Bei den Titeln „Der Geist der Mutter“ und „Eekenhof“ lässt sich auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit feststellen. Doch schenkt man der Literatur glauben, war Chamissos Gedicht die
Inspiration von Storms Novelle. Und ist einem das noch nicht genug, gibt es sogar einen Brief von Storm an Heyse, in dem er es selbst niederschreibt: „Damit du mich nun nicht ganz in
Resignation […] versunken meinest, will ich noch hinsetzen, da[ss] ich an einer Geschichte höchst vorsichtig schreibe […]: „Es klingt wie eine Sage“.[…] Die Veranlassung gab mir eine
Zeitschrift-Notiz über Chamissos „Geist der Mutter“.“
Aufgrund dieser Aussage ist die Frage, die man sich stellen sollte, nun nicht: „Wurde Storm von Chamisso inspiriert?“, denn diese Antwort ist bereits bekannt, sondern eher: „Inwiefern
verändert Storm die Geschichte damit dennoch Chamissos Einfluss erkennbar bleibt?“, oder kurz gesagt: „Wo ähneln sich Chamissos und Storms Werk und wo unterscheiden sie sich?“
Inhaltsangabe
1. Einleitung
2. Äußerer Aufbau
2.1. Das Gedicht „Der Geist der Mutter“ von Adelbert von Chamisso
2.2. Die Novelle „Eekenhof“ von Theodor Storm
3. Gemeinsame Motive beider Werke
3.1. Der Erbneid
3.2. Der Geist der Mutter
3.3. Der Rahmen der Einsamkeit
3.4. Das Mystische und das Mythische
3.5. Weitere Gemeinsamkeiten
3.5.1. Die Mutterliebe
3.5.2. Langes Fernbleiben des Sohnes
3.5.3. Keine Begrüßung vom Vater
4. Unterschiede
4.1. Die Familienumstände
4.2. Die Liebesgeschichte
5. Zusammenfassung und abschließender Gedanke
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Bei den Titeln „Der Geist der Mutter“ und „Eekenhof“ lässt sich auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit feststellen. Doch schenkt man der Literatur glauben, war Chamissos Gedicht die Inspiration von Storms Novelle. Und ist einem das noch nicht genug, gibt es sogar einen Brief von Storm an Heyse, in dem er es selbst niederschreibt: „Damit du mich nun nicht ganz in Resignation […] versunken meinest, will ich noch hinsetzen, da[ss] ich an einer Geschichte höchst vorsichtig schreibe […]: „Es klingt wie eine Sage“.[…] Die Veranlassung gab mir eine Zeitschrift-Notiz über Chamissos „Geist der Mutter“.“1
Aufgrund dieser Aussage ist die Frage, die man sich stellen sollte, nun nicht: „Wurde Storm von Chamisso inspiriert?“, denn diese Antwort ist bereits bekannt, sondern eher: „Inwiefern verändert Storm die Geschichte damit dennoch Chamissos Einfluss erkennbar bleibt?“, oder kurz gesagt: „Wo ähneln sich Chamissos und Storms Werk und wo unterscheiden sie sich?“ Obwohl das Gedicht und die Novelle 46 Jahre trennen und zwei verschiedene Epochen sowie Lebensumstände vorliegen, wurde Storm durch „Der Geist der Mutter“ angeregt, seine eigene Interpretation niederzuschreiben. Um die Umsetzung zu beurteilen und um eine Antwort auf alle Fragen zu bekommen, ist die effektivste Vorgehensweise das Vergleichen der beiden Schriften. Wichtig ist dabei, sicherzustellen, dass man nicht nur die Gemeinsamkeiten aufzeigt, sondern auch die Unterschiede entdeckt und analysiert. Hierbei wird sich von den offensichtlich Überschneidungen zu den kleinen, aber wichtigen Details vorgearbeitet. Nur somit bekommt man ein rundes Gesamtbild, mit dem man die Frage beantworten kann.
In der Forschung wurde der Vergleich genau dieser beiden Werke nicht häufig durchgeführt. Aus diesem Grund sind die beiden Primärtexte, das Gedicht und die Chroniknovelle, Hauptquelle der späteren Ergebnisse. Unvoreingenommen kann man beide betrachten und gegenüberstellen.
2. Äußerer Aufbau
Der offensichtlichste Unterschied begegnet einem schon am Anfang. Während Chamisso die Geschichte in Form eines Gedichtes niederschreibt, entscheidet sich Storm für eine längere und detailreichere Fassung als Novelle. Chamisso ist somit an mehr Vorgaben, wie Reimform oder Versmaß, gebunden. Storm hingegen sind kaum Grenzen gesetzt. Wie beide damit umgehen wird zunächst genauer untersucht.
2.1. Das Gedicht „Der Geist der Mutter“ von Adelbert von Chamisso
Das Gedicht entstand im Januar 1833.2 Chamisso ist nun Kustos am Königlichen Herbarium und kämpft nach einer Grippe mit seiner Gesundheit.3 Obwohl man annehmen könnte, dass er aufgrund seiner Krankheit sich in diesem Gedicht mit Tod und Erbe beschäftigt, zeigen seine später erschienen Werke, das dies nicht der Fall ist. Sein gesundheitlicher Zustand scheint nicht der Grund für das Schreiben von „Der Geist der Mutter“ zu sein.
Der äußeren Form nach handelt es sich um ein Terzett. In den 112 Zeilen wird das Schema exakt befolgt. Das Gedicht endet mit einer einzelnen Zeile, die sich nicht, wie üblich, auf die Vorangehende reimt, sondern das Reimschema bis zum Ende hin einhält. In der Epoche der Romantik standen Gefühle im Vordergrund. Doch auch das Sagenhafte, das Rätselhafte und das Unterbewusste war von großem Interesse zu dieser Zeit. Ohne genauer auf das Gedicht einzugehen, verrät der Titel, dass etwas Unerklärliches, nämlich ein Geist, eine wichtige Rolle spielen wird. Der Leser wird direkt vom Erzähler angesprochen und somit in das Gedicht eingebunden. Er wird im ersten Vers in das Schloss „geführt“ und übernimmt dann die Rolle des Zuschauers. Durch Aufforderungen wie „[s]chaut nicht […]“4 und „[f]ragt nicht […]“5 erhält der Leser deutliche Anweisungen. Das Haltung des Sprechers ändert sich dann und der „Zuschauer“ wird nicht mehr angesprochen, dennoch schafft Chamisso eine Basis, um die Gefühle in seinem Werk noch näher zu bringen, da man sich fühlt, als wäre man selbst mitten in der Geschichte.
2.2. Die Novelle „Eekenhof“ von Theodor Storm
Storms „Eekenhof“ erschien 18796 zur Zeit des Realismus. Die Chroniknovelle kann noch genauer dem poetischen Realismus zugeordnet werden. In dieser Epoche soll laut Otto Ludwig der menschliche Geist versuchen, das „Wesen der Welt“ zu erfassen und das im Ganzen und nicht nur in Bruchstücken7. Lars Korten beschreibt den Realismus als „Konzept einer poetisch überformten Wirklichkeits- beziehungsweise Naturnachahmung“.8 Also im Gegensatz zur Romantik nichts Schauerhaftes oder tiefe Gefühle sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit in Storms Novelle? Trotz dieser Vermutung gelingt es dem Dichter Gefühle des Lesers zu wecken, „durch einen einerseits „verhaltenen Sagenton“ gegenüber einer immer dann realistischen Erzählweise, wenn die „Brutalität und der Egoismus der Junker“ zur Sprache kommen“9. Storm vereint demnach auf den ersten Blick in „Eekenhof“ beide Ebenen-Gefühle und Realität.
3. Gemeinsame Motive beider Werke
3.1. Der Erbneid
„Unmut“ und „Groll“10 werden bei „Der Geist der Mutter“ schon in den ersten Versen beschrieben. Chamisso verzichtet auf eine lange Einleitung und gibt dem Leser früh, den Grund für den Hass: der zurückkehrende Sohn, „[d]em jetzt der Mutter Erbe werden soll“11. Der Vater gesteht ihm zwar sein Recht auf das Erbe zu, jedoch will er es nicht vorenthalten, sondern er „kann“12 es nicht, da die Rechtslage eindeutig ist. Diese Tatsache scheint die Abscheu noch zu schüren und der Sohn, welcher zunächst noch in freudiger Erwartung war, erkennt das sofort. In Vers 67 wird er dann zur deutlicheren Veranschaulichung „der Verwaiste“ genannt. Er hat zwar noch einen Vormund, dieser hat sich aber von ihm abgewandt.
Schon früh werden Pistolen, in Vers 47, welche ursprünglich zum Schutz gedacht waren, erwähnt, sodass man schnell auf ein blutiges Ende schließt. Als dann, vierzig Verse später, erneut die Waffen genannt werden, kommt es zum Höhepunkt. Der Vater versucht seinen eigenen Sohn zu erschießen. Nur aufgrund des Erscheinens der Geist der Mutter, der später noch genauer analysiert wird, schlägt der Mordversuch fehl. Entsetzt verschwindet der Sohn und verzichtet somit auf seinen Erbanspruch.
Auch bei Storms „Eekenhof“ sind die Motive des Hasses auf das Kind und der Streit um das Erbe vorhanden. Aufgrund der Länge ist Storm eine ausladendere Einleitung möglich. Im Gegensatz zum Gedicht haben die Personen Namen. Herr Hennicke, der Vater, wird schon auf der dritten Seite als habgierig und verschwenderisch beschrieben, da er als der jüngere von zwei Söhnen keinen Anspruch auf Materielles hatte. So heiratet er seine erste Frau nur des Geldes wegen und sie gebärt ihm einen Sohn. Ab diesem Zeitpunkt der Geburt manifestiert sich in seinem Bewusstsein der Groll auf sein Kind, das bis zum dritten Tage mit dem Leben kämpft. Als der Sohn überlebt „[…] ha[ss]te Herr Hennicke den alten Arzt; noch mehr aber seinen eigenen Sohn.“13 Sogar nach außen kann er seinen regelrechten Abscheu nicht verbergen. Mit den Worten „[d]u sinnst wohl, Hennicke, wenn du dein Weib mit einem Buben tauschen mü[ss]test, wie lang du auf dem Hofe noch den Herrn zu spielen hättest? Ich will dir rechnen helfen; mit einundzwanzig Jahren sind die Junker mündig!“14 verdeutlicht ein Wirtshausgast, dass auch Außenstehende die Gefühle Hennickes offensichtlich wahrnehmen. Der Sohn, Dethlev, wächst bei einer wohlhabenden Base15 auf. Doch nach dem plötzlichen Tod derselbigen kommt er im Alter von zwölf Jahren zurück auf den Hof. Als er eines Tages einem Kleinbauern hilft, und sich somit der Strafe, welche der Vater auferlegt hatte, widersetzt, und klarstellt, dass er der rechtmäßige Herr des Hofes ist kommt es zum Streit. Dethlev verlässt den Hof und seinen Vater. Erst nach einigen Jahren kommt er zurück, um, wie bei Chamissos „Geist der Mutter“, sein Erbe einzufordern.
Und auch beim Weitergang der Novelle ist der Einfluss Chamissos unübersehbar. In der Nacht seiner Forderung versucht Hennicke seinen Sohn mit dessen eigener Pistole zu töten. Doch auch hier misslingt es, da die Mutter ihn beschützt. Ebenso übernimmt Storm das Ende der Geschichte: Dethlev verlässt in der Nacht noch seine Heimat und „[…] ist nicht wieder auf den Hof gekommen [...]“16.
Das erste, und vielleicht auch bedeutendste, Motiv ist also übereinstimmend. Die Rahmenhandlung bei Chamisso besteht aus einem Vater-Sohn-Konflikt angesichts des Erbes. Da die Gesetzeslage eindeutig ist, kann man nicht von einem Erbstreit reden, sondern eher von einem Erbneid des Vaters gegenüber seinem Sohn. Darauf folgt der versuchte Mord und das Verschwinden des Kindes. Dank der formalen Freiheit einer Novelle verschärft Storm den Konflikt und charakterisiert Hennicke noch stärker als tyrannischen Vater. Der Mordversuch wird anschaulicher beschrieben und der Sohn geht mit Begleitung fort. Demnach wird das Fundament des Gedichts in „Eekenhof“ aufgenommen.
3.2. Der Geist der Mutter
Das Motiv des Geistes der Mutter liegt bei Chamisso auf der Hand. Nicht umsonst trägt sein Werk genau diesen Namen. Zum ersten Mal wird die Mutter in Vers 12 erwähnt, da der Sohn nun nach ihrem Tod Erbe werden soll. Mit den Worten „[d]ie liebend pflegte seiner Kindheit Garten“17 zeigt der Erzähler wie liebevoll und sanft seine Mutter zu ihm war. Dadurch verwundert es den Leser nicht, dass der Sohn zunächst das Grab der Mutter aufsucht und seine Trauer offen zum Ausdruck bringt: „Vernimm du mich, die mir das Leben gab, // Du, deren Bild ich stets in mir getragen // […] // Du sollst um mich die Geisterarme schlagen“18. Auch ist man in keinster Weise erstaunt, dass der Sohn das Zimmer der Mutter, und zugleich ihr Sterbezimmer, zum Schlafen wählt.
Als der Vater sich nähert, sieht der Sohn einen „Schimmer“19, den er als seine Mutter zu erkennen vermag. Sie nimmt geradezu ihre Gestalt an und „winkt ihm, regungslos sich zu verhalten“20. Durch ihren Schutz schafft der Vater es nicht seinen Mordplan zu vollenden. Wie genau jedoch die Mutter es zu verhindern schafft, lässt der Erzähler im Unklaren. Sicher ist nur: der Geist der Mutter sorgt und kümmert sich auch nach ihrem Tod um ihren Sohn. Während Storm das Gerüst der Geschichte Chamissos in seinen Grundzügen übernahm, wie der vorhergehende Punkt gezeigt hat, geht er hier noch einen Schritt weiter. Nicht nur das Motiv der Geistermutter wird verwendet, sogar Details werden wortwörtlich rezipiert.
[...]
1 Vgl. C. A. Bernd, Berlin 1970, S. 46.
2 Vgl. J. Perfahl, Band 1, München 1975, S. 839.
3 Vgl. W. Feudel und C. Laufel, Band 2, Leipzig 1980, S. 783.
4 Vgl. J. Perfahl, Band 1, München 1975, S. 442, V. 7.
5 Vgl. J. Perfahl, Band 1, München 1975, S. 442, V. 8.
6 Vgl. I. Schuster, Bonn 1985, S. 107.
7 Vgl. O. Ludwig in: Nachlassschriften, Band 2, Leipzig 2011, S. 264-266.
8 Vgl. L. Korten, Tübingen 2009, S. 42.
9 Vgl. S. Immken, Berlin 2006, S. 39.
10 Vgl. J. Perfahl, Band 1, München 1975, S. 442, V. 8.
11 Vgl. Ebd. S. 444, V. 12.
12 Vgl. Ebd. S. 444, V. 54.
13 Vgl. K. E. Laage, Band 2, Frankfurt am Main 1988, S. 686, Z. 29-30.
14 Vgl. Ebd. S. 682, Z. 26-30.
15 Vgl. Ebd. S. 689, Z. 31.
16 Vgl. K. E. Laage, Band 2, Frankfurt am Main 1988, S. 718, Z. 7-8.
17 Vgl. J. Perfahl, Band 1, München 1975, S. 443, V. 15.
18 Vgl. Ebd. S. 443, V. 25-30.
19 Vgl. Ebd. S. 444, V. 92.
20 Vgl. Ebd. S. 444, V. 94.