Im Sommer 2014 wurde der Öffentlichkeit bekannt, dass im Bundeskanzleramt eine Projektgruppe unter dem Namen "Wirksam regieren“ firmiere, mit der Absicht verhaltensökonomische Erkenntnisse bei der Konzeption von Vorhaben stärker zu berücksichtigen.
Das Vorhaben, die Sicht der Bürgerinnen und Bürger stärker miteinzubeziehen, indem Erkenntnisse der Psychologie in das Regierungshandeln integriert werden, klingt rühmlich und wird von den Regierungen der USA und Großbritannien schon seit geraumer Zeit praktiziert. Nichtsdestotrotz erfährt dieser Entschluss in den deutschen Medien eine weitgehend negative Rezeption und wird mitunter als "Manipulation", "Anwenden von Psychotricks" und als "besonders hinterhältig" charakterisiert.
So stellen sich mitunter einige Fragen:
Was verbirgt sich hinter den Psychologen im Kanzleramt?
Führen verhaltensökonomische Erkenntnisse tatsächlich zu einem wirksameren Regierungshandeln?
Oder wird der Bürger mithilfe von "Psychotricks" gar zu erwünschtem Verhalten gezwungen?
Eng damit verbunden sind die Begriffe "Nudge" und "Libertärer Paternalismus". Diese sowie die dahinterliegenden psychologischen Mechanismen werden in der nachfolgenden Arbeit umfassend beleuchtet. Des Weiteren werden ausgewählte Nudge-Initiativen vorgestellt und kritisch hinterfragt.
Nudge
Politische Einflussnahme mithilfe von Erkenntnissen der Psychologie
Vorgelegt von: Victoria Warkentin
Am: 29.12.2014
Art der Arbeit: Hausarbeit
Modul: Psychologie makroökonomischer Prozesse
Studiengang: Wirtschaftspsychologie (B. Sc.)
Fachhochschule Bielefeld
Fachbereich Wirtschaft und Gesundheit
Wintersemester 14/15
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. 1
2. Zentrale Begriffe. 2
2.1 Nudge. 2
2.2 Libertärer Paternalismus. 3
2.3 Zwei Denksysteme nach Kahneman.. 4
3. Menschliche Verhaltensanomalien und Wirkungsweisen von Nudges. 4
3.1 Trägheit 5
3.1.1 Defaults verwenden.. 5
3.1.2 Vereinfachen.. 6
3.2 Framing. 7
3.2.1 Verlustaversion ansprechen.. 8
3.2.2 Salienz erhöhen.. 9
3.3 Soziale Information.. 9
3.3.1 Soziale Normen betonen und Konformität erzeugen.. 10
3.3.2 Wettbewerb und Reziprozität hervorrufen.. 11
4. Beispiele für praktisch umgesetzte Nudges. 11
4.1 Erfolgreiche Nudges. 12
4.1.1 Rauchverbot am Flughafen.. 12
4.1.2 Steuermoral in Großbritannien.. 13
4.1.3 Dachsanierung und Entrümpelung. 13
4.2 Fehlgeschlagene Nudges. 14
4.2.1 Doppelseitiges Drucken.. 14
4.2.2 Fettreduzierte Chips. 15
5. Kritik an Nudging. 15
6. Resümee. 16
Literaturverzeichnis. 19
1. Einleitung
Unter dem Titel „Alchemie im Kanzleramt“ widmete der Spiegel einem besorgniserregend erscheinenden Phänomen einen umfangreichen Artikel. Der Leser wird in dem Artikel darüber informiert, dass im Bundeskanzleramt seit kurzer Zeit eine rätselhaft anmutende Projektgruppe unter dem Namen „Wirksam regieren“ firmiert, der man die Absicht unterstellen kann „Psychotricks“ anzuwenden und dabei eine „besonders hinterhältige Form der Gängelei“ zu sein (Neubacher, 2014b, S. 34). In der Regierungspressekonferenz vom 25. August 2014 nahm ein Sprecher zu der Frage eines Reporters Stellung, ob Deutschland nun im „Guru-Stil“ regieren wolle, zumal das Kanzleramt in einer Stellenausschreibung angab, nach Psychologen und Verhaltensökonomen mit hervorragenden soziologischen und anthropologischen Kenntnissen zu suchen (Bundesregierung, 2014b). Der Sprecher erklärte, dass der Kern der Projektgruppe darin liege, verhaltensökonomische Erkenntnisse bei der Konzeption von Vorhaben stärker zu berücksichtigen (ebd.).
Das Vorhaben, die Sicht der Bürgerinnen und Bürger stärker miteinzubeziehen, indem neueste Erkenntnisse der Verhaltensökonomie in das Regierungshandeln integriert werden (Bundesregierung, 2014a), klingt rühmlich. Nichtsdestotrotz erfährt dieser Entschluss in den deutschen Medien eine weitgehend negative Rezeption, die vor allem darauf beruht, dass der Staat, sollte er das neue Wissen tatsächlich einsetzen, als bevormundend und manipulativ charakterisiert wird (siehe z. B. Horn, 2013).
So stellt sich die Frage, ob die mediale Kritik berechtigt ist oder lediglich aus Unwissenheit über die wahren Hintergründe und Angst vor Veränderung geäußert wird. Des Weiteren ist es interessant aufzudecken, ob die verhaltensökonomischen Erkenntnisse tatsächlich zu einem wirksameren Regierungshandeln führen und die derzeitige Sozialpolitik revolutionieren können, oder ob sie vielleicht doch unbedeutender sind als erwartet.
In der nachfolgenden Arbeit werden diese Fragen angegangen und nach Möglichkeit beantwortet. Die von der Bundesregierung geplante Vorgehensweise ist eng verbunden mit den Begriffen „Nudge“ und „Libertärer Paternalismus“, welche im folgenden Kapitel explizit erläutert werden. Diesem relativ neuen Forschungsfeld gehen Erkenntnisse voraus, die die Forscher Tversky und Kahneman hinsichtlich der „Zwei Denksysteme des Menschen“ einige Jahrzehnte zuvor gemacht haben und welche hier im Wesentlichen vorgestellt werden. Im dritten Kapitel werden menschliche Verhaltensanomalien vorgestellt und auch, welche Rückschlüsse sich daraus für das Regierungshandeln ziehen lassen. Im Anschluss werden ausgewählte Initiativen, in denen Nudges bereits angewandt wurden, beispielhaft dargestellt. Um ein umfassenderes Bild von Nudging zu erhalten, setzt sich das fünfte Kapitel mit kritischen Stimmen auseinander. Schließlich werden die Ergebnisse in einem Resümee reflektiert und zusammengefasst.
2. Zentrale Begriffe
2.1 Nudge
Der Begriff „Nudge“ kommt aus dem Englischen und wird ausgehend von Thaler und Sunstein (2009) übersetzt mit:
„sanft schubsen“ oder „leicht in die Rippen stoßen, besonders mit dem Ellbogen“. Es geht darum, jemanden auf diese Weise einen Schubs zu geben, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen, an etwas zu erinnern oder sanft zu warnen. (S. 13)
Durch die Professoren Thaler und Sunstein hat sich „Nudge“ bzw. „Nudging“ als Sammelbegriff für unterschiedliche Techniken etabliert, die mithilfe von informierenden sozialen Hinweisreizen Menschen Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung geben sollen, welche sich letztlich positiv auf ihr persönliches bzw. das Wohlergehen der Gesamtbevölkerung auswirken soll (John, 2013). Im Gegensatz zu Gesetzen und Verboten sollen Nudges dabei jedoch die Wahlfreiheit wahren (John, 2013), auf Freiwilligkeit beruhen, kostengünstig sein, weniger staatliche Intervention erfordern und leicht revidierbar sein, falls sie sich als unwirksam erweisen (Neubacher, 2014a). Dabei nehmen Nudges eine gestaltende Rolle ein, indem sie eine sogenannte „Entscheidungsarchitektur“ (Neubacher, 2014a) bereitstellen. Die Entscheidungsarchitektur sind Rahmenbedingungen, die von Akteuren in Politik und Wirtschaft in Form von Voreinstellungen oder Regeln festgelegt werden und so einen Einfluss auf Entscheidungen ausüben (Thaler Sunstein, 2009). Ein Individuum ist im Alltag stets diversen Entscheidungsarchitekturen und somit auch Nudges ausgesetzt, auch wenn diese nicht als solche wahrgenommen werden. Aktiv sollen Nudges in Situationen eingesetzt werden, in denen Menschen Entscheidungen treffen müssen, „die schwierig und selten zu treffen sind, bei denen sie nicht umgehend Rückmeldung bekommen und nicht alle Aspekte problemlos verstehen können“ (Thaler Sunstein, 2009, S. 106).
2.2 Libertärer Paternalismus
Das zugrundeliegende Konzept, das untrennbar mit Nudge verbunden ist, ist das des „Libertären Paternalismus“ (von einigen Autoren, z.B. Neubacher(2014a) auch als „Sanfter Paternalismus“ oder von Beck (2014) als „Liberaler Paternalismus“ bezeichnet). Paternalismus wird von Sunstein (2014) wie folgt definiert: „[The] government does not believe that people's choices will promote their welfare, and it is taking steps to influence or alter people's choices for their own good” (S. 54).
Im Gegensatz zum harten Paternalismus besteht jedoch die wesentliche libertäre Komponente, sodass die paternalistische Führung dem Individuum nicht aufgezwungen werde, sondern dazu beitrage, „dass wir unseren eigenen Willen verwirklichen und unsere wahren Ziele erreichen“(Neubacher, 2014a, S. 240) und von unseren Freiheitsrechten Gebrauch machen können (Thaler Sunstein, 2009). Seine Legitimation sieht der libertäre Paternalismus darin, dass er Menschen zu einem längeren, gesünderen und besseren Leben bewegt und Entscheidungsoptionen aufzeigt, die Individuen ohnehin selbstständig getroffen hätten, wenn sie „richtig aufgepasst hätten, umfassend informiert wären und unbegrenzte kognitive Fähigkeiten sowie absolute Selbstkontrolle besäßen“ (ebd.) oder um es mit den Worten Whitmans (2006) zu sagen: „You know what’s best for you, and we’ll make you do it”. Als Abgrenzung zum harten Paternalismus wird dem sanften Paternalismus auch die Eigenschaft zugeschrieben, Entscheidungen nicht mit materiellen bzw. schwerwiegenden Kosten zu belasten (Sunstein, 2014). Schwerwiegende Kosten wären beispielsweise Haftstraßen und Geldbußen, wobei Kosten, die im libertären Paternalismus auftreten beispielsweise ein höherer Zeitaufwand, Beanspruchung kognitiver Ressourcen oder ein geringerer Komfort wären.
2.3 Zwei Denksysteme nach Kahneman
In seinem Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ macht Kahneman zwei Systeme aus, die das menschliche Denken beeinflussen. Auf der einen Seite besteht das System 1, das automatisch, schnell, mühelos und ohne willentliche Steuerung läuft. Das System 2 wirkt durch mental anspruchsvolle Aktivitäten, die bewusst, logisch und kontrolliert erfolgen und aus denen willentliche Entscheidungen und Handlungen resultieren (Kahneman, 2012). System 1 ist fortwährend aktiv und bestimmt den Großteil alltäglicher Aktivitäten, wobei es Informationen an System 2 weiterleitet, welches diese auf Relevanz hin prüft. Kahneman (2012) bezeichnet dieses Zusammenspiel als „höchst effizient“ (S. 38), da somit der Aufwand maßgeblich reduziert und Problemlösungen optimiert werden. Das Eingreifen von System 2 erfordert Selbstkontrolle und somit Anstrengung, die von Individuen als unangenehm empfunden werden kann. Deshalb ist man bemüht, die Anstrengung möglichst gering zu halten, was in einigen Fällen allerdings zu irrationalem und schädlichem Verhalten führt. Um diese Systeme noch etwas plastischer darzustellen, setzt Thaler simultan zu den Begriffen System 1 und 2 die „Kunstfiguren“ Human und Econ ein (Thaler Sunstein, 2009). Econs haben die Eigenschaften des homo oeconomicus, der rational, egoistisch und vollkommen informiert ist (Wöhe, Kaiser Döring, 2013). Humans dagegen sind in ihrem Verhalten inkonsistent und produzieren systematisch „Fehler“, die den individuellen Nutzen verringern (Thaler Sunstein, 2009).
3. Menschliche Verhaltensanomalien und Wirkungsweisen von Nudges
Das Forschungsfeld der Behavioral Economics widmet sich explizit der systematischen Fehlerproduktion des Menschen (Wirtz, 2014). Aus diesen Erkenntnissen entwickelte sich Nudging, welches dieses Wissen in handhabbare Strategien integriert, die eine „Einführung und Folgenabschätzung von Regulierungsmaßnahmen“ erlauben (Speich Sunstein, 2013, S. 13). Da Menschen sich meist dem System 1 entsprechend verhalten, setzen Nudges hier an, um „den Bürger sanft in die gewünschte Richtung zu schubsen“(Neubacher, 2014b) und ihm „das Leben so leicht wie möglich zu machen“ (Thaler Sunstein, 2009, S. 25). Im Folgenden wird eine Auswahl dieser Verhaltensanomalien vorgestellt. Darauffolgend werden Nudge-Strategien erörtert, die einen Vorteil aus dem jeweiligen Denkfehler erzielen bzw. diesen umgehen.
[Dies ist eine Leseprobe. Grafiken und Tabellen sind nicht enthalten.]