihren politische Implikationen ab und versucht diese darzustellen, wobei das Augenmerk insbesondere dem ACHTEN HAUPTSTÜCK aus JENSEITS VON GUT UND BÖSE und den Kapiteln VOM NEUEN GÖTZEN und VON GROSSEN EREIGNISSEN aus ALSO SPRACH ZARATHUSTRA gilt.
Wir wollen dabei von der These ausgehen, dass Nietzsche anstatt einer ausgewachse-nen Politiklehre zu Reaktionen auf das Politische neigt, zu nicht systematisierten aber reflek-tierten Antworten auf politische Fragen. Er ist Kritiker der Politik ohne konzipierten Gegen-entwurf, und viel mehr noch: Er unterwirft das Politische – allein deshalb schon ist er kein politischer Philosoph – unter sein Konzept großer Kultur.
Von dieser Position aus betrachtet wird die vorliegende Arbeit zunächst Nietzsches Angriffspunkte extrapolieren (2) (Nationalismus, Deutschtum, Demokratie, Staatlichkeit, Revolutionsstreben, Antisemitismus). Sodann stellt sich die Frage, welche Forderungen Nietzsche aufstellt (3) (Europäismus, Herrschafts- und Hierarchieapologie, Züchtung). In aller gebotenen Kürze der Arbeit ist somit eine Verdeutlichung von Nietzsches politischen „Einzel-posten“ möglich, bei der es sich schlussendlich jedoch fragt, welchen Wert die Nietz-scheschen Positionen beim Nachdenken über das politische menschliche Zusammenleben beanspruchen können.
INHALTSVERZEICHNIS
1 Nietzsche und das Politische
2 Nietzsches Reaktion auf die Politik der Moderne
2.1 Nationalismus als anachronistische Geistesverengung
2.2 Deutsche Nation als Exponentin des modernen Verfalls
2.3 Volksherrschaft als Ausdruck pervertierter Machtverhältnisse
2.4 Staat als Herrschaftsinstrument der Überflüssigen
2.5 Revolution als Auswuchs des Ressentiments
2.6 Juden als unentbehrliche Rasse für den „Rassisten“ Nietzsche
3 Nietzsche und die Vision einer Renaissance der Herrenmoral
3.1 Nietzsches europäische Vision
3.2 Apologie der Herrschaft
3.3 Nietzsche als Menschenzüchter
4 zwei Seiten des Politischen BEI NIETZSCHE
1 Nietzsche und das Politische
Eine Beschäftigung mit Friedrich Wilhelm Nietzsches Werk, die sich einzig auf die Auseinandersetzung des Philosophen mit Fragen der Politik konzentriert, stößt nach bewegten mehr als 100 Jahren der Wirkungsgeschichte zunächst noch immer auf einen deutlichen Vor-behalt. War es nicht Nietzsche, der durch sein schriftliches Erbe dem europäischen Faschis-mus im Allgemeinen und dem deutschen NS-Regime im Speziellen das Fundament lieferte, auf dessen Grund wie auch immer entartete „Herrenrassen“ unfassbare Verbrechen an der menschlichen Welt anrichteten? Lieferte er nicht die Idee für den arischen Wahnsinn einer rassistischen Züchtung blonder Bestien zur Herrschaft über die Sklaven dieser Welt? War er also, in aller Kürze zusammengefasst, ein avantgardistisch-faschistischer politischer Philo-soph?
Diese Arbeit kann über solcherlei Einwände dank der differenzierten Auseinander-setzung der letzten 50 Jahre hinausgehen. Nein, Nietzsche war kein „Nazi“, kein antisemi-tischer Rassist. Er hat keinen Versuch einer systematischen Begründung entsprechender po-litischer Regimes auch nur angedeutet. Viel mehr noch: Er besaß gar keine abgeschlossene politische Philosophie,[1] er war kein Theoretiker, der aktiv Politik zu gestalten trachtete.[2]
Obwohl der Denker nicht einmal in Ansätzen zu einem konsistenten Entwurf einer politischen Philosophie durchdrang, stand er aber doch im Verhältnis zum Politischen – und dies auch sehr dezidiert.
Diese Arbeit sucht Nietzsches Werke nach ihren politische Implikationen ab und versucht diese darzustellen, wobei das Augenmerk insbesondere dem Achten Hauptstück aus Jenseits von Gut und Böse und den Kapiteln Vom Neuen Götzen und Von Grossen Ereignissen aus Also Sprach Zarathustra gilt.
Wir wollen dabei von der These ausgehen, dass Nietzsche anstatt einer ausgewachse-nen Politiklehre zu Reaktionen auf das Politische neigt, zu nicht systematisierten aber reflek-tierten Antworten auf politische Fragen. Er ist Kritiker der Politik ohne konzipierten Gegen-entwurf, und viel mehr noch: Er unterwirft das Politische – allein deshalb schon ist er kein politischer Philosoph – unter sein Konzept großer Kultur.
Von dieser Position aus betrachtet wird die vorliegende Arbeit zunächst Nietzsches Angriffspunkte extrapolieren (2) (Nationalismus, Deutschtum, Demokratie, Staatlichkeit, Revolutionsstreben, Antisemitismus). Sodann stellt sich die Frage, welche Forderungen Nietzsche aufstellt (3) (Europäismus, Herrschafts- und Hierarchieapologie, Züchtung). In aller gebotenen Kürze der Arbeit ist somit eine Verdeutlichung von Nietzsches politischen „Einzel-posten“ möglich, bei der es sich schlussendlich jedoch fragt, welchen Wert die Nietz-scheschen Positionen beim Nachdenken über das politische menschliche Zusammenleben beanspruchen können.
2. NIETZSCHES REAKTION AUF DIE POLITIK DER MODERNE
2.1. Nationalismus als anachronistische Geistesverengung
Um den Vorwurf einer ideologischen Grundlage für Nationalsozialisten aus Nietz-sches Gedanken abweisen zu können, genügt schon seine Auseinandersetzung mit nationa-listischem Gedankengut. Der Philosoph betrachtet seine zeitgenössische Umwelt und erkennt eine zunehmende Nationalisierung, nicht zuletzt auf Grund der vollzogenen deutschen Reichsgründung 1871 und ihrer Auswirkungen auf ganz Europa. Im Rahmen der absoluten Forderung nach schöpferischem Dasein und individueller Sinnstiftung kann die Nation nicht die Antwort sein. Vielmehr ist der Nationalismus eine Entartungsform der Zurückgebliebenen und ein Teil der dekadenten Modernität.[3] Nationalismus ist den Problemen der Zeit nicht angemessen und eine anachronistische Störung des Geistes. Das Denken in nationalistischen Kategorien ist eng, ein unredlicher „Rückfall in alte Lieben und Engen“[4] – und damit liegt es bereits im offenen Widerspruch zu Nietzsches Streben nach größtmöglicher Zahl der Perspek-tiven, die jeder Einzelne suchen soll – „the capacity to accomodate ever greater degrees of difference, opposition and contradiction within one’s soul“[5]. Proportional mit dem anstei-genden Grad geistig-kultureller Verödung steigt auch die Unfähigkeit der dumpfen Rassen, ihre Nationalität zu überwinden. Der literarische Nietzsche stellt Nationalisten als schwerhörige Schreihälse dar – sie verstehen nichts, proklamieren ihre Überzeugung aber um-so lauter.[6] Eine Politik in diesem Gewand korrumpiert ganze Völker, verengt Geist und – für Nietzsche als Ästheten von Brisanz - Geschmack gleichermaßen. Es kommt zu „nationalem Nervenfieber“[7] und der Verdummung des ganzen Volkes, wenn der überaus künstlichen Definition einer Nation eine auf sie bezogene politische Ideologie folgt. Nationen sind aber doch nichts Gewachsenes und stehen im begrifflichen Widerspruch zur Qualität einer Rasse.[8] Nietzsche diagnostiziert den zeitgenössischen Nationalismus ohne Umschweifungen als krankhaft, ja als wahnsinnig. In seinen Auswirkungen ist dieses Leiden fatal, führt es doch zu einer erheblichen Entfremdung zwischen den nachbarschaftlichen Völkern auf dem europä-ischen Kontinent.[9]
2.2. Deutsche Nation als Exponentin des modernen Verfalls
Als Drahtzieher einer atavistischen Nationalisierung hat Friedrich Nietzsche die Deutschen ausgemacht. Spätestens hier zerbricht die ohnehin wackelige Stütze für jene Interpreten, denen Nietzsche als Apostel des NS-Regimes galt. Nicht allein die unsägliche Gegenwart des deutschen Volkes als Zeugnis genügt seiner Kritik, er hinterfragt aus dieser Perspektive gar ihre historische Tiefe.[10] Er rekurriert auf die deutsche Seele, um anhand einer Vivisektion derselben festzustellen, dass es sich um ein unsägliches Gemisch handelt. Das deutsche „ist ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen [...] [ein, T.F.] Volk der Mitte.“[11] Der Vorwurf des „Chinesentums“ (China als Reich der Mitte), der Vermassung und Vermittelmäßigung der deutschen Seele, wohnt diesem Zitat unverkennbar inne. Und so verwundert die Diagnose nicht, dass die Deutschen eine bäurische Gleichgültigkeit gegenüber Fragen des Geschmacks aufweisen.[12] Schon hier offenbart sich der übergeordnete Rang der Kultur in Nietzsches Auseinandersetzung mit im weitesten Sinne politischen Fragen, denn aus der Unfähigkeit der Deutschen, richtig, laut und zügig-rhythmisch zu lesen, aus ihrem Verlust des Gefühls für Kunst, aus ihrer kritischen Annäherung und Detailversessenheit in der Ästhetik folgt eine abwertende Haltung gegen den Nationalismus deutscher Ausprägung.[13] Wer große Politik möchte, kann nicht deutsch denken – denn die Deutschen sind die verspätete Nation.[14]
2.3. Volksherrschaft als Ausdruck pervertierter Machtverhältnisse
Die Demokratisierung der Gesellschaft und die Politisierung der Völker sind für Nietzsche herausragende Erscheinungen der dekadenten Modernität – und eindrucksvolle Beispiele der Vermassung seiner Zeit. Zunächst gilt es nun noch einmal festzuhalten, dass sowohl Individualität - bis zur leidvollen individuellen Selbstüberwindung gesteigert - als auch ein organisch-gesundes Verhältnis aus Herrschaft und Gehorsam für Nietzsches Moral- wie Gesamtphilosophie höchste Priorität beanspruchen. Nietzsche bekennt sich deutlich zum Gedanken einer Platonischen Hierarchie.[15] Demokratisierung der Gesellschaft, d.h. ständige Bezugnahme auf die Konstruktion einer Allgemeinheit im Rousseauschen oder verwandten Sinne, ist Gegenbegriff zur schrankenlosen Entfaltung des Individuums.[16] Die Demokratie zielt immer auf das Gemeinwohl – zu Lasten der herausragenden Individuen.
Wer ist nach den Regeln der Demokratie ein großer Staatsmann? Nietzsche nennt den Politiker, der, um dem Publikum Sympathie zu entlocken, große Versprechungen macht, wäh-rend die Größe des Gedankens mehr und mehr ins Abseits gerät.[17] Große Politik wird syste-matisch verhindert, wenn alles ausgerichtet ist auf das Votum der Massen, die wiederum zu solchem politischem Urteil nicht geeignet sind – das Volk hätte doch eigentlich Besseres zu tun, als Politik zu machen.[18] Und so nimmt eine Abhängigkeit der Herrschaft vom Mittelmaß ihren Lauf, die zum Kollaps schöpferischer Freiheit[19] und zur Substitution alter Tugenden durch Mediokrität führen muss.[20] Wie eine Schafsherde ohne Hirten treibt ein sich selbst regierendes Gemeinwesen in die tiefste politische Krise, in einen unnatürlichen Zu-stand der Herrschaftslosigkeit und seine Politiker in die Hörigkeit gegenüber ochlokratischen Geschmackskundgebungen.[21] Die Vordenker der Demokratie, als solcher beispielsweise John Stuart Mill, erkennen (sie schaffen nicht!) mittelmäßige Wahrheiten für mittelmäßige Geister mit fatalen Folgen für die Kultur in ihrem Wirkungskreis.[22] Alles wird auf das niedrigste Niveau hinabgerissen, der Gleichheitsanspruch reüssiert. In diesem Zusammenhang offenbart sich die Demokratie als Sammelbecken, das neben Liberalisten auch den vom Gleichheits-ideal getriebenen Sozialisten und den herrschaftsnegierenden Anarchisten Freiraum gewährt. Aus seiner Machtphilosophie muß Nietzsche die Grundfesten aller dieser Weltanschauungen zurückweisen: Gleichheit verhindert größere Menschen und ein gesundes organisches Machtverhältnis.
[...]
[1] vgl. Lieber 1993: 900ff.
[2] vgl. Kunnas 1982: 9ff.
[3] vgl. Kunnas 1982: 132f.
[4] JGB: 241.
[5] Conway 1997: 68.
[6] Vgl. JGB: 241.
[7] JGB: 251.
[8] Vgl. JGB: 251.
[9] Vgl. JGB: 256.
[10] Vgl. JGB: 244.
[11] JGB: 244.
[12] vgl. JGB: 244.
[13] vgl. JGB: 246 und 247.
[14] Vgl. Ottmann 1987: 241.
[15] Vgl. Ottmann 1987: 293.
[16] Vgl. Kunnas 1982: 44ff.
[17] vgl. JGB: 241.
[18] Vgl. JGB: 241.
[19] Vgl. Kunnas 1982: 45.
[20] Vgl. JGB: 241.
[21] Vgl. Conway 1997: 37.
[22] Vgl. JGB: 253.