Mehr denn je scheinen sich Planer in der Wirtschaft, Forscher in der Wissenschaft und Entscheider in der Politik der hohen Bedeutung von Komplexität bewusst zu sein. Vom mikroskopisch kleinen Biosystem bis hin zu den Strukturen eines global agierenden Großkonzerns lassen sich komplexe Strukturen auffinden. Sind theoretische Analysen dieser Strukturen in der Wissenschaft seit etwa einem halben Jahrhundert Gang und Gebe, scheint ihre Handhabung in der Praxis heute innovativ und wichtiger als je zuvor.
Dies trifft vor allem auf die Organisation und Gestaltung gesellschaftlicher Systeme zu: Zahlreiche Faktoren und die vielseitigen Einflussverhältnisse, die von diesen Faktoren ausgehen, kennzeichnen heute unsere soziale Umwelt und machen damit einen wesentlichen Teil unserer Lebensqualität aus. Zwischen vorliegender Infrastruktur, Gesetzen und Rahmenbedingungen auf der einen und den agierenden Akteuren auf der anderen Seite herrschen intensive Wechselbeziehungen, die letztlich die Komplexität sozialer Systeme ausmachen. Dabei gilt: Je mehr Faktoren vorliegen, desto höher ist die Zahl der reziproken Beziehungen zwischen ihnen - und desto höher ist auch die Komplexität eines Systems einzuschätzen.
Großstädte zeichnen sich durch gerade diese Eigenschaft aus und bilden mit ihren zahlreichen beweglichen Faktoren eine höchst komplexe Umwelt. Einzelne Ereignisse treffen hier auf kontinuierliche Tendenzen und unerwartete Entwicklungen, eigenständig handelnde Akteure auf Infrastrukturen, die sich ebenfalls stetig erweitern oder verändern. Handlungen und Entwicklungen sind wiederum von einem komplexen System aus kulturellen Normen, ethischen Prinzipien, selbstbezogenen, etwa ökonomischen, Interessen und anderen Motiven geprägt. Die Folge der komplizierten Verflechtungen zwischen diesen zahlreichen Einflussfaktoren ist eine so genannte nicht-lineare Dynamik, die unvorhersehbare Gefahren für das komplexe System Stadt bürgen kann. Aus eben diesem Grunde bemühen sich Planer und Verwalter der Stadt auf verschiedene Weise darum, die Komplexität und den willkürlichen Verlauf ihrer Konsequenzen in Großstädten zu kontrollieren.
Diese Arbeit stellt einen Versuch der Analyse aktueller Bewältigungsstrategien des komplexen Systems Großstadt dar. Hierzu sollen zunächst die wesentlichen Spuren von Komplexität in der Stadt herausgestellt werden, um im Anschluss die daraus resultierenden Probleme vor allem am Beispiel von Mobilität in Großstädten zu verdeutlichen.
Inhalt
Abstract
1. Einleitung
2. Komplexes System Großstadt
2.1 Die Großstadt
2.2. Komplexe soziale Systeme
2.3 Die Großstadt als komplexes soziales System
3. Bewältigung von Komplexität in Großstädten
3.1 Alte und neue Lösungen
3.2 Smart City-Projekte als neue Lösung
4. Fazit
Quellen
Abstract
During the last 15 years, megacities and extensive metropolitan areas around the globe emerged to become some of the most critical zones in the developing world – and hence some of the most eligible objects of recent research.
Interdisciplinary examinations of the structures and dynamics of cities are supposed to help planners make the right decisions in coping with the most urgent challenges: congestion, pollution, social segregation and a deficient infrastructure are only few of the most severe issues which could not yet be eliminated by traditional planning policies.
The academic field of complexity research offers a new approach in this study area and helps finding innovative solutions which take into account the “nature” of cities: So-called Smart City Projects analyze the city as a complex system and involve phenomena such as non-linearity in their strategies. While the actual implementation of these concepts still seems problematic, many stakeholders expect this new perspective to open up possibilities which are worth a closer look.
1. Einleitung
Mehr denn je scheinen sich Planer in der Wirtschaft, Forscher in der Wissenschaft und Entscheider in der Politik der hohen Bedeutung von Komplexität bewusst zu sein. Vom mikroskopisch kleinen Biosystem bis hin zu den Strukturen eines global agierenden Großkonzerns lassen sich komplexe Strukturen auffinden. Sind theoretische Analysen dieser Strukturen in der Wissenschaft seit etwa einem halben Jahrhundert Gang und Gebe, scheint ihre Handhabung in der Praxis heute innovativ und wichtiger als je zuvor.
Dies trifft vor allem auf die Organisation und Gestaltung gesellschaftlicher Systeme zu: Zahlreiche Faktoren und die vielseitigen Einflussverhältnisse, die von diesen Faktoren ausgehen, kennzeichnen heute unsere soziale Umwelt und machen damit einen wesentlichen Teil unserer Lebensqualität aus. Zwischen vorliegender Infrastruktur, Gesetzen und Rahmenbedingungen auf der einen und den agierenden Akteuren auf der anderen Seite herrschen intensive Wechselbeziehungen, die letztlich die Komplexität sozialer Systeme ausmachen. Dabei gilt: Je mehr Faktoren vorliegen, desto höher ist die Zahl der reziproken Beziehungen zwischen ihnen – und desto höher ist auch die Komplexität eines Systems einzuschätzen.
Großstädte zeichnen sich durch gerade diese Eigenschaft aus und bilden mit ihren zahlreichen beweglichen Faktoren eine höchst komplexe Umwelt. Einzelne Ereignisse treffen hier auf kontinuierliche Tendenzen und unerwartete Entwicklungen, eigenständig handelnde Akteure auf Infrastrukturen, die sich ebenfalls stetig erweitern oder verändern. Handlungen und Entwicklungen sind wiederum von einem komplexen System aus kulturellen Normen, ethischen Prinzipien, selbstbezogenen, etwa ökonomischen, Interessen und anderen Motiven geprägt. Die Folge der komplizierten Verflechtungen zwischen diesen zahlreichen Einflussfaktoren ist eine so genannte nicht-lineare Dynamik, die unvorhersehbare Gefahren für das komplexe System Stadt bürgen kann. Aus eben diesem Grunde bemühen sich Planer und Verwalter der Stadt auf verschiedene Weise darum, die Komplexität und den willkürlichen Verlauf ihrer Konsequenzen in Großstädten zu kontrollieren.
Diese Arbeit stellt einen Versuch der Analyse aktueller Bewältigungsstrategien des komplexen Systems Großstadt dar. Hierzu sollen zunächst die wesentlichen Spuren von Komplexität in der Stadt herausgestellt werden, um im Anschluss die daraus resultierenden Probleme vor allem am Beispiel von Mobilität in Großstädten zu verdeutlichen. Mögliche Maßnahmen zur Lösung dieser Probleme sollen den dritten Teil der Arbeit ausmachen, der schließlich in einer Nahaufnahme die Idee von „Smart-City“-Konzepten als innovative Strategien zur Reduzierung von Komplexität vorstellen soll. Nach einer Bewertung dieses speziellen Ansatzes soll zum Ende ein Fazit gezogen und ein Ausblick auf die tatsächlichen Chancen der Reduzierbarkeit von Komplexität in Großstädten gegeben werden.
2. Komplexes System Großstadt
2.1 Die Großstadt
Seit der Antike war die Stadt stets ein wesentlicher Anziehungspunkt vor allem für junge Menschen. Die städtische Infrastruktur erweckte schon vor Jahrhunderten Hoffnung auf Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, bessere berufliche Chancen oder andere Faktoren, die eine allgemein höhere Lebensqualität bedeuten können. Zugleich war das Leben in der Stadt für viele mit Prestige und einem besonderen Zugehörigkeitsgefühl verbunden[1].
Haben die Dimensionen der Städte von damals mit denen der heutigen Metropolen kaum noch etwas gemeinsam, ihre Bedeutung hat sich wenig verändert: Noch immer ziehen die Menschen vor allem aufgrund ihrer Infrastruktur in die Großstädte dieser Welt. Diese Tendenz zur Urbanisierung hat sich vor allem seit dem Beginn der Industrialisierung intensiviert und stellt auch im Jahre 2012 einen der wesentlichen globalen Megatrends dar[2]. Im Jahr 2008 leben erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Regionen. Bis zum Jahre 2030 soll sich dieser Zahl auf 6o Prozent erhöhen[3]. Dabei besiedeln die großen Massen weniger den inneren Stadtkern als vielmehr die äußeren Bezirke und Randgebiete von Großstädten und Metropolregionen.
Die Folge der wachsenden Bevölkerungszahl und des spezifischen Ansiedlungsmusters derzeitiger Urbanisierungsprozesse ist zunächst die Herausbildung so genannter Megacities, die nach der Definition der vereinten Nationen mehr als zehn Millionen Menschen in ihrer gesamten Metropolregionen beherbergen[4]. Zu diesen zählen heute neben Großstädten in Europa wie London vor allem auch solche wie Beijing, Mumbai, Moskau oder São Paulo, wobei die meisten dieser Städte rund 20 Millionen Einwohner verbuchen.
Obwohl Megacities in ihrer Entwicklung völlig unterschiedlich sind, teilen sie eine Vielzahl von Eigenschaften, die über die bloße Ähnlichkeit der Bevölkerungszahlen hinausgeht. Dazu zählen etwa eine multiethische Zusammensetzung der Bewohner sowie eine breite Spanne in Wohlstand und Bildung der Einwohner. Institutionen aus Politik und Finanzwesen existieren hier wenige Kilometer neben Slums und Ghettos, in denen Menschen unterhalb der international definierten Armutsgrenze leben. Aus diesen Kontrasten ergeben sich eine Vielzahl an pluralistischen Lebensmodellen, daraus wiederum unterschiedliche Handlungsmotive und Verhaltensweisen.
Vor allem aber besteht die Ähnlichkeit der einzelnen Megacities zueinander in ihrer Komplexität, die sich nicht zuletzt aus genau diesem Pluralismus speist. Sie ist heute nicht nur ein wesentliches Merkmal für das soziale System der Großstadt, sondern auch der entscheidende Faktor für eine Vielzahl von Problemen, die in diesen Räumen vorherrschen und die Lebensqualität in Megacities und Metropolregionen rapide mindern. Zu diesen zählen etwa Staus, Zusammenbrüche der Daten- und Transportnetze, aber auch soziale Unruhe und andere Ausprägungen von Chaos und Zusammenstürzen des städtischen Systems.
2.2. Komplexe soziale Systeme
Um zu verstehen, welchen Einfluss genau Komplexität im System der Großstadt nimmt und weshalb Regionen wie Megacities inzwischen ein wichtiges Untersuchungsobjekt der Komplexitätsforschung sind, muss die Stadt in ihrer Form als soziales komplexes System betrachtet werden. Dazu müssen mit der Populationsdynamik und der systemischen Selbstorganisation zunächst zwei konstituierende Merkmale von sozialen Systemen aus dem Blickwinkel der Komplexitätsforschung analysiert werden.
Soziale Systeme, die hier als Zusammenschluss von Menschen (aber auch anderen Organismen) verstanden werden, sind in der Regel von einer Dynamik der Selbstorganisation geprägt: Die einzelnen Individuen in einer sozialen Gemeinschaft wirken mit ihren Handlungen so zusammen, dass sie ihr Leben maximal effizient organisieren können. Indem jedes von ihnen ihren Teil zur Gestaltung und Aufrechterhaltung der gemeinsamen Lebenswelt beiträgt, erreicht dieses soziale System einen Nutzen, der, wie etwa bei Mainzer (2008) zu finden, größer ist als die Summe seiner Teile[5]. Die dadurch erzeugte Kraft der kollektiven Intelligenz (auch Schwarmintelligenz) ist der wesentliche Vorzug sozialer Systeme[6] – und damit auch der entscheidende Grund, warum sich Individuen zu eben solchen zusammenschließen.
Die Koordination der individuellen Einzelleistungen findet dabei wie automatisch statt: Jedes Individuum folgt eigenen, ganz spezifischen Anreizen aus seinem unmittelbaren Umfeld und wird damit dazu angeregt, seine Leistung für das Ganze zu erbringen[7]. Diese Anreize können in Insekten- und Tierpopulationen etwa neurochemische oder akustische Signale sein, die das einzelne Wesen zu einem bestimmten, systemkonformen Verhalten als Reaktion veranlassen; es findet also lediglich ein lokaler Informationsaustausch statt[8]. In anthropogenen, also menschlichen sozialen Systemen sind es eigennützige, vor allem ökonomische Interessen, die zu Handlungsmotiven werden. Ganz nach Adam Smith ist es etwa damit also nicht das gemeinwohlorientierte „Wohlwollen des Metzgers“, das eine Gemeinschaft mit fleischlicher Nahrung versorgt, sondern dem Wahrnehmen „seiner eigenen Interessen“[9]: Indem in einer arbeitsteiligen Gesellschaft jeder einzelne nach dem maximalen Eigenprofit strebt, muss er möglichst optimale Leistungen (etwa Güter, Dienstleistungen oder Arbeitskraft) anbieten, für die er eine möglichst hohe Gegenleistung (Tauschgüter oder monetäres Gehalt) erhält. Ist der Einzelne nur zu einem niedrigwertigen Angebot bereit, erhält er in der Regel eine niedrigwertige Gegenleistung. Möchte der einzelne seine Interessen jedoch möglichst gezielt umsetzen, so muss auch seine Eigenleistung besonders hoch sein; diese kommt wiederum seinem „Tausch“- oder Handelspartner zugute, die Summe der einzelnen hochwertigen Eigenleistungen schließlich dem Gesamtsystem.
Die Individuen eines sozialen Systems handeln also nicht bewusst im Sinne des Nutzens für das Gesamtsystem, sondern erreichen diesen quasi-automatisch, indem sie ihre lokale Aufgabe erfüllen und nach ihren eigenen Motiven handeln. Dementsprechend sind sie auch auf keinen lokalen Planer angewiesen, der die einzelnen Teilschritte koordiniert[10].
Neben diesem Element der Populationsdynamik zeichnen sich soziale Systeme außerdem durch Soziodynamik aus. Dies bezeichnet eine spezifische Form der sozialen Selbstorganisation, die in gesellschaftlichen Systemen vor allem zur Herausbildung von Strukturen führt. Nach Mainzer (2008) sind soziale Systeme durch eine Makro- und Mikroebene bestimmt. Erstere stellen die soziale Infrastruktur, also die vorherrschenden Strukturen eines solchen Systems dar, zu denen etwa Institutionen, Unternehmen, Organisationen, Vereine, institutionalisierte Interessengruppen aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gehören. Diese Makroebene bildet damit den Rahmen für das soziale Handeln. Auf der Mikroebene hingegen finden die Handlungen der Individuen statt[11]. Zwischen beiden Ebenen herrscht eine Wechselwirkung in Form von vielfältigen Einflussbeziehungen: Der institutionelle Rahmen der Makroebene wirkt bestimmend und richtungsweisend auf das Verhalten der Individuen, während sich auf lange Sicht die kollektive Ordnung am Handeln der Individuen ausrichtet[12].
Ein Rechtssystem gibt den Bürgern eines Staates etwa einen klaren Handlungsrahmen vor, indem es bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert. Auf der anderen Seite orientiert sich der Gesetzesapparat in seiner genauen Ausgestaltung überhaupt erst am Handeln der Menschen: Es sind schließlich beobachtete Verhaltensweisen, die sich als physisch und psychisch gefährdend herausgestellt haben und sanktioniert werden – es muss also erst eine Erfahrung mit einer menschlichen Handlungsweise sowie ein Diskurs um ebensolche bestehen, um ein Gesetz zu schaffen, abzuschaffen oder nachzubessern. Sind Gesetze mit den Moralvorstellungen der breiten Bevölkerung nicht im Einklang und widersprechen sie auf Dauer den Handlungsmotiven der Bürger wesentlich, so werden diese ihren Unmut äußern und damit Einfluss auf den Gesetzesrahmen nehmen. Ein massiver Einfluss der Mikroebene auf die Makroebene kann in diesem Beispiel etwa in der Abwahl der bestehenden und der Wahl einer politischen Führung mit anderen Absichten, aber auch in Unruhen oder sogar dem Sturz des bestehenden Regierungssystems bestehen.
Diese beiden Stellschrauben für die Dynamik komplexer sozialer Systeme – Populationsdynamik und Sozialdynamik – sind verantwortlich für den Verlauf der Entwicklung von Gesellschaftssystemen.
Auffällig ist dabei der hohe Grad an selbstständiger Organisation dieser Systeme, die durch die zahlreichen Wechselwirkungen der einzelnen Komponenten entsteht. Das permanente gegenseitige Beeinflussen der vorhandenen Faktoren in einem sozialen System wird dabei umso komplexer, je mehr Komponenten vorliegen. Diese erhöhen schließlich die Gesamtzahl der Wechselwirkungen im System und erzeugen eine unvorhersehbare nicht-lineare Dynamik[13]. Das bedeutet, die Entwicklungen dieses Systems können nicht vorhergesagt werden; kleine Veränderungen an einzelnen Komponenten können eine Reihe von Reaktionen auslösen, die das System letztlich in einen chaotischen Zustand zerfallen lassen kann. Diese Tatsache macht äußere Eingriffe in soziale Systeme schwierig: Sie können schließlich dafür sorgen, dass sich das System in eine ungewollte Richtung entwickelt. Komplexe soziale Systeme bewegen sich in ihrer Dynamik damit immer wieder an so genannten Instabilitätspunkten, an denen ein Zusammenbruch droht[14].
Aus diesem Grunde besteht das Ziel von Planern, Organisatoren und Verwaltern in komplexen sozialen Systemen meist in der Reduzierung von Komplexität – ein Vorhaben, das ob der nicht-linearen Dynamik und der absolut spezifischen, individuellen und immer wieder neuen Entwicklungsmuster dieser Gebilde in der Praxis zur großen Herausforderung wird.
2.3 Die Großstadt als komplexes soziales System
Die Großstadt trägt die wesentlichen Züge eines komplexen Systems und ist gleichzeitig auf genannte Regulierungsmaßnahmen angewiesen. Innerhalb der Makroebene der vorherrschenden Infrastruktur findet das durch die Menschen erzeugte städtische Treiben auf der Mikroebene statt. Die Infrastruktur von Großstädten zeigt dabei sich vor allem in den Bereichen Bildung, Beruf, Politik und Freizeit vielseitig. Nicht nur eine hohe Zahl von Unternehmen und Organisationen, die etwa einen heterogenen und dichten Arbeitsmarkt bieten, sondern auch viele Treffpunkte und Einrichtungen für die verschiedensten Interessengruppen machen die städtischen Strukturen aus.
Gerade aufgrund dieser vielseitigen Infrastruktur, der damit verbundenen, erhofften Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und des sozialen Aufstiegs, aber auch aufgrund des Prestiges, das große Teile der Landbevölkerung mit dem Umzug der Stadt verbinden, bewegen sich viele Menschen in die Stadtkerne und Randgebiete von Metropolregionen. Die Folge ist eine wesentlich heterogenere Zusammensetzung der Bevölkerung in nahezu allen Aspekten. Gerade die Pluralität an Lebenskonzepten, Verhaltensweisen, Bedürfnissen und Moralvorstellungen macht das soziale System Stadt zunehmen komplex[15]. Die pluralistische Stadtgesellschaft von Großstädten bedingt zugleich auch eine pluralistische Infrastruktur, etwa Organisationen für soziale Randgruppen und „Paradiesvögel“, die wiederum eine vielseitige Bevölkerungsschicht in die Stadt zieht. Dabei sprechen Groß- und Megastädte wie New York oder London nicht nur die nationale ländliche Bevölkerung, sondern auch vor allem junge Menschen aus vielen verschiedenen Ländern. an Das Ergebnis dieser für Großstädte sehr typischen Wechselwirkungen zwischen Makro- und Mikroebene sind wortwörtlich unzählige, sich gegenseitig beeinflussende und höchst verschiedenartige Systemkomponenten, die die Komplexität der Großstadt erhöhen. Die große Vielzahl und Heterogenität der einzelnen Elemente auf beiden Ebenen macht die Dynamik, mit der sich diese sozialen Systeme selbst organisieren, zu einer unübersichtlichen und undurchschaubaren Kraft, deren Entwicklungslinie nicht vorhersehbar ist. Dieses hohe Maß an Heterogenität und Pluralität wird zum wesentlichen Merkmal des komplexen Systems der Großstadt betrachtet werden.
Diese Eigenschaft verdankt die Großstadt dabei auch einer weiteren Konsequenz seiner hohen Attraktivität auf verschiedenste Bevölkerungsschichten. Diese bewirken schließlich zugleich hohe quantitative Zuwachsraten in den Metropolregionen[16]. Vor allem in den Megastädten der Schwellenländer übersteigt dieses rapide und hohe Bevölkerungswachstum die Kapazitäten der gegebenen Infrastruktur: Die Veränderungen, die auf der Mikroebene stattfinden, scheinen die Anpassungsfähigkeit der Makroebene zu überfordern, die sich nur langsam entsprechend der neuen Einflüsse entwickeln kann. Dies gilt etwa für die Verkehrsinfrastruktur von Städten wie Moskau, die zu einem wesentlichen Teil noch an die sowjetische Organisationsstruktur angepasst ist und das hohe Verkehrsaufkommen der wachsenden und individualisierten Gesellschaft nicht tragen kann. Ähnliches trifft auf die städtische Müllentsorgung dieser Städte zu, die vor allem in den Armenvierteln oft kaum zu bewältigen ist, sowie auf Datennetze und die städtische Stromversorgung, die sich in den stark wachsenden Megastädten oft entlang eines Zusammenbruchs bewegt. Aber auch abseits der Ver- und Entsorgungssysteme überfordert die sich rasch wandelnde Mikrobene die Makroebene der Städte: Auch die sich abzeichnende Polarität der Gesellschaft, also die starken Kontraste zwischen Armut und Wohlstand, Konservativen und Linksorientierten, verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen sind nicht immer leicht miteinander zu vereinbaren und rufen oft soziale Unruhen hervor[17].
Ist es einigen Städten bereits gelungen, dass Stadtstrukturen und Stadtbürger sich relativ gut aufeinander abstimmen, bemühen sich die Stadtverwaltungen in vielen anderen Großstädten noch immer um geeignete Regulierungsmaßnahmen, um ihr komplexes System effizienter zu gestalten. Wird die Stadt allerdings gerade als solches betrachtet, wird schnell klar, dass äußere Eingriffe dank nicht-linearer Dynamik schnell im Gegenteil resultieren und einzelne Komponenten in einer solchen Art beeinflussen können, dass unerwartet das gesamte System ins Chaos stürzt. Aus eben diesem Grunde greifen neue Ansätze immer häufiger auf die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung zurück, um ihre Regulierungsmodelle auf die natürlichen Eigenschaften komplexer Systeme abzustimmen und somit Maßnahmen zu schaffen, die die Entwicklung dieser überdimensionalen Gesellschaftsverbände in die richtige Richtung lenken können.
3. Bewältigung von Komplexität in Großstädten
3.1 Alte und neue Lösungen
Es gibt eine Reihe verschiedener, sowohl traditioneller als auch innovativer Lösungsansätze, um Städte effizienter zu gestalten. Dabei geht es in den meisten Modellen darum, Komplexität zu reduzieren. Traditionelle Konzepte versuchen dies vor allem, indem sie die Quantität der Ströme minimieren. Bekannte Modelle basieren etwa auf dem höheren Besteuern von Mobilitätsströmen aller Art oder dem Erschweren des Zulassungsverfahren für Kraftfahrzeuge: In der chinesischen Hauptstadt Beijing etwa, wo das Wirtschaftswachstum der vergangenen 20 Jahre eine Massenmotorisierung und damit einen rapiden Anstieg des Individualverkehrs verursacht hat, wurde im Jahre 2011 die Zahl der jährlich zugelassen Fahrzeuge von der Regierung um etwa 75% verringert; ein Teil der Zulassungen wird per Lotterieverfahren an Bewerber verlost[18]. Neben Mautgebühren, Kfz-Steuern oder feste Straßennutzungsgebühren sind es für das Beispiel Verkehr außerdem andersartige hohe Auflagen, die den Individualverkehr regulieren sollen: So muss jeder einzelne, der in der japanischen Metropole Tokyo ein Fahrzeug zulassen will, zunächst einmal einen festen Parkplatz nachweisen[19].
Auch Umweltzonen in deutschen Großstädten oder die so genannte „Congestion Charge“ in London – eine Gebühr für das Befahren besonders staugefährdeter Zonen der britischen Hauptstadt[20] – sind Beispiele für traditionelle Ansätze, die schlicht versuchen, an Instabilitätspunkten die Menge der Einflusskomponenten, hier Verkehrsteilnehmer, und damit den Grad der Komplexität zu reduzieren. Die Erfolge derartiger Maßnahmen sind vergleichsweise gering: Die Bevölkerung auf der Mikroebene organisiert sich durch den Einfluss der geänderten Markoebene einfach neu und weicht an diesen Stellen etwa auf zweirädrige oder dreirädrige Gefährte aus, die den Verkehr immer noch belasten, aber zu deren Benutzung letztlich vergleichsweise weniger Hürden und geringere Kosten bewältigt werden müssen[21].
Außerdem kann die Tatsache, dass vor allem finanziell schlechter gestellten Bürgern dieser Bereich des Stadtlebens verweht oder zumindest der Zutritt erschwert wird, einerseits zu sozialer Unruhe führen und andererseits Kriminalität verursachen, weil ein Großteil der Masse diese Regeln schlicht nicht einhält. Strikte Regeländerungen auf der Makroebene werden also mit der Absicht geführt, Komplexität zu verringern und Effizienz zu steigern, was sie allerdings höchstens erreichen können, ist eine Neuorganisation der Mikroebene; Ob sich diese in Richtung weniger Komplexität und mehr Effizienz bewegt, kann aufgrund nicht-linearer Dynamik weder vorausgesagt noch geplant werden.
Neue und innovative Ansätze setzen aus diesem Grunde an einem anderen Punkt des Systems, nämlich an der Selbstorganisation, an. Sie versuchen, die spezifische Populations- und Soziodynamik einer bestimmten Stadt zu verstehen, also gezielt einzelne wesentliche Einflussverhältnisse und Wechselwirkungen aufzudecken und zu analysieren. Diese müssen nicht immer in komplizierten Verflechtungen liegen, wie das Beispiel der so genannten „Smart-City“-Projekte zeigt.
Diese versuchen, den Verlauf der Selbstorganisation des komplexen Systems Stadt gezielt zu beeinflussen. Sie setzen nicht mit Veränderungen an der Makroebene an, weil die Mikroebene sich wiederum an die neuen Rahmenbedingungen anpassen und ihre Wünsche und Bedürfnisse auf eine andere Art durchsetzen würde. Es wird hingegen versucht, der Bevölkerung dabei zu helfen, sich mit ihrer Selbstorganisation besser an die gegebene Infrastruktur anzupassen. Daher bemühen sich die Initiatoren dieser Projekte, die Akteure auf der Mikroebene mit aktuelleren und genaueren Informationen über die sich ebenfalls in stetiger Veränderung befindenden städtischen Infrastruktur zu versorgen. Anhand dieser Informationen sollen sich die Bürger dann selbst effizienter organisieren – und zwar indem sie, entsprechend der Natur des komplexen sozialen Systems, ihrem eigenen, ganz persönlichen Nutzen folgen. So hat etwa jeder einzelne Bürger ein ganz eigenes Interesse daran, eben nicht im Stau zu stehen, sondern seinen Zielort möglichst schnell und stressfrei zu erreichen.
[...]
[1] Riess 2006: 50
[2] Eberl 2011: 98
[3] Neumayr : 11
[4] United Nations 2004: 77
[5] Mainzer 2008: 90
[6] Ebd.
[7] Mainzer 2008: 90
[8] Ebd.
[9] Fricke und Schütt 2005: 187
[10] Mainzer 2008: 91
[11] Mainzer 2008: 94
[12] Ebd.
[13] Mainzer 2008: 115
[14] An einem Beispiel: Mainzer2008: 98
[15] Häussermann und Siebel 2004: 84
[16] Am Beispiel Moskau: Neutatz 2006: 57f
[17] Am Beispiel von Großstädten in China: Pilny 2005: 31
[18] Geinitz 2011
[19] The Complete Residents‘ Guide: Tokyo 2008: 141
[20] Santos 2004:253
[21] Adams 2008