Platons „Politeia“ beinhaltet verschiedene Dialoge zwischen Sokrates und diversen Diskussionspartnern, die um die Erscheinungen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit kreisen. In den Unterredungen soll einerseits die Frage geklärt werden, was das Wesen der Gerechtigkeit sei und andererseits, inwieweit sie dem Menschen gegenüber der Ungerechtigkeit Nutzen bringe. Sokrates tritt als Verteidiger der Gerechtigkeit auf und hofft diese zwei Fragen beantworten zu können, indem er Staat und Seele, die man beide im allgemeinen mit der Eigenschaft „gerecht“ belegt, auf Wesen und Nutzen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit darin untersucht.
Ausgehend von der einfacheren Erkennbarkeit am größeren Objekt widmet er sich mit diesen Fragestellungen zunächst der Untersuchung des Staates. Dabei vermutet er, dass die Gerechtigkeit bei der Gründung eines fiktiven idealen Staates am deutlichsten zum Vorschein komme. In einer Art Gedankenexperiment baut Sokrates einen solchen auf, modifiziert ihn im weiteren Dialog und vergleicht ihn dann mit dem „kleineren“ Objekt, der menschlichen Seele. Dieser Vergleich soll, so Sokrates, „wie aus Feuerhölzern die Gerechtigkeit aufleuchten lassen“, d.h. deren Wesen offenbaren. Tatsächlich erscheint mit Hilfe dieser Untersuchung die Gerechtigkeit als charakteristische Ordnung im Staat und analog dazu in der Seele des Menschen, die als einzige Staat und Mensch zum Glück, die Ungerechtigkeit entsprechend als Unordnung, die zu größtem Unglück führt.
Der erste Teil der Arbeit wird den Versuch der Diskussionspartner nachzeichnen, Gerechtigkeit zu definieren, bis zu dem Punkt, an dem Sokrates den Vergleich von Staat und Seele für seine Argumentation zu Rate zieht. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Ähnlichkeiten zwischen Staat und Seele, die Sokrates herausarbeitet, um sein neues Gerechtigkeitsmodell vorzustellen. Auf einige problematische Aspekte der sokratischen Argumentation, die die Forschung schon viele Jahre beschäftigen, wird im dritten Teil der Arbeit eingegangen.
Inhalt
1. Einleitung: Gerechtigkeit und der Vergleich von Staat und Seele
2. Hauptteil: Ein neues Gerechtigkeitskonzept
2.1. Gerechtigkeitsdefinitionen
2.2. Die Analogie: Der gerechte Staat und die gerechte Seele
2.2.1. Der gerechte Staat
2.2.2. Die gerechte Seele
2.2.3. Die ungerechte Seele
3. Schluss: Gerechtigkeit in Staat und Seele
4. Drei argumentative Auffälligkeiten in Platons Politeia
4.1. Kann man Staat und Seele miteinander vergleichen?
4.2. Ist der gereinigte Staat gut und gerecht?
4.3. Haben Staat und Seele denselben Aufbau?
4.4. Norbert Blößners Erklärungsversuch
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Gerechtigkeit und der Vergleich von Staat und Seele
Platons Politeia beinhaltet verschiedene Dialoge zwischen Sokrates und diversen Diskussionspartnern, die um die Erscheinungen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit kreisen. In den Unterredungen soll einerseits die Frage geklärt werden, was das Wesen der Gerechtigkeit sei und andererseits, inwieweit sie dem Menschen gegenüber der Ungerechtigkeit Nutzen bringe. Sokrates tritt als Verteidiger der Gerechtigkeit auf und hofft diese zwei Fragen beantworten zu können, indem er Staat und Seele, die man beide im allgemeinen mit der Eigenschaft „gerecht“ belegt, auf Wesen und Nutzen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit darin untersucht. Ausgehend von der einfacheren Erkennbarkeit am größeren Objekt widmet er sich mit diesen Fragestellungen zunächst der Untersuchung des Staates. Dabei vermutet er, dass die Gerechtigkeit bei der Gründung eines fiktiven idealen Staates am deutlichsten zum Vorschein komme. In einer Art Gedankenexperiment baut Sokrates einen solchen auf, modifiziert ihn im weiteren Dialog und vergleicht ihn dann mit dem „kleineren“ Objekt, der menschlichen Seele. Dieser Vergleich soll, so Sokrates, „wie aus Feuerhölzern die Gerechtigkeit aufleuchten lassen“, d.h. deren Wesen offenbaren. Tatsächlich erscheint mit Hilfe dieser Untersuchung die Gerechtigkeit als charakteristische Ordnung im Staat und analog dazu in der Seele des Menschen, die als einzige Staat und Mensch zum Glück, die Ungerechtigkeit entsprechend als Unordnung, die zu größtem Unglück führt.
Der erste Teil der Arbeit wird den Versuch der Diskussionspartner nachzeichnen, Gerechtigkeit zu definieren, bis zu dem Punkt, an dem Sokrates den Vergleich von Staat und Seele für seine Argumentation zu Rate zieht. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Ähnlichkeiten zwischen Staat und Seele, die Sokrates herausarbeitet, um sein neues Gerechtigkeitsmodell vorzustellen. Auf einige problematische Aspekte der sokratischen Argumentation, die die Forschung schon viele Jahre beschäftigen, wird im dritten Teil der Arbeit eingegangen.
2. Hauptteil: Ein neues Gerechtigkeitsmodell
2.1. Gerechtigkeitsdefinitionen
Sokrates, der sich zu Beginn des I. Buches der πολιτεια mit Platons Bruder Glaukon auf dem Heimweg von einem Festzug befindet, folgt der unverhofften Einladung des Adeimantos (ebenfalls ein Bruder Platons) und des Polemarchos in dessen Haus. Dort treffen sie unter anderen auf Kephalos, den Vater des Polemarchos, und auf den Sophisten Thrasymachos. Diese fünf Personen werden die jeweiligen Gesprächspartner von Sokrates sein, mit denen sich Diskussionen um die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Ungerechtigkeit“ entwickeln. Eine erste, aber unbefriedigende Definition des Wesens der Gerechtigkeit kommt im Gespräch mit dem betagten Kephalos zum Vorschein. Rückblickend auf sein Leben, so Kephalos, ermögliche ihm das Geld, das er besitze, bis zu seinem Ende „reinen Tisch“ mit Göttern und Menschen zu machen, da er die nötigen Opfer für die Götter und die anfallenden Schulden gegenüber seinen Mitmenschen begleichen könne. Sokrates formuliert die Worte Kephalos als Rückerstattung des Empfangenen, wendet aber ein, dass es nicht gerecht sein könne, einem wahnsinnig gewordenen Freund seine Waffe zurückzugeben. Kephalos Sohn, Polemarchos, führt die Argumentation seines Vaters fort und versucht zusammen mit Sokrates den Begriff der Gerechtigkeit genauer zu fassen. Dabei präzisieren sie die erste Definition und unterscheiden bezüglich der Rückerstattung des Empfangenen den Empfänger in Freund und Feind. Gerecht sei demnach, wenn man dem Freund das Empfangene rückerstatte, dem Feind aber schade. Sokrates ist auch mit dieser Definition nicht zufrieden und überzeugt Polemarchos davon, dass Gerecht-Sein niemals etwas Schädliches beinhalten könne. Der Sophist Thrasymachos bietet der Runde nun einen provokanten Definitionsversuch an: die Gerechtigkeit sei der Vorteil des Stärkeren; d.h. gerecht sei, was in einem Staat dem Herrscher diene, der darin zu seinem eigenen Vorteil befehle. Sokrates widerspricht dieser Wesens -Definition und führt Thrasymachos vor, dass genau das Gegenteil gelte. Laut Sokrates läge es nicht in der Natur des Herrschens, wenn es „Staatskunst“ sei, den Vorteil des Stärkeren zu erwirken, sondern im Gegenteil, den des Schwächeren. Eine Kunst diene nie dem Eigennutz, sondern dem Nutzen des Betreuten. Thrasymachos lässt sich von den sokratischen Einwänden nicht beirren und behauptet dagegen, dass seine Art der Gerechtigkeit (die er selbst jetzt Ungerechtigkeit nennt) der üblichen Gerechtigkeit überlegen sei, weil sie dem Menschen in allen Lebensbereichen tatsächlich mehr persönliche Vorteile bzw. größeren Nutzen bzw. Glück bringe. Der Tyrann als Beispiel des maximal ungerechten Menschen sei, so Thrasymachos, der glücklichste Mensch und genösse mittels der Ungerechtigkeit nur Vorteile. Der Gerechte aber wird bei ihm zum Einfältigen, der durch das Festhalten an der (heren, für Thrasymachos falschen) Gerechtigkeit nicht glücklich werden kann, da ihn der Ungerechte in jeder Lebenslage übervorteile und letztendlich dadurch der Glücklichere von beiden sei. Sokrates stellt dieser vermeintlichen Vorteilhaftigkeit der thrasymachischen Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit gewichtige Argumente für seinen Gerechtigkeitsbegriff gegenüber: Der vollständig Ungerechte erreiche allein nichts ohne andere Menschen, der Gerechte schon; der Ungerechtigkeit sei der Streit und die Uneinigkeit eigentümlich, was dazu führe, dass der vollendet Ungerechte handlungsunfähig sei; die gerechte und nicht die ungerechte Seele führe zum „größten Nutzen“, dem Glück, da „die Fähigkeit und Tüchtigkeit der Seele die Gerechtigkeit“ ist und nur durch die Ausübung der charakteristischen Fähigkeit das jeweilige Ding „gut ist“ und glücklich wird.
Im letzten Abschnitt des I. Buches der πολιτεια betont Sokrates, dass er sich durch das vorangegangene Gespräch über den Nutzen der (Un-)Gerechtigkeit ablenken habe lassen und noch nicht zum Kern der Sache, dem Wesen der Gerechtigkeit vorgedrungen sei. Nur wenn das Wesen einer Sache bestimmt sei, könne man etwas über dessen Eigenschaften und dessen Nutzen sagen. Auch Glaukon und dessen Bruder Adeimantos drängen Sokrates zu Beginn des II. Buches das Wesen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu bestimmen und zu zeigen, dass erstere der letzteren überlegen sei.
Dabei treten beide in ihren folgenden Darlegungen als advocati diaboli für die Belange der Ungerechtigkeit ein, um Sokrates gewichtige und allgemein geläufige Gegenargumente gegen die Gerechtigkeit vorzustellen, die er dann mit seinen Ausführungen entkräften soll. Gerechtigkeit sei, so Glaukon, als reine Konvention der Menschen entstanden, weil niemand jederzeit ungerecht sein könne, ohne dafür bestraft zu werden bzw. jederzeit die Gefahr bestünde, selbst Unrecht erleiden zu müssen. Die Menschen seien also nur wider Willen gerecht. Der Glücklichere sei im allgemeinen nicht der gerechte Mensch, sondern der vor den anderen Menschen und den Göttern als gerecht erscheinende ungerechte Mensch. Der allgemein bessere Ruf, der der Gerechtigkeit (durch die Dichter) anhafte, hätte, so Adeimantos, zu der Situation geführt, dass sich ungerechte Menschen mit dem Schein des Gerechten schmückten, d.h. die Menschen würden die Gerechtigkeit nur wegen ihrer scheinbaren Folgen wählen.
2.2. Die Analogie: Der gerechte Staat und die gerechte Seele
2.2.1. Der gerechte Staat
Als beide Redner fertig sind, entwickelt Sokrates diesen merkwürdigen Vergleich zwischen Staat und Seele, der dazu beitragen soll, das Wesen und den „wahren Nutzen“ der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Vorschein zu bringen.
Beide Objekte seien miteinander vergleichbar, weil sie eine „ähnliche“ Art von Gerechtigkeit in sich trügen. Um an diese heranzukommen, möchte Sokrates zuerst das größere Gebilde, den Staat untersuchen. Dann wird er das „kleinere“ Gebilde, „die Seele des Menschen“ examinieren und im Anschluss daran feststellen, ob beide durch dieselbe Art der Gerechtigkeit bestimmt werden. Dabei zeigt sich Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit letztendlich als Ordnung bzw. Unordnung einer bestimmten Struktur im Staat. Analog dazu ist es in der Seele dieselbe Struktur, die Sokrates für den gerechten oder ungerechten Menschen verantwortlich sieht.
Wie kommt Sokrates zu dieser eigentümlichen Vorstellung von Gerechtigkeit?
Zunächst entwirft er in Gedanken einen Staat, überschaubar klein und mit sehr einfachen Grundzügen, den gesunden bzw. idealen Staat. Dieser entstehe aus der Ohnmacht der Menschen, auf sich allein gestellt existieren zu können und gewährleistete über die Ausbildung von verschiedenen Arbeitsbereichen und die Spezialisierung der Bewohner die Bedürfnisbefriedigung aller.
Gerechtigkeit tritt hier zum Vorschein als Spezialisierung der Menschen zur gegenseitigen Bedürfniserfüllung.
Auf den erhitzten Einwand Glaukons hin, dieser Staat lasse die üblichen vom Menschen benötigten Güter zu Unrecht außer Acht, erweitert Sokrates das Bild seines entworfenen Staates, den er in dieser Form dann als üppig oder sich aufblähend bezeichnet. Der nun um reale Komponenten und Menschen vergrößerte Staat geht über die einfachen Grundbedürfnisse der Einwohner hinaus und bietet Luxus und neue Berufe, die dafür nötig sind, diesen zu erzeugen. Diese Erweiterung der Bedürfnisse führt laut Sokrates aber zwangsläufig zu einer Gebietserweiterung, verbunden mit der notwendigen Folge, Krieg mit den angrenzenden Staaten führen zu müssen. Gemäß dem Gebot der Spezialisierung der Arbeitsbereiche, welches Sokrates im gesunden Staat betont hat, muss für den Kriegsfall im üppigen Staat ein stehendes Heer geschaffen werden, das nur mit dieser einen Aufgabe betraut sein dürfe. Dessen Soldaten bezeichnet Sokrates als Wächter. In den folgenden Ausführungen entwickelt Sokrates den staatstragenden Wächterstand, dessen Auswahl, Erziehung und Lebensweise, wie sie Sokrates skizziert, einer Reinigung des üppigen Staates bedarf. Sokrates lässt nach und nach den gereinigten Staat entstehen, dessen charakteristische innere Ordnung er dann als Gerechtigkeit bezeichnet.
Die Wächter selbst müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um im Heer aufgenommen zu werden. Sie müssen körperlich geeignet sein, ihre Seele muss „mutvoll“ sein, sich den Feinden tapfer entgegenwerfen, den Freunden gegenüber eine „sanft-verträgliche Natur“ beweisen und die Unterscheidungsfähigkeit besitzen, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Damit sie das richtige Maß an Mut für ihre Aufgaben wahren, sollen sie einer staatlichen Erziehung obliegen, die sich auf „gymnastische“, d.h. körperliche und „musische“, d.h. geistige bzw. seelische Bereiche bezieht. Die Charakter-Bildung der Wächter erfolge von früh ab mit Hilfe der „richtigen“ Geschichten (Poesie und Prosa) und der „richtigen“ Musik. Dazu werde dieser „musische“ Bereich von Staats wegen „gereinigt“, d.h. die Werke, die dem Vorhaben der Erziehung der Wächter Schaden können, werden ausgeschlossen, die Dichter sollen unter Aufsicht gestellt werden. So sollen die Wächter mittels edler Werke zu einer „edlen Haltung“ erzogen werden. Gymnastik und „einfache und vernünftige“ Lebensführung der Wächter sollen deren Gesundheit und Funktionieren und somit das Funktionieren des ganzen Staates gewährleisten. Die gymnastische Erziehung ziele nicht in erster Linie auf die Ausbildung körperlicher Stärke ab, sondern auf „die Erweckung des Mutes in der Seele“. Die Harmonie dieser beiden „aufeinander abgestimmt(en)“ Bereiche „richtiger“ musischer und gymnastischer Erziehung, erschaffe, so Sokrates, den besonnenen und tapferen Wächter. Über die „Erziehungslaufbahn“ sollen weitere hervorragende Persönlichkeiten herausgefiltert werden, die dann zur (kleinsten) Gruppe der Herrscher gehören. Diese sind ältere Wächter, die sich durch kontinuierliche Prüfung ihrer Standhaftigkeit um die führende Position im Staat verdient gemacht hätten. Der Wächterstand spaltet sich so in Herrscher und Helfer, die jüngeren Wächter, auf, der gereinigte Staat in drei Teile: Herrscher – Helfer bzw. Soldaten – übrige Bürger. Alle Wächter seien von Staats wegen dazu gezwungen ein Leben der Entbehrungen zu führen, sie dürften über keinen Besitz verfügen, geschweige denn über Reichtum. So würden sie auch jeglicher Privatsphäre entbehren, d.h. sie sollten zusammen in einem jederzeit einsichtigen „Wachhaus“ leben und speien und sich die Geschlechtspartner untereinander teilen. Nicht nur ist so die Erziehung der Wächter, sondern auch deren Lebensführung durch die Vorgaben der Gemeinschaft im gereinigten Staat genauestens reglementiert. Adeimantos Einwand zu Beginn des IV. Buches ist deshalb verständlich. Die Wächter hätten „den Staat in ihren Händen“, aber „keinen Vorteil davon“. Sokrates entgegnet, dass die Wächter durch genau diese Erfüllung der Vorgaben in erster Linie den ganzen Staat und nicht sich selbst glücklich machen würden. Er betont, dass es bei der Staatsgründung die Absicht gewesen sei, dass der ganze Staat glücklich sei und nicht „ein Stand“. Dafür sollen die Wächter die innere Einheit eines derartigen Staates gewährleisten, indem sie dafür Sorge tragen sollten, dass im Staat weder Reichtum noch Armut herrsche, dass die für eine ordentliche innere Einheit nötige Größe des Staates nicht überschritten werde und dass jeder „seiner Position gemäß“ zum Glück des gesamten Staates beitrage. In 427d erklärt Sokrates den gereinigten Staat für gegründet.
Zunächst hatte er den idealen gesunden Staat konstruiert, dann um einige reale Aspekte zum üppigen Staat erweitert und schließlich dreigeteilten gereinigten Staat eine Dreiteilung vorgefunden. Nun fordert er Glaukon auf:
„Schau, ob wir irgendwo die Gerechtigkeit finden und wo die Ungerechtigkeit ist, wodurch sie sich unterscheiden, welche man von ihnen zum Glück braucht – ob man damit verborgen bleibt vor Göttern und Menschen oder nicht!“
Sokrates selbst schlägt nun vor, die zu suchende Gerechtigkeit in einer Art Ausschlussverfahren ausfindig zu machen. Der so gegründete Wächter-Staat sei, so dieser, auch ein guter Staat, d.h. es müssten sich die „Komposita“ des Gut-Seins in ihm auffinden lassen: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Fände man die drei ersten Tugenden, bliebe demnach die Gerechtigkeit „übrig“. Sokrates begibt sich auf die Suche und findet zunächst die Weisheit des Staates: weise sei der Staat, wenn der kleinste Stand der besten Wächter mit ihrem Wissen für die beste Staatsführung zuständig sei. Tapferkeit besitze der Staat, wenn der zweite Stand bzw. die übrigen Wächter tapfer seien, was soviel heißt wie, dass dieser Stand die durch deren Erziehung internalisierte Grundsätze des Staates bewahren und schützen solle. Besonnenheit komme allen Ständen des Staates zu, sie sei ein „harmonischer Zusammenklang“ zwischen allen Ständen des Staates. Diese Harmonie werde durch die „Einigkeit […] zwischen Herrschern und Beherrschten“ erzeugt, „über die Frage, wer herrschen soll, […]“. Nachdem Sokrates drei der vier Kardinaltugenden im Staat entdeckt hat, bleibt die Suche nach der vierten: Gerechtigkeit. Bei näherem Hinsehen fällt Sokrates auf, dass die Gerechtigkeit schon das tragende Element bei der Gründung des gesunden Staates war. Dort bezog sie sich noch auf die notwendige Spezialisierung der Menschen der Polis zur gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung. Hier definiert Sokrates Gerechtigkeit in einem größeren Zusammenhang als die bewusste und staatstragende Spezialisierung. Gerechtigkeit wird als Aufgabe für den Staat gesehen, nicht nur als Notwendigkeit, um „mehr und schönere und leichtere“ Werke zu schaffen, wie er in 370c betont. So sei die Gerechtigkeit sozusagen die Spezialisierung (eines jeden) im Dienste aller. Genauso wie die Besonnenheit käme sie allen Ständen des Staates zu. Sollte diese Spezialisierung aufgehoben werden und sollte z.B. ein Erwerbsmann in den Stand der Soldaten hinüberwechseln wollen, ein Soldat in den Stand der Herrscher so würde dies „zum Untergang des Staates führen“. Diesen unnatürlichen Wechsel bzw. Zustand der „Tätigkeit in fremdem Arbeitsgebiet und Vielgeschäftigkeit“ bezeichnet Sokrates als das Gegenteil der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit.
Graphisch sähe die Dreiteilung mit den zugeschriebenen Eigenschaften bzw. Tugenden des gerechten Staates dann so aus:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Aufbau des gerechten Staates
H = Herrscher bzw. die besten Wächter
S = Soldaten oder Helfer bzw. die übrigen Wächter
E = Erwerbsmänner oder übrige Bürger
Somit ist für Sokrates die Gerechtigkeit im Staate gefunden. Ein Staat ist dann gerecht,
„[…] wenn in ihm drei Arten von Naturen sind, deren jede ihre Aufgabe erfüllt, zudem aber besonnen, tapfer und weise wegen anderer Eigenschaften und Haltungen dieser drei Naturen.“ (435b)
2.2.2. Die gerechte Seele
Das Auffinden des Wesens der Gerechtigkeit als das rechte Ordnungsprinzip im Staat mit seinen drei Formen und vier Eigenschaften bzw. Tugenden ist für Sokrates erst ein Teilschritt gewesen. Die Untersuchungen für abgeschlossen erklärt er erst, wenn sich die Gerechtigkeit in ähnlicher Form auch beim Menschen finden lasse. Dazu fährt er mit der Überprüfung fort und wendet sich dem Menschen bzw. dessen Seele zu. Wenn sich, so Sokrates, nachweisen lasse, dass Gerechtigkeit in analoger Weise in der Seele vorliege, könne man die Analyse als beendet bzw. erfolgreich betrachtet sehen, man könne die Gerechtigkeit bestimmen. Sokrates nimmt an, dass die Seele, wenn sie gerecht zu nennen sei, nach demselben Ordnungsprinzip wie der Staat beschaffen sei, d.h. dieselbe Form bzw. die darauf bezogenen Eigenschaften haben müsse.
„Der einzelne nun, mein Freund, muß – so fordern wir – dieselben drei Formen in seiner Seele haben und wegen derselben Eigenschaften auch dieselben Namen erhalten wie der Staat.“ (435b-c)
Dies versucht er in seinen folgenden Ausführungen mit Hilfe logischer und empirischer Mittel zu beweisen. Das erste Argument ist empirischer Natur: die verschiedenen „Formen und Eigenschaften“ seien durch ihre Bürger in den Staat gekommen; so sei der Staat der Thraker „mutvoll“ durch die mutigen thrakischen Bürger, der Staat der Athener „weise“ durch die weisen Bürger Athens etc. Im Rückschluss hieße das, dass die Bürger diese in den Staat eingebrachten Eigenschaften in sich tragen müssen.
Dann argumentiert er logisch für die Dreiteilung der Seele. Er führt das Prinzip der Kontradiktion ein, das besagt, dass etwas nicht gleichzeitig „Entgegengesetztes tun oder leiden kann“. Dieses Prinzip gelte auch für die Vorgänge in der Seele, was Sokrates am Beispiel eines durstigen Menschen veranschaulicht. Der Dürstende, der nicht trinkt, müsse zwei Seelenteile besitzen, einen vernünftigen, der ihn vom vielleicht gerade unbotmäßigen Trinken abhält und einen zweiten Teil der Seele, der den Mensch „tierhaft zum Trinken treibt“. Zum Nachweis des dritten Teiles der menschlichen Seele, des mutvollen Seelen-Teiles, zieht Sokrates wieder ein Beispiel aus der Empirie heran: Die Geschichte des Leontius, den einerseits sein unvernünftiger und begehrender Seelenabschnitt dazu bewege, „sensationslüstern“ Leichen außerhalb seiner Stadtmauer zu „begaffen“, ihn aber andererseits ein anderer Teil der Seele, der offensichtlich nicht der vernünftige sei, errege bzw. zornig von diesem Vorhaben abhalten wolle. Der Einwurf des Glaukon, dass man diesen Kampf der Seelenteile auch am Beispiel des noch unvernünftigen Kindes sehen könne, unterstützt die Argumentation des Sokrates für diesen dritten „mutvollen“ Teil der Seele. Abschließend stellt Sokrates zufrieden fest:
Wir sind uns mit Recht einig, daß es dieselben und gleichvielen Teile im Staat gebe wie in der Seele. 441c
Die Dreiteilung der Seele analog zu der im Staat ist nun, laut Sokrates dargelegt, in einem letzten Schritt folgert er, dass auch die Eigenschaften der Seelenteile in gleicher Weise wie im Staat in der Seele verteilt sein müssen: weise sei die Seele bzw. der Mensch, wenn der „vernünftige“ Seelenteil über die anderen Seelenteile herrsche; tapfer, wenn der „mutvolle“ Teil der Seele zu jeder Zeit die „Grundsätze der Seele“ bewahre; als besonnen sei die Seele des Menschen bzw. der Mensch zu bezeichnen, wenn in ihm alle drei Seelenteile in Eintracht funktionieren würden. Die gerechte Seele ist dann analog zum oben beschriebenen Staat, die nach einem bestimmten Ordnungsprinzip eingerichtete Seele:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Aufbau der gerechten Seele
V = vernünftiger Seelenteil
M = mutvoller Seelenteil
B = begehrender Seelenteil
In Wahrheit, solcher Art ist zwar die Gerechtigkeit, aber sie bezieht sich nicht auf die äußeren Auswirkungen der Menschen, sondern auf seine innere Haltung, auf sein Selbst und sein Wesen; ein solcher Mensch läßt keinen der Seelenteile Unangemessenes verrichten noch sich in die Aufgaben anderer vielgeschäftig einmischen; sondern er baut in Wahrheit sein Haus trefflich, herrscht über sich in Ordnung und Freundschaft zu sich selbst und stimmt die drei Seelenteile ab wie die Hauptsaiten der Lyra, die oberste, unterste und mittlere; […] 443c-d
Adeimantos und Glaukon hatten zu Beginn des Gesprächs Wesen und Nutzen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Sokrates eingefordert. Angesichts der von ihm bisher aufgestellten Ausführungen (Gerechtigkeit als Ordnung der Seele/Ungerechtigkeit als Unordnung der Seele) sieht es Glaukon als hinreichend an, den größeren Nutzen der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit zu sehen, selbst wenn ungerechtes und als gerecht verkauftes Verhalten unentdeckt bliebe.
2.2.3. Die ungerechte Seele
Für Sokrates jedoch scheint die Untersuchung der Gerechtigkeit noch nicht abgeschlossen. Nachdem das Wesen derselben von ihm dargestellt wurde, widmet sich Sokrates in seinen Ausführungen zum Ende des Buches IV der Ungerechtigkeit in Staat und Seele, um so den größeren Nutzen der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit eindeutiger darzulegen.
Sokrates behauptet nun, dass nach den vorangegangenen Ausführungen über die gerechte Seele, die Ungerechtigkeit die Unordnung der Seelenteile sein müsse. Diese ungerechte bzw. ungeordnete Seele hätte die zu den oben vorgefundenen direkt entgegengesetzten Eigenschaften: „[…] Ungerechtigkeit, Zügellosigkeit, Feigheit, Torheit, kurz, alle Schlechtigkeit.“ Im Gegensatz zur gerechten Seele, in der der vernünftige Teil, „die Hochburg der Seele“, über die Gesamtseele herrsche, herrschten in den verschiedenen ungeordneten Seelentypen, die Sokrates im folgenden aufführt, die jeweils anderen Seelenteile. Und da es fünf verschiedene Verfassungstypen (Monarchie/Aristokratie, Timokratie, Oligarchie, Demokratie, Tyrannei) gebe, gebe es auch fünf verschiedene Arten von Menschen mit spezifisch geordneter Seele, den Aristokraten/Monarchen, den Timokraten, den oligarchischen Menschen, den demokratischen Menschen und den tyrannischen Menschen. Die vier letzteren Menschen nennt Sokrates „mindere Menschenformen“. In Buch VIII und IX beschreibt Sokrates ähnlich wie zuvor zuerst am größeren Objekt den jeweiligen ungerechten Verfassungstypus und im Anschluss daran den entsprechenden Seelentypus: im Timokrat ist es der mutvolle Seelenteil, im oligarchischen Menschen der begehrende Seelenteil, der über die anderen Seelenteile gebietet. Um den demokratischen Menschen zu bestimmen, bedarf es von Seiten Sokrates einer Spezifizierung bzw. Aufteilung des dritten Seelenteils bzw. begehrenden Elements der Seele. Dieser wird aufgespalten in zwei „Trieb-Teile“, den notwendigen und den nicht-notwendigen oder überflüssigen Triebteil. Dieser überflüssige Triebteil nehme Einfluss auf den demokratischen Menschen, der jedoch beiden Triebteilen gleiches Recht einräume und dadurch in Unordnung lebe. Im tyrannischen Menschen herrsche dagegen ein weiterer vom überflüssigen Triebteil abgespaltener Seelenteil, der verbrecherische Seelenteil über die anderen Seelenteile. Der durch diesen Trieb beherrschte Mensch „schreckt vor keiner Torheit zurück oder Schandtat“. Die Herrschaft erlangt, könne dieser zwar bekommen, was er im Rahmen seiner Macht bekommen kann, aber das Glück bleibe ihm im Gegensatz zum gerechten und guten Menschen, so Sokrates, verwehrt.
Jeder dieser vier ungerechten Menschentypen suche sein Glück in Werten, die laut Sokrates letztendlich nicht zum Glück führen können: der Timokrat im maßlosen Streben nach Ehre, der Oligarch im unersättlichen Geiz, der Demokrat im übertriebenen Drang nach Freiheit und der Tyrann im unkontrollierten Trieb nach Macht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.3: Die vier ungerechten Seelentypen
V = vernünftiger Seelenteil B1 = notwendiger begehrender Seelenteil
M = mutvoller Seelenteil B2 = überflüssiger begehrender Seelenteil
B = begehrender Seelenteil B3 = verbrecherischer begehrender Seelenteil
3. Schluss: Gerechtigkeit in Staat und Seele
Der Vergleich von Staat und Seele in Platons Politeia hilft Sokrates Wesen und Nutzen der Gerechtigkeit zu bestimmen, nämlich als ein für den Menschen „an sich“ erwünschtes Gut, das ihm im Gegensatz zur Ungerechtigkeit Nutzen bringt. Mit Hilfe verschiedener Techniken (Logik, Empirie, Analogieschlüsse) erarbeitet Sokrates ein Bild vom Staat und danach von der Seele, das bei beiden in gleicher Weise bestimmt ist durch die Anzahl ihrer Teile, deren Koppelung an verschiedene Bestrebungen bzw. Eigenschaften und die Konzeption, dass einer der Teile über den Staat bzw. die „Gesamtseele“ herrscht. Gerechtigkeit erscheint dabei als die „ordnende Kraft“ des Staats- sowie des Seelengebildes bzw. ist die Ordnung, die eingerichtet ist, wenn jeder der Konstituenden des Gebildes „das Seine tut“ und der vernünftige Teil die Herrschaft über die anderen beiden Teile der Seele bzw. im Staat inne hat. Diese Form der guten und gerechten Seelenordnung ist im Gegensatz zur Unordnung der ungerechten Seele, in der ein anderer Teil der Seele das Sagen hat, die einzige Verfassung der Seele, die den Menschen zum Glück führen kann.
4. Drei argumentative Auffälligkeiten in Platons Politeia
Die Darstellung dieses Ordnungsprinzips, das Sokrates mit Hilfe der Analogie von Staat und Seele veranschaulicht, bietet verschiedene argumentative Auffälligkeiten, die die Forschung seit längerer Zeit beschäftigt haben und für die verschiedene Erklärungsversuche unternommen wurden. Auf drei dieser argumentativen „Probleme“ wird im folgenden Kapitel der Arbeit eingegangen. Eine mögliche Erklärung dieser Auffälligkeiten ist der Ansatz von Norbert Blößner, der im Anschluss daran kurz skizziert wird.
4.1. Kann man Staat und Seele miteinander vergleichen?
In seinem Argument in 368e führt Sokrates auf, dass man Staat und Seele miteinander vergleichen könne, weil beide sich in dem Punkt ähneln, gerecht zu sein. Sowohl ein Mensch, als auch ein Staat kann als gerecht prädiziert werden. Da Größeres leichter zu erkennen sei als Kleineres, schlägt er vor, zunächst das Wesen der Gerechtigkeit im Staat aufzuspüren und anschließend in jedem einzelnen Menschen zu betrachten.
An dieser Stelle hat sich die Forschung gefragt, was Sokrates hier miteinander vergleichen will, wie es möglicherweise verglichen werden soll, ob es tatsächlich vergleichbar sei und ob das methodische Vorgehen Sokrates hier gerechtfertigt sei.
Wichtig für einen möglichen Vergleich der beiden Entitäten ist wohl die Tatsache, dass Sokrates zum damaligen Zeitpunkt die Seele des Menschen nicht mit einem dem Menschen entgegengesetzten Staatsgebilde in unserem modernen Sinne vergleicht. Beide Untersuchungsobjekte sind, so Leo Strauss miteinander vergleichbar, wenn sie sich nicht essentiell, sondern lediglich quantitativ voneinander unterscheiden. Er betont, dass Sokrates Gerechtigkeit für den Einzelnen und für das Allgemeinwohl als vorteilhaft nachweisen kann, wenn er einen Staat konstruiert, in dem sich der Vorteil des Einzelnen mit dem des allgemeinen Wohls deckt. Im sokratischen Staats-Konstrukt, das an die Polis der damaligen Zeit angelehnt ist, wird das möglich. Der sokratische Staat ist weniger ein Staat im modernen Sinn, als vielmehr ein übersichtlicher Personenverband, eine „Gemeinschaft der Bürger“, wie es Norbert Blößner formuliert. Dem Einzelnen (= Seele) tritt die Gemeinschaft der Mehreren gegenüber (= Staat).
Der Möglichkeit des Vergleichs von Staat und Seele zuträglich wäre auch ein Argument des Sokrates, auf das Peter Baumanns hinweist und das besagt, dass alles, was im Staat bzw. der Polis sei, nur vom Menschen hineingekommen sein könne. Sokrates begründe mit diesem Argument seine „anthropologisch-politische Strukturthese“. Man könne, so das Argument des Sokrates, Staat und Seele miteinander vergleichen, weil der „Charakter des Staates durch die Menschen geprägt wird, die in ihm leben“.
Die Art des Vergleichs zwischen Staat und Seele thematisiert Torsten Andersson, der meint, dass zu unterscheiden sei zwischen einer formalen Ähnlichkeit von A und B, die wohl bei Sokrates nicht gemeint sei und einer isomorphen Ähnlichkeit, einer strukturellen Ähnlichkeit von A und B, „based on some chosen set of pattern-forming elements“, die hier wohl eher auf den Vergleich von Staat und Seele zuträfe.
Aber selbst wenn unter diesen Gesichtspunkten ein Vergleich der beiden Objekte möglicher erscheint, so ist doch der Einwand gegen dieses Vorhaben von Norbert Blößner wichtig und schlagkräftig. Er gibt zu bedenken, dass Sokrates nicht die Einzelperson mit der Gesamtheit aller Personen der Polis vergleicht, sondern dessen Seele und somit ein unsichtbares „Studienobjekt“ mit einem sichtbaren Gegenstand. Noch schwieriger gestaltet sich der Vergleich, wenn man mit Andersson zu bedenken gibt, dass das größere Anschauungsobjekt des Sokrates ebenso ein Konstrukt ist und als derartiges, einer Art biologischem Organismus gleich und mit unterschiedlichen Funktionsteilen (Herrscher – Helfer – übrige Bürger), nur sehr wenig mit einer tatsächlichen Polis zu tun habe. Laut Andersson ist der Vergleich des Sokrates vielmehr dem traditionellen griechischen Denken geschuldet. So habe sich Sokrates diesbezüglich wohl an die „Greek property of settled ideas“ angelehnt und davon die Idee des Menschen als Mikrokosmos übernommen, der lediglich eine kleinere Version des Makrokosmos (=Polis) bzw. Kosmos sei.
Für Volker Gerhardt ist das ganze Argument des Sokrates, die Gerechtigkeit mit Hilfe der angenommenen Analogie der beiden Entitäten ausfindig zu machen, zirkulär. Erst wenn ich wüsste, wovon ich sprechen möchte, d.h. meinen gesuchten Gegenstand definiere, könnte ich Aussagen über ihn treffen. Dieses Problem kommt auch im sokratischen Vorschlag zum Ausdruck, die Seele des Menschen und den Staat als unterschiedlich große Schriften zu sehen, die einander ähneln und deren eine so winzig sei, dass man sie nicht lesen könne. Deshalb solle man erst zur größeren Schrift übergehen, diese lesen und sie dann mit der kleineren Schrift vergleichen. Sokrates selbst sagt, dass man die kleine Schrift nicht lesen könne, trotzdem nimmt er die Ähnlichkeit der beiden Schriften ungeprüft an. So wende Sokrates hier unzulässigerweise einen Begriff an, den er eigentlich noch erklären wolle bzw. müsse.
Selbst wenn man also die Analogie des Sokrates bezüglich der Vergleichsgegenstände und der Art dieses Vergleiches differenzierter betrachtet und die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen Staat und Seele so näher rückt, scheinen Blößners und Gerhardts Einwände bezüglich der Unvergleichbarkeit eines sichtbaren mit einem unsichtbaren Gegenstand bzw. die Zirkularität des sokratischen Arguments dieses hier auszuhebeln.
4.2. Ist der gereinigte Staat gut und gerecht?
Sokrates meint der Gerechtigkeit auf die Spur zu kommen, wenn er in einem Gedankenexperiment einen idealen Staat gründet. Sein nächster Schritt ist die Suche nach der Gerechtigkeit in diesem gegründeten Staat. Wenn die durchgeführte Staatsgründung ordnungsgemäß erfolgt sei, so Sokrates, sei der Staat ein guter Staat. Das Gute, also αρετε , setze sich wiederum aus vier Tugenden zusammen: der Weisheit, der Tapferkeit, Besonnenheit und der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit als ein Baustein des Guten fände man, wenn die anderen drei Bausteine des Gut-Seins vorlägen, demnach „der Rest“, die Gerechtigkeit sein müsse.
Leo Strauß weist auf die Tatsache hin, dass es Sokrates lediglich behaupten könne, dass der Staat nun fertig gegründet sei, d.h., dass nichts mehr in diesem fehle. Sokrates müsse diese Behauptung aber nicht weiter begründen, da er hierzu die Zustimmung seiner Gesprächspartner bekomme und so in seiner Suche nach der Gerechtigkeit voranschreiten könne.
Julia Annas sieht wie Strauss diese Stelle im Dialog als ein argumentatives Problem: es sei unbegründet, den in dieser Form von Sokrates gegründeten Staat als komplett und gut anzusehen. Selbst die vorhergehende und ausführliche Beschreibung der Erziehung der Wächter nach den Maßstäben zweier dieser Tugenden, der ανδρεια und der Besonnenheit könne nicht Grundlage für die Behauptung des Sokrates sein, sein so gegründeter Staat sei „a paradigm of goodness“. Laut Annas sei dies ein ungelöstes argumentatives Problem und wirke sich auf Sokrates Ausschlussverfahren aus. Dieses sei demnach nicht durchführbar, da es nicht erwiesen sei, dass alles für das Verfahren relevante schon untersucht wurde und deshalb der Rest die Gerechtigkeit sei. Auch die Behauptung des Sokrates, dass es gerade diese vier Tugenden seien, die das Gut-Sein ausmachten, zweifelt Annas an, mit dem Hinweis, dass der Autor selbst im Protagoras, einem früheren Dialog, dem Gut-Sein noch fünf Tugenden zugewiesen hatte. In der Politeia fehle demnach die fünfte Tugend, die Frömmigkeit.
Torsten Andersson verweist auf zwei Stellen im Dialog der Politeia, in denen Sokrates selbst andere Tugend-Kombinationen aufführt. So in 395c bzgl. der Wächter: „tapfere, vernünftige, ehrfurchtsvolle, freie Männer“ oder in 402c im Zusammenhang mit der Erziehung der Wächter: „die Grundformen der Besonnenheit, der Tapferkeit, des Freimuts, der Hochherzigkeit und alle ihre Geschwister“. Ab 427e aber, so Andersson treten die Tugenden des Gut-Seins allerdings „with a higher degree of systematization“ auf, die man für diese zweckmäßige soziale Einheit benötige. Laut Andersson überrascht die Wahl dieser vier Tugenden als Komposita des Gut-Seins nicht. Tapferkeit und Besonnenheit tauchen, wie er sagt und wie schon bei Julia Annas oben erwähnt, im Dialog vorher schon auf und spielen in den Erziehungs-Diskursen der Wächter eine wichtige Rolle. Weisheit sei eine gängige und zu erwartende Tugend in diesem hier aufgeführten Tugend-Kanon und die Gerechtigkeit müsse als gesuchte Tugend darin aufgenommen werden.
Dem entgegnet Strauss, dass die Beantwortung der gestellten Frage hier, dass Gerechtigkeit als ein Baustein des Gut-Seins gut sei, im Folgenden ja erst noch zu beantworten sei. Für ihn scheint allerdings die größte Merkwürdigkeit an dieser Stelle die Tatsache zu sein, dass Sokrates im Gegensatz zum sonst offenen Ausgang der Dialoge mit ähnlicher Fragestellung schon in der ersten Hälfte des Dialogs einen Lösungsvorschlag für die gesuchte Tugend vorstellt.
Dass der so in einem Gedankenexperiment von Sokrates konstruierte Staat, erstens ein guter Staat sei bzw., dass ein derartiger dann zweitens die vier Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit in sich trage und dass man drittens die Gerechtigkeit des Staates nach einer Art Ausschlussverfahren finde, wenn man die anderen Tugenden kenne, scheint im Dialog der politeia laut Forschung nicht über den Status von Annahmen hinauszugehen. Dazu kommt, dass Sokrates ähnlich wie in Punkt III.1. beschrieben, auch hier mit dem Noch-zu-Definierenden schon arbeitet, obwohl es einer Definition erst noch bedarf, d.h. das Gerechte schon als gut bezeichnet wird, obwohl dies noch zu beweisen sei.
4.3. Haben Staat und Seele denselben Aufbau?
Unter der Annahme, dass Staat und Seele miteinander vergleichbar seien, behauptet Sokrates weiter, dass die gerechte Seele nach einem ähnlichen Ordnungsprinzip wie der gerechte Staat geordnet sein müsse. Mit Hilfe verschiedener Mittel überprüft und bestätigt er seine Annahme. Ebenso scheinen, so Sokrates, dieselben Tugenden bzw. Eigenschaften wie im Staat, an die drei Formen der Seele geknüpft zu sein.
Für Torsten Andersson ist Sokrates Vorgehensweise hier einleuchtend und plausibel. Die Breite seiner Untersuchung bzw. die Beweise dafür, die Sokrates aus verschiedensten Feldern bezieht sind für Andersson ein „impressive arsenal of arguments“. Zusammenfassend bemerkt er: „The support for the theory of the structured self is of a realistic kind”.
Hans Joachim Krämer spricht bezüglich dieser Stelle von einem „nur paradigmatischen Charakter“ und fügt hinzu, dass Platon es sich an anderer Stelle der politeia selbst offenhalte, „ob die Seele nicht noch weitere Teile hat“.
Norbert Blößner widerspricht der argumentativen Vorgehensweise von Sokrates vehement. Zunächst stört er sich an der Tatsache, dass die nur angenommene Ähnlichkeit von Staat und Seele in punkto Gerechtigkeit in Buch II in Buch IV der politeia plötzlich vorausgesetzt wird für dessen kommende Beweisführung. In 368e hatte Sokrates noch vorsichtig formuliert:
„Vielleicht ist nun in einem größeren Gebilde eine größere Gerechtigkeit drinnen, die leichter zu erkennen ist?“
Im VI. Buch ist aus einer zu überprüfenden Ähnlichkeit zwischen Staat und Seele eine tatsächliche geworden:
(S:) „Und ein gerechter Mann unterscheidet sich in dem Punkt Gerechtigkeit in nichts vom gerechten Staat, sondern ist ihm ähnlich?“ – (G:) „Natürlich ähnlich!“
Dieses sokratische Hinwegsehen über das Überprüfen einer Annahme sei laut Blößner aber erst die Basis für Sokrates, um sein Analogieverfahren „logisch unzulässig“ auszuweiten. Tatsächlich überprüft Sokrates nicht mehr die vermeintliche Ähnlichkeit von Staat und Seele bezüglich der Gerechtigkeit, sondern postuliert deren Ähnlichkeit in der Struktur der beiden Entitäten. Sokrates nehme hier ein zu Beweisbares plötzlich an und verschiebe den Fokus der Untersuchung unzulässig darauf, ob die Seele wie der Staat drei Teile habe. Sokrates nun folgender Nachweis dafür aus verschiedenen Bereichen sei zudem, so Blößner, ebenso wenig überzeugend. So hätte „[…] Sokrates durch Beibehaltung des Schemas und Beibringung weiterer Beispiele ebensogut auch mehr als drei Seeleninstanzen […] nachweisen können;“ Blößner weist darauf hin, dass es Sokrates selbst ist, der in Buch VIII den dritten, begehrenden Seelenteil, nochmals unterteilt in „notwendige, nicht notwendige und abnorme Triebe“. So müssten wir „ab Buch VIII die Zahl der „Seelenteile“ mindestens auf fünf erweitern“. Der Hinweis auf die moderne Psychologie (Freud/Adler/McDougall/Murray), die ganz unterschiedliche „Grundtendenzen“ in der Seele bzw. Psyche des Menschen nachzuweisen glaubte, soll Sokrates unzulässige Methode entlarven, aus menschlichem Verhalten auf eine konkrete Einteilung der Seele zu schließen. Auch die griechische Tradition biete, so Blößner, keinen Anlass dafür, diese in genau drei Teile zu unterteilen. So schöpfe Platon/Sokrates zwar aus der „rich and highly complex psychology“ der griechischen Epik und Lyrik, man könne daraus aber eine derartige Dreiteilung nicht ableiten.
Auch N.R. Murphy sieht Sokrates Weg zu den drei Teilen der Seele als nicht zwingend an. So könne man nach demselben Verfahren auch „Mitleid“ als viertes oder „Freundlichkeit (der Bürger untereinander)“ als fünftes Element in der Seele herausarbeiten.
Sokrates hatte angenommen, dass Seele und Staat nach einem ähnlichen (lediglich in der Größe verschiedenen) Ordnungsprinzip namens „Gerechtigkeit“ strukturiert seien, nämlich dann, wenn jeder als Teil eines Ganzen das Seine tue. Um die Dreiteilung der Seele nachzuweisen führt er ein weitläufiges Beweisverfahren durch, das allerdings von Seiten der Forschung her nicht zwingend zu diesem Ergebnis führen müsse. Dabei sei, wie Blößner und Murphy betonen, diese Dreiteilung der Seele ein von Sokrates willkürlich gesetztes Konstrukt.
4.4. Norbert Blößners Erklärungsversuch
Wenn der Staat und die Seele also prinzipiell nicht vergleichbar sind, wenn es mehr als fragwürdig ist, Gerechtigkeit im Staate auf die sokratische Weise herauszufiltern und wenn „Formen und Eigenschaften“ der Seele nicht mit denen des Staates in Übereinkunft zu bringen sind, wie kommt Sokrates dann dazu, dies im Staat zu tun?
Norbert Blößner betont, dass es Sokrates im Staat in erster Linie darum gehe, seinen Zuhörern und Diskussionspartnern sein Argument als plausibel und einleuchtend vorzustellen. Herausgefordert durch Thrasymachos und aufgefordert von Glaukon und Adeimantos möchte Sokrates im Dialog zeigen, dass sich die Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit auszahle. So baue er in diesem sukzessive sein Argument auf und beweise der Gruppe letztendlich, dass die Gerechtigkeit als rechte Ordnung in Staat und Seele einzig zum Glück, die Ungerechtigkeit zwar zu äußeren Gütern, aber nur ins Unglück führe.
Die oben beschriebenen Auffälligkeiten des Arguments würden einerseits durch die „Beschränkung“ der elenktischen Gesprächsführung des Sokrates hervorgerufen. So versichere sich Sokrates demgemäß im Dialog nach jedem Argumentationsschritt des Verständnisses der Diskussionspartner und schreite im Argument angepasst an deren Wissens-Niveau voran.
Andererseits stehe „das Analogieverfahren im Dienste des Beweisziels“ und bestimme diese merkwürdigen Erscheinungsformen von Staat und Seele innerhalb der Analogie. Die Seele, so Blößner, erweise sich als dankbar plastisch im Moment der Gegenüberstellung mit dem konstruierten, aber aus der Realität wiedererkennbaren Staat. Aus der Seele werde so eine Art politisch strukturierte Ordnungseinheit, deren Kräfte sozialen Gruppen ähnlich zusammen oder gegeneinander arbeiten. Der Staat im Gedankenexperiment werde von wichtigen Charakteristika befreit, um ihn so näher an die Bedürfnisse der Analogie anzupassen, die wiederum Mittel zum Zweck für das sokratische Argument im Dialog sei, dass nur die rechte Ordnung zum Glück führe.
5. Literaturverzeichnis
Platon, Der Staat, K. Vretska (Hg.), Stuttgart 2000.
T.J. Andersson, Polis and Psyche, a Motif in Plato’s Republic, Göteborg 1971.
J. Annas, An Introduction to Plato’s Republic, Oxford 1981.
P. Baumanns, Die Seele-Staat-Analogie, im Blick auf Platon, Kant und Schiller, Würzburg 2007.
N. Blößner, Dialogform und Argument, Studien zu Platons ‚Politeia‘, Mainz 1997.
N. Blößner, The City-Soul Analogy, in: G.R.F. Ferrari (Hg.), The Cambridge Companion to Plato’s Republic, Cambridge 2007, 345-385.
V. Gerhardt, Der groß geschriebene Mensch, Zur Konzeption der Politik in Platons Politeia, in: G. Figal und E. Rudolph (Hg.), Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1 1997, 40-56.
H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1959.
N.R. Murphy, The Interpretation of Plato’s Republic, Oxford 1951.
J. Neu, Plato’s Analogy of State and Individual: The Republic and the Organic Theory of the State, in: Philosophy, Vol. 46, No. 177, Cambridge 1971, 238-254.
L. Strauss, The City and Man, Chicago and London 1978.
H.-D. Voigtländer, Die Lust und das Gute bei Platon, Würzburg 1960.
B. Williams, The Analogy of City and Soul in Plato’s Republic, in: E. Wagner, Essays on Plato's psychology, Lanham 2001, 157-168.