Der Hergang des Romans "Das Parfum" von Patrick Süskind suggeriert dem Leser, der Protagonist Grenouille sei ein Sonderling. Ein Andersartiger, der es aufgrund seines fehlenden Eigengeruchs nicht vermag, seinen Platz im Schoße der Gesellschaft zu finden. Doch ist es der Protagonist selbst, der das Schicksal des Außenseiters wählt, oder ist es die Gesellschaft, die ihm vermittelt, er sei kein gleichwertiger Mensch; er sei anders als Andere und verdiene daher keinen Platz unter ihnen? Dies ist die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit, welche im Folgenden genauer betrachtet wird.
Außerdem umfasst die Arbeit eine Analyse der Geschichte auf den erzähltheoretischen Grundlagen des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette.
Die Hauptfragestellung wird zunächst auf inhaltlicher Ebene verfolgt, wobei die Ergebnisse durch die narrativen Aspekte gestützt werden. Die Verflechtung dieser beiden Ebenen soll letztendlich die Erkenntnis darüber erbringen, ob es sich bei Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ um eine gesellschaftliche Ausgrenzung handelt, der der Protagonist schließlich unterliegt.
Inhaltsverzeichnis:
1. Die Geschichte eines abstoßenden, benachteiligten Helden
2. Patrick Süskinds Das Parfum - eine Geschichte über die gesellschaftliche Ausgrenzung eines Andersartigen?
2.1. Die Geburtsstunde des Sonderbaren
2.2. Über die ersten pränatalen Versuche der Eingliederung
2.3. Das Scheitern der primären Sozialisation im Waisenhaus
2.4. Das Finden des eigenen Ich
3. Die resultierende Flucht vor der Gesellschaft
Bibliographie
1. Die Geschichte eines abstoßenden, benachteiligten Helden
In einem Interview mit der FAZ am 05.Februar 2005 beschreibt Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki den inhaltlichen Aufbau des Romans „Das Parfum“ kurz mit den Worten: „[Patrick Süskind] beginnt die Geschichte seines abstoßenden Helden, eines wahrlich Zukurzgekommenen, eines von der Natur auf schon grausame Weise Benachteiligten, mit dessen Geburt und schließt sie mit dessen Tod.“[1] Worte, die dem Protagonisten Jean-Baptiste Grenouille, der gleichzeitig als Antiheld identifiziert werden kann, ausschließlich negative Eigenschaften zuschreiben. Eigenschaften, welche es einem Individuum erschweren, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
„Der Mensch, ohne Körperkräfte und ohne eingeborene Ideen auf diesen Erdball geworfen und außerstande, aus eigener Kraft den in ihm angelegten Gesetzen seiner Organisation zu gehorchen, die ihn dazu berufen, im System der Schöpfung den ersten Platz einzunehmen, kann nur im Schoß der Gesellschaft den hervorragenden Platz finden, der ihm von der Natur zugedacht ist, und wäre ohne die Zivilisation eines der schwächsten und unverständlichsten Tiere.“[2]
Diese Erkenntnis fasste der Arzt Jean Itard bezüglich der Untersuchung an Victor von Aveyron, welcher nicht unter Menschen aufwuchs und dem erfolglosen Versuch unterlag in die Gesellschaft integriert zu werden. Gegensätzlich zu dem so genannten „Wilden von Aveyron“ wächst Jean-Baptiste Grenouille inmitten der französischen Gesellschaft auf. Er verfügt jedoch, ähnlich wie Victor ein überdurchschnittlich gutes Hörorgan besaß, über einen exzellent ausgeprägten Geruchssinn und hat Probleme mit der menschlichen Sprache.
Grenouille, endscheidet sich im Verlauf der weiteren Geschichte, sich von anderen zu distanzieren und lebt fernab der Zivilisation in einer Höhle. Dieser Hergang suggeriert dem Leser, Grenouille sei ein Sonderling. Ein Andersartiger, der es aufgrund seines fehlenden Eigengeruchs nicht vermag, seinen Platz im Schoße der Gesellschaft zu finden. Doch ist es der Protagonist selbst, der das Schicksal des Außenseiters wählt, oder ist es die Gesellschaft, die ihm vermittelt, er sei kein gleichwertiger Mensch; er sei anders als Andere und verdiene daher keinen Platz unter ihnen? Dies ist die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit, welche im Folgenden genauer betrachtet wird.
2. Patrick Süskinds Das Parfum- eine Geschichte über die gesellschaftliche Ausgrenzung eines Andersartigen?
Der weitere Verlauf der Arbeit umfasst eine Analyse der Geschichte auf den erzähltheoretischen Grundlagen des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette.
Die Fragestellung wird zunächst auf inhaltlicher Ebene verfolgt, wobei die Ergebnisse durch die narrativen Aspekte gestützt werden. Die Verflechtung dieser beiden Ebenen soll letztendlich die Erkenntnis darüber erbringen, ob es sich bei Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ um eine gesellschaftliche Ausgrenzung handelt, der der Protagonist schließlich unterliegt.
2.1. Die Geburtsstunde des Sonderbaren
Die Geschichte des Protagonisten beginnt vor seiner Geburt. Proleptisch wird zunächst angedeutet welche Entwicklung der Protagonist im weiteren Verlauf des Romans durchlebt, dass er Scheusalen wie „etwa de Sade[…], Saint-Just[…], Fouché[…], Bonaparte[…] usw.“, (S. 5) ähneln werde, welchen er dabei an „Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit“ (S. 5) in nichts nachstünde. So entsteht schon vor der Geburt von Jean-Baptiste Grenouille der Eindruck, es entwickle sich im weiteren Verlauf eine Persönlichkeit, die sich nur schwer in die Gesellschaft eingliedern könne und ebenso wenig von dergleichen akzeptiert werden kann. Nach der Einblendung einer deskriptiven Pause, bei dem zunächst der Schauplatz des Geschehens, das Paris des 18. Jahrhunderts, wie ein statisches Gemälde beschrieben wird, beginnt der heterodiegetische Erzähler die Geburtstunde Grenouilles zu beschreiben.
Grenouilles Mutter, die vor ihm schon vier Kinder gebar, bringt ihren Sohn unter dem Schlachttisch ihres Fischstandes zur Welt. Ausgehend von der Tatsache, dass die Erzählinstanz neben den beschriebenen Hoffnungen der jungen Frau, wie z.B. „noch lange zu leben, vielleicht fünf oder zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten“ auch das Wissen darüber besitzt, was während ihrer Ohnmacht nach der Geburt Grenouilles geschieht, beweist bei der Frage „ wer sieht ?“ das Vorliegen der Nullfokalisierung im Sinne Genettes. Auch besitzt die Erzählinstanz hier ein größeres Wissen als die Hauptperson selbst, da es Grenouille nicht möglich sein kann, sich an Geschehnisse während, und kurz nach seiner Geburt zu erinnern. Durch den Einsatz der Nullfokalisierung, erfährt man weiterhin über die Frau, dass sie unverheiratet ist, Grenouille demnach also als uneheliches Kind geboren wird. Gekoppelt mit der Nullfokalisierung weist die Erzählerinstanz bei der Beschreibung der Geburt einen narrativen Modus auf, welcher nach Genette in die Kategorie der Distanz, genauer unter die Erzählung von Ereignissen fällt. Entgegen dem zum Distanz verringernden dramatischen Modus der Nachahmung (Mimesis) findet sich hier die „reine (dialogfreie) Erzählung“[3] wieder, wobei die Umsetzung von Nichtsprachlichem in Sprachliches mit einer Zeitraffung und der Zunahme von Distanz einhergeht. So wird die gesamte Geburt kurz mit den Worten „Und als die Preßwehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor, und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab.“ (S. 8) beschrieben. Der Einsatz des narrativen Modus und die Verwendung der Nullfokalisierung, die nicht an die Wahrnehmung einer Figur gebunden ist, bringen eine solch erschreckende Distanz zutage, dass der Leser kaum eine Möglichkeit hat, mit der „Geburt unter dem Schlachttisch“ (S. 9) Mitleid zu haben und erschwert den Gedanken, das Neugeborene als Teil der menschlichen Gesellschaft anzusehen.
2.2. Über die ersten pränatalen Versuche der Eingliederung
Nachdem Grenouilles Mutter aufgrund des versuchten Kindsmordes geköpft wurde, wechselt der Erzähler von der bis dahin angewandten chronologischen Reihenfolge der Erzählung zu einer Anachronie, die innerhalb der Genette’schen Kategorie unter dem Begriff Ordnung aufgeführt wird. Eingeleitet durch den Satz „Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme gewechselt“ (S. 9) wird eine Analepse dargestellt und zeigt, dass sich vor der Enthauptung der Mutter bereits weitere Geschehnisse bezüglich Grenouille zugetragen haben. Der bisherigen Basiserzählung (Tod der Mutter) gehen demnach Ereignisse (Grenouille wechselte bis dahin mehrfach die Amme) voraus, die zu einem früheren Zeitpunkt stattfanden.[4] Genauer bezeichnet Genette diese Art der Anachronie als interne Analepse, welche „einen Strang der Geschichte, bzw. einen diegetischen Inhalt betreffen, der sich von dem […] der Basiserzählung unterscheidet“[5] Angewandt werden diese internen, oder auch heterodiegetischen Analepsen, wenn eine Person neu eingeführt wird oder, wie im Fall Grenouilles, wenn die jüngste Vergangenheit einer Person für den weiteren Verlauf der Erzählung wichtig erscheint. Es ändert sich somit der Fokus der Basiserzählung, die bisher die Vorgeschichte und den Tod von Grenouilles Mutter beinhaltete und wendet sich ab diesem Zeitpunkt der Geschichte des Protagonisten zu. Bezüglich der frühkindlichen Geschichte Grenouilles erscheint hier eine starke Zeitraffung (Summary), welche Genette zur Kategorie der Dauer, also zur Zeitebene zählt. So wird ein hohes Ausmaß an Geschichte (histoire) in relativ kurzer Zeit (discourse) erzählt. Welche Erfahrungen genau Grenouille bei den jeweiligen Ammen macht, scheint weniger wichtig zu sein. Wichtig ist eher der Fakt, dass er diesen steten Wechsel überhaupt durchmachen muss. Durch die Anwendung dieser Zeitraffung reduziert die Erzählinstanz Grenouilles erste Lebenswochen auf den wichtigsten Aspekt seines jungen Daseins: Die bereits beginnende soziale Distanz, deren Grund und Form der Übermittlung im Weiteren noch näher beleuchtet wird.
Die nächste wichtige Etappe in Grenouilles Leben wird durch eine bestimmte Ellipse, also eine zeitliche Aussparung innerhalb der Geschichte[6], eingeleitet: „Einige Wochen später“ (S. 11) wird er von der Amme Jeanne Bussie, bei welcher er innerhalb der ausgelassenen Zeit gelebt hat, zu Pater Terrier gebracht. Im Weiteren ändert sich hier unter anderem die Dauer innerhalb der Zeitebene, da sich die Erzählzeit (discourse) nun der erzählten Zeit (histoire) annähert. Auch die Distanz innerhalb des Modus verändert sich. Der Leser findet sich in einem Dialog zwischen Amme und Pater wieder, wobei die Erzählinstanz hier zwischen dem narrativen Modus der reinen Erzählung (Erzählung von Ereignissen) und dem dramatischen Modus der direkten Figurenrede, oder wörtlich nach Genette die berichtete Rede[7] (Erzählung von Worten) hin und her wechselt. Durch die erzeugte Illusion, es seien die Figuren, die reden und nicht der Dichter selbst[8], wird dem Leser in unmittelbarer Distanz der Grund für die gewünschte Übergabe des Jungen mitgeteilt. Die berichtete Rede, die Genette auch als den dramatischen Typ[9] bezeichnet, zieht den Leser durch ihre mimesische Form in das Geschehen hinein. Man bekommt ein Gefühl für die Figur der Amme, sowie Verständnis für ihren Grund das Kind abzugeben, denn man ist aufgrund der Unmittelbarkeit der direkten Figurenrede geneigt, ihre Angst zu verstehen, dass das Kind vom Teufel besessen sei, da es keinen Eigengeruch habe. Der Rezipient tendiert sogar dazu sich zu fragen, was er an ihrer Stelle tun würde. So erhält der Leser nach der oben genannten Zeitraffung, ein weiteres Indiz dafür, dass Grenouille von seiner Umgebung nicht akzeptiert wird und bekommt in unmittelbarer Distanz innerhalb der direkten Figurenrede zusätzlich den Grund für diese Ablehnung mitgeteilt.
Doch ist es nicht nur der offene Dialog, der uns den Grund für Grenouilles Andersartigkeit entgegenbringt. So ist es später die „in erlebter Rede wiedergegebene[…] Reflexion des Paters zu diesem Dialog[, die die Frage behandelt,] wie denn ‚normale‘ Kinder – sozusagen: empirisch nachweisbar – riechen“[10] Die erlebte Rede, die Genette der Kategorie der transponierten Rede zuweist um die Erzählung von Worten auszudrücken, stellt innerhalb der Gedankenrede den Bewusstseinsinhalt einer Figur dar, der in einer unmittelbareren Form erscheint als die erzählte Rede. Jedoch „fehlt dieser Form […] die Buchstäblichkeit, d.h. der Leser weiß nie, wie die ‘wirklich‘ gesprochenen Worte aussahen.“[11] Genette macht hier keine Unterscheidung zwischen der Darstellung der Gedankenrede und der gesprochenen Rede. So erfährt man nach dem Dialog mit der Amme einige persönliche Eindrücke aus der Sicht Pater Terriers. Nachdem er den Jungen an sich genommen hat, sinnt der Pater über die Aussagen der Amme nach. Er versucht seinen Verstand zu nutzen, indem er sich erinnert, dass sich „die meisten Fälle von sogenannter Teufelsbesessenheit und Satansbündelei [...] bei näherer Betrachtung als abergläubisches Spektakel“ (S. 19) erwiesen, zweifelt dazu die Aussagen der Amme an. Seine Erklärungsversuche entstammen dem „phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des Kindes.“ (S. 22) Die dargestellten Gedanken zeigen eine Art reflektiertes Ich des Paters, welcher zwar nicht den originalen Wortlaut wiedergibt, bilden aber im Wechselspiel mit der eingesetzten unmittelbaren Rede, durch die die, an Grenouille gerichteten Worte des Paters verdeutlicht werden, eine Form der Spannungserhöhung. Beschützende Worte wie „Du röchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschämte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!“ (S. 20), werden ohne verbum dicendi eingeleitet und treiben den Akt der Mimesis an den äußersten Rand, wobei „so auch noch die letzten Spuren der narrativen Instanz“[12] getilgt werden. Dieser Wechsel zwischen unmittelbarer Rede und der Gedankenoffenbarung in erlebter Rede stützt den Wahrheitsgehalt der Aussagen, die der Geistliche dem Kind unmittelbar zukommen lässt und weckt zunächst die Hoffnung, dass Grenouille in Pater Terrier einen Menschen gefunden hat, der ihn als gleichartig ansieht, der ihn nicht, wie die Ammen zuvor, aus seinem Leben verbannen möchten.
Diese Hoffnung wird jedoch bereits in den nächsten Zeilen zerstört. Ein weiterer Wechsel zurück zur erlebten Rede schildert die Gefühle, die Pater Terrier erfassen als das Kind aus seinem Schlaf erwacht und ihn aufgrund seines überdurchschnittlich gut ausgebildeten Geruchsinns zunächst mit seiner Nase wahrnimmt. Dieses Verhalten macht es dem Geistlichen unmöglich, Grenouille als menschliches Wesen anzuerkennen. Dem Leser, welcher vorher durch die unmittelbare Rede und die offengelegten Gedanken des Paters in das Geschehen involviert wurde, fällt es leicht, Terriers Reaktion zu verstehen. Die Gedanken der Bloßstellung, die Pater Terrier durch Grenouilles Verhalten in den Sinn kommen und bei denen er „sich nackt und häßlich vor[kommt], wie begafft von jemandem, der seinerseits nichts von sich preis[gibt]“ (S. 23), bewirken, dargestellt durch die erlebte Rede, eine Identifikation des Rezipienten mit dem Leidtragenden. Wieder wird deutlich, dass es sich bei Grenouille nicht um ein gewöhnliches Kind handeln kann. So ist es für den Leser verständlich, dass der Pater bemüht ist, das Kind alsbald in ein weit abgelegenes Heim zu bringen und sympathisiert geradezu mit der Abschiebung des Jungen.
[...]
[1] Reich-Ranicki, Marcel: Fragen Sie Reich-Ranicki: Was halten Sie von Süskinds „Parfum“?. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 5, 05. Februar 2006, S. 29
[2] Schwarte, Johannes: Der werdende Mensch: Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute, S. 122
[3] Genette, Gérard: Die Erzählung. 2. Aufl., S. 201
[4] Vgl. Genette 1998, S. 32
[5] Genette 1998, S. 33
[6] Vgl. Genette 1998, S. 76
[7] Vgl. Genette 1998, S. 123
[8] Vgl. Genette 1998, S. 116
[9] Vgl. Genette 1998, S. 123
[10] Scherf, Rainer: Der verführte Leser: Eine Interpretation von Patrick Süskinds ‚Das Parfum‘, S. 65
[11] Genette 1998, S. 122
[12] Genette 1998, S. 123