Die Haltung der Franzosen gegenüber dem in Belgien gesprochenen Französisch war lange Zeit herablassend. Die so genannten histoires belges, eine Modeerscheinung wie etwa die Ostfriesenwitze in Deutschland, verbreiteten „kollektive Zerrbilder vom langsamen, Pommes frites essenden Belgier, der in jedem Satz une fois und allez sagt“.1 Sprachliche Abweichungen von der Pariser Norm wurden, so scheint es, im benachbarten Belgien noch weniger toleriert als in anderen Gebieten der Frankophonie.
„Der Belgier“, schreibt Heinz Jürgen Wolf, „hat diese Haltung nicht nur zur Kenntnis, sondern sich auch zu Herzen genommen und vielfach einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt“.2 Die sprachliche Unsicherheit ging so weit, dass Anfang der siebziger Jahre ein Ratgeber mit dem Titel Chasse aux belgicismes, dessen erklärtes Ziel die Eliminierung sprachlicher Besonderheiten im belgischen Französisch war, die Bestsellerlisten anführte.3
Doch ist nach jahrhundertelang praktiziertem Sprachpurismus in den letzten Jahrzehnten das sprachliche Selbstbewusstsein großer Teile der Frankophonie gewachsen, und die zahlreichen Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs werden zunehmend anerkannt. In der Linguistik ersetzt eine deskriptive Herangehensweise nach und nach die präskriptive. Auch die Belgier haben begonnen, sich auf den Wert ihrer linguistischen Besonderheiten zu berufen.4
Historisch betrachtet handelt es sich bei dem Französischen Belgiens und dem Französischen Frankreichs um zwei nationale Varianten des nördlichen Galloromanischen. Die Besonderheiten des belgischen Französisch erklären sich zum einen durch die Geschichte, zum anderen durch die sprachliche Heterogenität Belgiens und seine geographische Lage zwischen romanischem und germanischem Sprachraum. Deshalb soll zunächst beleuchtet werden, wie es historisch zur Ausbildung der komplexen Sprachensituation kam und welche Sprachen und Dialekte die belgische Varietät geprägt haben.
Der Bereich der Lexik, auf den ich mich hier beschränke, weist im Vergleich zum Standardfranzösischen eindeutig die meisten Unterschiede auf. Als lexikalische Belgizismen sollen in dieser Arbeit Einzelwörter, Komposita, Syntagmen sowie vereinzelt auch Wendungen behandelt werden. Ich werde zeigen, dass die lexikalischen Besonderheiten sich nicht immer auf das belgische Staatsgebiet beschränken, weshalb sich der Terminus Belgizismus auf unterschiedliche Weise definieren lässt. [...]
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Die Sprachensituation in Belgien
- II.1. Die Sprachen und Dialekte heute
- II.2. Historischer Überblick
- II.3. Brüssel als Sonderfall
- III. Der Terminus Belgizismus
- III.1. Die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem belgischen Französisch
- III.2. Definition
- III.3. Frequenzbedingte Besonderheiten
- III.4. Konnotation und Register
- IV. Problematik der Kategorisierung von Belgizismen
- V. Verbreitung
- V.1. Auftreten in Belgien und im französischen Sprachgebrauch mit Bezug auf Belgien
- V.1.1. Politik, Verwaltung und öffentliches Leben
- V.1.2. Bildungswesen
- V.1.3. Kulinarische Besonderheiten und Lebensmittel
- V.1.4. Alltag
- V.2. Auftreten in Frankreich und in anderen frankophonen Ländern
- V.2.1. Frankreich
- V.2.2. Schweiz
- V.2.3. Luxemburg
- V.2.4. Kanada
- V.2.5. Ruanda und Zaïre
- V.1. Auftreten in Belgien und im französischen Sprachgebrauch mit Bezug auf Belgien
- VI. Die Entstehung lexikalischer Besonderheiten in Belgien
- VI.1. Archaismen
- VI.2. Neologismen
- VI.3. Romanischer Einfluss
- VI.3.1. Belgoromanische Dialekte
- VI.3.2. Latein
- VI.3.3. Spanisch
- VI.4. Germanischer Einfluss
- VI.4.1. Deutsch
- VI.4.2. Niederländisch
- VI.4.3. Englisch
- VII. Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Belgien, sogenannte Belgizismen. Ziel ist es, diese Besonderheiten zu kategorisieren, ihre Verbreitung zu analysieren und ihre Entstehung zu beleuchten. Dabei wird auch die historische Entwicklung der Sprachensituation in Belgien berücksichtigt.
- Historische Entwicklung der Sprachensituation in Belgien
- Definition und Kategorisierung von Belgizismen
- Verbreitung von Belgizismen in Belgien und anderen frankophonen Ländern
- Entstehung von Belgizismen durch verschiedene Einflüsse (romanisch, germanisch)
- Sprachwissenschaftliche Bewertung der Belgizismen und Überwindung von sprachlichen Vorurteilen
Zusammenfassung der Kapitel
I. Einleitung: Die Einleitung beschreibt die lange Zeit herablassende Haltung der Franzosen gegenüber dem belgischen Französisch und die damit verbundene Unsicherheit der Belgier. Sie führt den Wandel hin zu einer deskriptiven anstatt präskriptiven Betrachtungsweise in der Linguistik an und begründet die Fokussierung auf die Lexik als Bereich mit den größten Unterschieden zum Standardfranzösisch. Das Ziel der Arbeit wird definiert: die Kategorisierung von Belgizismen nach Verbreitung, Sachgebiet und Herkunft, um die Abweichungen vom Standardfranzösisch zu erklären und die normative Kritik zu widerlegen. Die Komplexität und Heterogenität des belgischen Französisch wird ebenfalls angesprochen.
II. Die Sprachensituation in Belgien: Dieses Kapitel beleuchtet die komplexe Sprachensituation in Belgien, indem es die gegenwärtigen Sprachen und Dialekte beschreibt, einen historischen Überblick über deren Entwicklung gibt und den Sonderfall Brüssel als multisprachiges Zentrum betrachtet. Es legt den Grundstein für das Verständnis der vielfältigen Einflüsse auf das belgische Französisch.
III. Der Terminus Belgizismus: Dieses Kapitel befasst sich mit der Definition und der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff "Belgizismus". Es untersucht frequenzbedingte Besonderheiten, Konnotationen und Register des belgischen Französisch, um ein umfassendes Bild der lexikalischen Besonderheiten zu zeichnen. Die Schwierigkeit, eine endgültige und umfassende Liste von Belgizismen zu erstellen, wird ebenfalls thematisiert.
IV. Problematik der Kategorisierung von Belgizismen: Dieses Kapitel analysiert die Herausforderungen bei der Einordnung und Klassifizierung von lexikalischen Besonderheiten des belgischen Französisch. Es unterstreicht die Komplexität des Prozesses und die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtungsweise.
V. Verbreitung: Dieses Kapitel untersucht die Verbreitung von Belgizismen in Belgien und anderen frankophonen Regionen. Es analysiert deren Auftreten in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens (Politik, Verwaltung, Bildung), im kulinarischen Bereich und im Alltag. Die geographische Verteilung und die Unterschiede im Gebrauch werden detailliert beschrieben.
VI. Die Entstehung lexikalischer Besonderheiten in Belgien: Dieses Kapitel erforscht die Ursprünge der lexikalischen Besonderheiten im belgischen Französisch. Es untersucht den Einfluss von Archaismen, Neologismen, sowie romanischen (belgoromanische Dialekte, Latein, Spanisch) und germanischen (Deutsch, Niederländisch, Englisch) Sprachen. Die verschiedenen Quellen werden analysiert und deren Beitrag zur Entwicklung des belgischen Französisch erläutert.
Schlüsselwörter
Belgizismen, Französisch in Belgien, Sprachensituation Belgien, Sprachgeschichte, Lexik, Lexikalische Besonderheiten, Romanische Sprachen, Germanische Sprachen, Sprachvariation, Sprachkontakt, Sprachwandel, Deskriptive Linguistik, Präskriptive Linguistik.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu: Lexikalische Besonderheiten des Französischen in Belgien
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit untersucht die lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Belgien, die sogenannten Belgizismen. Sie analysiert deren Kategorisierung, Verbreitung und Entstehung, unter Berücksichtigung der historischen Sprachentwicklung in Belgien.
Welche Themen werden behandelt?
Die Arbeit behandelt die historische Entwicklung der Sprachensituation in Belgien, die Definition und Kategorisierung von Belgizismen, ihre Verbreitung in Belgien und anderen frankophonen Ländern, deren Entstehung durch romanische und germanische Einflüsse, sowie eine sprachwissenschaftliche Bewertung und die Überwindung sprachlicher Vorurteile.
Wie ist die Arbeit strukturiert?
Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel: Einleitung, Sprachensituation in Belgien, Der Terminus Belgizismus, Problematik der Kategorisierung von Belgizismen, Verbreitung, Entstehung lexikalischer Besonderheiten in Belgien und Schlussbetrachtung. Jedes Kapitel befasst sich mit einem spezifischen Aspekt der Belgizismen.
Was sind Belgizismen?
Belgizismen sind lexikalische Besonderheiten des Französischen, die in Belgien verwendet werden und sich vom Standardfranzösisch unterscheiden. Die Arbeit untersucht verschiedene Aspekte dieser Besonderheiten, einschließlich ihrer Häufigkeit, Konnotationen und ihres Registergebrauchs.
Wie werden Belgizismen kategorisiert?
Die Kategorisierung von Belgizismen stellt eine Herausforderung dar, die in der Arbeit ausführlich diskutiert wird. Die Komplexität des Prozesses und die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtungsweise werden hervorgehoben.
Wo sind Belgizismen verbreitet?
Belgizismen sind primär in Belgien verbreitet, finden sich aber auch in anderen frankophonen Ländern. Die Arbeit analysiert deren Auftreten in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens (Politik, Verwaltung, Bildung), im kulinarischen Bereich und im Alltag, und beschreibt die geographische Verteilung und Unterschiede im Gebrauch.
Woher stammen Belgizismen?
Die Entstehung von Belgizismen wird auf verschiedene Einflüsse zurückgeführt: Archaismen, Neologismen, sowie romanische (belgoromanische Dialekte, Latein, Spanisch) und germanische (Deutsch, Niederländisch, Englisch) Sprachen. Die Arbeit analysiert die verschiedenen Quellen und deren Beitrag zur Entwicklung des belgischen Französisch.
Welche Schlussfolgerungen zieht die Arbeit?
Die Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen und bietet ein umfassendes Bild der lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Belgien. Sie trägt zum Verständnis der sprachlichen Vielfalt und der komplexen Sprachgeschichte Belgiens bei.
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Schlüsselwörter sind: Belgizismen, Französisch in Belgien, Sprachensituation Belgien, Sprachgeschichte, Lexik, Lexikalische Besonderheiten, Romanische Sprachen, Germanische Sprachen, Sprachvariation, Sprachkontakt, Sprachwandel, Deskriptive Linguistik, Präskriptive Linguistik.
Für wen ist diese Arbeit relevant?
Diese Arbeit ist für Linguisten, Sprachwissenschaftler, Belgien-Experten und alle Interessierten an Sprachvariation und Sprachgeschichte relevant.
- Quote paper
- Kristin Hammer (Author), 2002, Untersuchungen zu den lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Belgien, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/30217