Bei einem Bildungsroman wie Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" gibt es ein Bildungsziel als Abschluss und einen Bildungsweg, der die Entwicklung des Protagonisten aufzeigt. Der Bildungsweg stellt „die innere Progression des Helden“ dar, welche sehr häufig mit der Zeitsymbolik vermittelt wird. Die Entwicklung des Protagonisten wird dabei von verschiedenen Instanzen beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch „kontrastierende Nebenhandlungen, in die Nebencharaktere als Symbol der Lebens- und Bildungsmächte (z.B. die Frauen in Johann Wolfgang von Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ 1795f.) eingeführt werden.“
Wilhelm entscheidet sich für die Abkehr von der Kaufmannswelt und schließt sich einer umherziehenden Theatergesellschaft an. Im 18. Jahrhundert gleicht dies einem sozialen Abstieg, doch in der Schauspielwelt bieten sich ihm „[…] die Chance zur Selbsterprobung im Rollenspiel […] und die Möglichkeit, jenseits bürgerlicher Moralzwänge Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht zu sammeln.“ Mit der Abkehr von dem für ihn vorgegebenen Weg und der Integration in eine neue Gesellschaft, den Adel, welcher das Lebens- und Gesellschaftsideal im 18. Jahrhundert darstellte, kann Wilhelm eine Bildungsentwicklung vorweisen. Letzteres ist der Fall, da Bildung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre laut Elisabeth Krimmer nicht nur als Moral oder psychologische Entwicklung eines Individuums gesehen werden sollte, sondern auch als Prozess der Abkehr von bestimmten Dingen, der beim Protagnisten mit der Integration in eine neue Gesellschaft gekrönt ist.
Welchen Einfluss die Frauengestalten dabei auf Wilhelms Bildungsweg haben, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Dabei werden die weiblichen Figuren charakterisiert und die Beziehung zu Wilhelm analysiert. Beachtet werden hierbei nur erwachsene Frauen, die eine Form der Liaison oder innige Freundschaft mit dem männlichen Protagonisten eingehen. Des Weiteren soll geklärt werden, warum so viele Frauen Wilhelm reizend finden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Schauspielerinnen
2.1. Mariane
2.2. Philine
2.3. Aurelie
3. Die adligen Frauen
3.1. Die Gräfin
3.2. Therese
3.3. Natalie
4. Der Frauenschwarm Wilhelm
5. Zusammenfassung
6. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Bei einem Bildungsroman wie Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gibt es ein Bildungsziel als Abschluss und einen Bildungsweg, der die Entwicklung des Protagonisten aufzeigt.[1] Der Bildungsweg stellt „die innere Progression des Helden“[2] dar, welche sehr häufig mit der Zeitsymbolik vermittelt wird.[3] Die Entwicklung des Protagonisten wird dabei von verschiedenen Instanzen beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch „kontrastierende Nebenhandlungen, in die Nebencharaktere als Symbol der Lebens- und Bildungsmächte (z.B. die Frauen in Johann Wolfgang von Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ 1795f.) eingeführt werden.“[4]
Wilhelm entscheidet sich für die Abkehr von der Kaufmannswelt und schließt sich einer umherziehenden Theatergesellschaft an. Im 18. Jahrhundert gleicht dies einem sozialen Abstieg, doch in der Schauspielwelt bieten sich ihm „[…] die Chance zur Selbsterprobung im Rollenspiel […] und die Möglichkeit, jenseits bürgerlicher Moralzwänge Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht zu sammeln.“[5] Mit der Abkehr von dem für ihn vorgegebenen Weg und der Integration in eine neue Gesellschaft, den Adel, welcher das Lebens- und Gesellschaftsideal im 18. Jahrhundert darstellte, kann Wilhelm eine Bildungsentwicklung vorweisen. Letzteres ist der Fall, da Bildung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre laut Elisabeth Krimmer nicht nur als Moral oder psychologische Entwicklung eines Individuums gesehen werden sollte, sondern auch als Prozess der Abkehr von bestimmten Dingen, der beim Protagnisten mit der Integration in eine neue Gesellschaft gekrönt ist.[6]
Welchen Einfluss die Frauengestalten dabei auf Wilhelms Bildungsweg haben, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Dabei werden die weiblichen Figuren charakterisiert und die Beziehung zu Wilhelm analysiert. Beachtet werden hierbei nur erwachsene Frauen, die eine Form der Liaison oder innige Freundschaft mit dem männlichen Protagonisten eingehen. Des Weiteren soll geklärt werden, warum so viele Frauen Wilhelm reizend finden.
2. Die Schauspielerinnen
2.1. Mariane
Mariane ist eine junge Schauspielerin und Wilhelms erste Liebesbeziehung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Schon allein deswegen ist sie ein wichtiger Pfeiler in seinem Bildungsweg, da es die erste Erfahrung mit einer Frau ist und er wegen ihr den Weg genommen hat, der ab dem zweiten Buch veranschaulicht wird. Am Anfang des ersten Buches wird beschrieben, wie Wilhelm seine erste Liebe genießt und seine Mariane, die er im Theater kennenlernte, wo er sie schon lange vor ihrer ersten gemeinsamen Konversation beobachtete, ist das „lieblichste Geschöpf in seinen Armen.“[7] „Aber sie ist ihm ja nicht nur Geliebte, sondern die wahrgewordene Sehnsucht seines ersten Traumes: sie ist Schauspielerin, sie gehört zum Theater, und dieses zu Wilhelms Idealwelt.“[8]
Der Protagonist ahnt allerdings nicht, dass Mariane einen weiteren Liebhaber namens Norberg hat, der von ihrer Haushälterin und Ratgeberin Barbara mit ihr verkuppelt wurde, da er viel Geld besitzt. Die junge Schauspielerin hat zwar keine Gefühle für ihren Verlobten und liebt Wilhelm, doch Norberg kann sie finanzieren und ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Sie befindet sich deswegen in einer schwierigen Situation. Mariane verhält sich teilweise sehr eigenartig. Sie antwortet Wilhelm z.B. nicht auf die Frage, ob er Vater werden würde und trägt ein verräterisches, neues, weißes Abendkleid. Dies ist u.a. ein Beweis dafür, dass sich Wilhelm noch am Anfang seines Bildungsweges befindet, da er über wenig Menschenkenntnis verfügt. Er ist, wie man sagen würde, „blind vor Liebe“ und vertraut ihr „blind“. Normalerweise hätte er Verdacht schöpfen und seine Geliebte konfrontieren oder durchschauen müssen. Von Marianes heimlichen Liebhaber erfährt er erst, als er den Brief von Norberg in ihrem Halstuch findet, welches er aus Liebe zu ihr mitnahm, um seine Sehnsucht ein wenig zu stillen, und die Gestalt eines Mannes in der Nähe ihres Hauses sieht. Wilhelm zählt eins zu eins zusammen und denkt, dass Mariane ihn betrüge. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn im Laufe des Romans wird klar, dass sie ihm immer treu war und sie ein Kind namens Felix von ihm geboren hat, bei dessen Geburt sie wahrscheinlich aus Sehnsucht zu ihrem Geliebten, der jedoch nicht mehr zurückkehrte, starb. Dass Wilhelm Mariane ohne ein Wort verlässt, ist ein weiterer Beweis dafür, dass er unentwickelt ist. Er verhält sich wie ein beleidigtes Kind, obwohl man sich nie sicher sein kann, was genau passiert ist, wenn man seine Partnerin nicht gerade in flagranti erwischt hat. Er klärt die Angelegenheit nicht, stellt sie nicht zur Rede und fragt sie, wenn sie ihn betrogen hätte, auch nicht, warum dies passiert sei und was er falsch gemacht habe. Von Letzterem würde Wilhelm an dieser Stelle seines Bildungsweges auch nicht ausgehen, da er sehr von sich überzeugt ist und sich teilweise überschätzt. „[Was] wir jetzt entwickelt sind, mit dem zu vergleichen, was wir damals unentwickelt waren.“[9] Die genannte Textstelle veranschaulicht seine Selbstüberschätzung und ist folglich ein weiterer Beweis dafür, dass der Protagonist unentwickelt ist. Schließlich kann man ihn als unerfahren bezeichnen und er hat auch noch keine Reise getätigt. Folglich hat er noch nicht viel von der Welt gesehen, was seine Aussage in Bezug auf entwickelt sein als falsch abstuft. Alles in allem hatte Mariane einen großen Einfluss auf Wilhelm und seinen weiteren Bildungsweg, auch wenn er während der Beziehung mit ihr eindeutig unentwickelt war. Er erinnert sich im Laufe des Romans immer wieder an Mariane. Als er von Barbara die Wahrheit über die Geschehnisse erfährt, versinkt er in Trauer und Bedauern. Dies veranschaulicht, wie wichtig Mariane, die ihn als erste Liebe erst zum Mann machte, für sein Leben war.
2.2. Philine
Wilhelm möchte sich nach Beendigung des Kapitels mit Mariane zunächst von den Frauen, wegen der gescheiterten ersten Liebe, die für ihn im Endeffekt eine große Enttäuschung darstellte, abwenden, doch er lernt die schöne Philine kennen, zu der er sich in einer gewissen Weise hingezogen fühlt, obwohl er sie im Laufe des Romans immer wieder abweist. Wilhelm findet sie sehr reizend und sie kokettiert des Öfteren auch mit ihm. Hieran wird deutlich, dass sie eine sehr offene und direkte Person ist, da sie ihm ihre Empfindungen sofort mitteilt und ihn z.B. auch auf offener Straße liebkost.[10] Für Wilhelms Bildungsweg ist sie eine wichtige Person, da sie ihn zum Theater führt. Nach der Enttäuschung mit Mariane widmet sich Wilhelm mit großem Eifer den Handelsgeschäften, doch als er die Theatergesellschaft um Philine kennenlernt, wird er Teil dieser Gruppe. Philine versüßt ihm den Aufenthalt und beeinflusst ihn, da er in ihrer Nähe bleibt und einen neuen Weg einschlägt. Diese lebensfrohe Person, die sehr gern singt und auch eine gute Tänzerin ist, unterrichtet Wilhelm außerdem im Tanzen. „Wilhelm war nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer künstlichen Übung.“[11] Im Laufe des Romans, und in der Gesellschaft von Philine, wird sich der Protagonist, der an erwähnter Stelle noch unerfahren ist, im künstlerischen Bereich, vor allem in Bezug auf Schauspielerei und das Theater, entwickeln.
Die offene Schauspielerin nutzt ihre Erotik und kann mehrere Liebesbeziehungen vorweisen. Obwohl sich Wilhelm zunächst dagegen sträubt, „[…] wird auch er von einer unüberwindlichen Eifersucht entzündet […]“[12], als Philine dem Stallmeister schöne Augen macht. Die attraktive Schauspielerin ist nicht nur eine verführerische Frau, sondern auch sehr clever, wenn es darum geht, sich bei Menschen einen Vorteil zu verschaffen. Sie nutzt ihr Rollenspiel für eigene Interessen. Im dritten Buch wird Philine z.B. von der Gräfin als Zofe eingestellt, da sie sich bei ihr einschmeichelt. Vom Theaterdirektor Serlo wird sie später bevorzugt behandelt, da er sie reizend findet und sie ihm die Langeweile vertreibt, was er nach ihrem Abgang vermissen wird. „Sie hatte mit großer Geschicklichkeit Serlo zu unterhalten […] gewußt.“[13]
Auf Wilhelms Weg ist sie ihm eine Gefährtin, die er nicht missen möchte. Ihre Gesellschaft bietet ihm Freude und sie hilft ihm auch sehr, z.B. als er bei einem Raubüberfall im Wald verletzt wurde. Sie ist die Einzige, die bei ihm bleibt und sich um ihn kümmert. Mit einer Frau wie Natalie, die Wilhelm nach diesem Vorfall ebenfalls Hilfe leistet, kann sie jedoch nicht mithalten. Er konnte die beiden Frauen vergleichen und „[als] sie nebeneinanderstanden, glaubte unser Freund nie einen solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in einem so ungünstigen Lichte erschienen.“[14] Es verwundert also nicht, dass Wilhelm keine Beziehung mit ihr führen möchte. Sie erlangt ihre sexuelle Befriedigung mit ihm aber trotzdem, als sie sich nachts nach der Hamlet-Aufführung[15] in sein Bett schleicht. Zuvor hatte sie ihre Pantoffeln vor sein Bett gestellt, womit sie ihn verrückt machte und woraufhin er nach ihr suchte. Dies beweist also wieder, dass er sich in gewisser Weise trotzdem zu ihr hingezogen fühlte, auch wenn sie nicht die Frau für eine Beziehung darstellte. Dass er sie während seiner Zeit bei der Theatergesellschaft nicht missen wollte, wird deutlich, als Philine kurze Zeit nach der Hamlet-Aufführung abreist, denn „[…]ihr eigenstes Geschäft war Wilhelmen zu schmeicheln […] und ihr Verlust musste bald fühlbar werden.“[16]
Philine stellt eine Person dar, die damals sicherlich mit einer Prostituierten gleichgestellt wurde, doch dieses Bild änderte sich zum Ende hin wahrscheinlich auch für die Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, da im letzten Buch herauskommt, dass sie schwanger ist und bald mütterliche und häusliche Aufgaben erledigen muss. Auf Wilhelms Bildungsweg spielt sie alles in allem also ebenfalls eine wichtige Rolle und hat großen Einfluss auf ihn, da er durch sie bei der Theatergesellschaft bleibt (und sich dadurch im künstlerischen Bereich weiterentwickelt), sie ihm hilft und den Aufenthalt versüßt und was Wilhelm von ihr lernen kann, „[…] ist Wert und Schönheit des Leichtsinns.“[17]
2.3. Aurelie
Im Gegensatz zu Philine bringt Aurelie ihre eigene Gefühlswelt in ihrem Rollenspiel zum Vorschein. Sie kann als Gegenstück zu der lebensfrohen, offenen Schauspielerin gesehen werden. „Wo Philine leicht ist, ist sie schwer, wo jene fröhlich ist, ist sie depressiv, wo jene weich und treuherzig ist, ist sie hart und aggressiv; und wo Philine eine Dilettantin ist, ist sie eine Heroine.“[18] Wilhelm lernt Aurelie, die Schwester des Theaterdirektors Serlo, gegen Ende des vierten Buches kennen. Er ist froh ihr zu begegnen, da sie sehr viele Gespräche führen und sie sich für ihn interessiert. Bei der wandernden Theatergruppe hatte er vor dem Zusammentreffen mit Serlo „[…] nur notdürftig gefällige Zuhörer gefunden […].“[19] Zwischen Aurelie und Wilhelm entwickelt sich allerdings keine Liaison, wie der Leser vielleicht zunächst vermuten könnte, da sich beide gut verstehen und Philine „[...] Wilhelmen inständig [bat] sich in Aurelien zu verlieben […].“[20] Die Schwester Serlos wird im Laufe des Romans eine sehr gute Freundin des Protagonisten, die ihm die Augen öffnen möchte, um ihm somit auf seinem Bildungsweg zu helfen. Was sie von ihm hält wird in einem Gespräch[21] mit Wilhelm nach einem Streit mit ihrem Bruder um ihren Dolch deutlich. Aurelie schätzt ihn als gebildet ein, wenn es um Shakespeare, das Theater und die Kunst geht. Folglich hat sich der Protagonist also auf seinem Bildungsweg schon weiterentwickelt, da er in diesem Bereich Erfahrung gesammelt hat und nun als ein Experte auf diesem Gebiet gesehen werden kann. Wilhelm hat sich intensiv mit dem Theater und der Dichtung beschäftigt, was an seinem künstlerischen Bildungsstand deutlich wird. Das Abstrakte, Weltfremde oder die schöne Kunst sind Begriffe, in deren Zusammenhang er als Fachmann in Erscheinung treten kann und er ist in der Theorie schon sehr gebildet. Aurelie fügt jedoch außerdem hinzu, dass er dagegen keine Menschenkenntnis besitze und bezeichnet ihn als „das erste, groß geborne Kind.“[22] Er hat theoretische Werte und weiß wie man Beziehungen zwischen Menschen im Theater darstellen kann, sodass die Zuschauer begeistert sind. Wilhelm kann dies allerdings nicht auf die reelle Welt umsetzen. Auf der sozialen Ebene hat sich Wilhelm also bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr entwickelt, auch wenn er, bevor er Aurelie kennenlernte, schon weitere Erfahrungen mit Frauen wie Philine und der Gräfin gesammelt hatte und die ganze Zeit unter vielen Leuten war. Wilhelm, der sie in seiner Antwort als „werte Freundin“ bezeichnet, gibt daraufhin zu, dass er die Menschen zwar kennenlernte, jedoch nicht lernte „[…] zu verstehen und zu begreifen.“[23] Dies hat ihm Aurelie also vor Augen geführt und man kann nun schon eine weitere kleine Entwicklung sehen, da er lernwillig ist und etwas von außen aufnehmen will. Schließlich gibt er zu, dass er seinen Blick „[…] mehr nach innen, als nach außen gerichtet [hätte].“[24] Dass Wilhelm das, was Aurelie ihm deutlich gemacht hat, auch umzusetzen versucht, wird kurze Zeit später deutlich.[25] Der Leser kann sehen, dass Wilhelm nun weiß, dass ihm Wissen und Erfahrung fehlen und diese sucht. Er weiß allerdings noch nicht was schlecht bzw. gut, richtig bzw. falsch ist. Er „[…] blieb viel zu lange an einer Idee […] hängen, und verließ dabei seine natürliche Denk- und Handelsweise, indem er fremden Lichtern als Leitsternen folgte.“[26] Wilhelm nimmt nun also Hilfe von außen an, aber vergisst dabei seine eigene Meinung mit einzubringen. Er hat den Mittelweg bzw. die Fusion zwischen „außen“ und „innen“ noch nicht erkannt. Wie man sehen kann, arbeitet Wilhelm aufgrund der Konversationen mit Aurelie daran. Sie hat also einen großen Einfluss auf ihn gehabt und das schon am Anfang ihrer Freundschaft.
Im weiteren Verlauf des Romans wird ihr Charakter deutlicher und der Leser lernt sie als Hysterikerin, die extreme Gefühlsschwankungen vorweist, kennen. Sie führt sich wie eine „Halb-Wahnsinnige“ auf, da sie Wilhelm verletzt, ihn danach aber verarztet. Diese Tat geschieht anscheinend ohne Grund und führt zu großer Verwunderung bei dem Protagonisten. Die Schauspielerei und die Selbstdarstellung sind ihr sehr wichtig und eine Aversion gegen Männer, Kinder, Häuslichkeit (dies könnte eventuell auch ihre Wahl des Schauspielberufs erklären) wird deutlich. „Sie erlebt Theater nicht wie Wilhelm als ein herrliches Universum im kleinen, sondern als schwere psychische Herausforderung.“[27] Hieran wird auch aufgezeigt, dass Wilhelm während seiner Freundschaft mit Aurelie immer noch die Welt in dem Theater sieht, was eine Stagnation der Entwicklung in dieser Hinsicht darstellt, da er dies auch schon am Anfang dachte und erst später korrigieren wird, wenn er sich vom Theater entfernen wird. Wie bereits erwähnt, verkörpert Aurelie ihre Gefühlswelt und „[ihre] zum Teil pathologischen Empfindungen“[28] auf der Bühne, was ihr Schauspiel, welches den Zuschauern zu gefallen scheint, auszeichnet. Vor allem in der Rolle als Orsina hat sie „alle Schleusen ihres individuellen Kummers“[29] aufgezogen. Ihr Bruder rügt ihr übertriebenes Spiel jedoch sarkastisch, woraufhin sie in den kalten Abend hinausstürzt. Bevor sie deswegen an den Folgen des schweren Fiebers stirbt, liest Wilhelm ihr die Bekenntnisse einer schönen Seele, ein Manuskript, welches ihr die Augen öffnet, sie in einer Weise versöhnt und woraufhin sie dann leise ihrem Ende entgegenkommt, vor.
[...]
[1] Vgl. Müller, Silke/Wess, Susanne: Studienbuch Neuere Deutsche Literaturwissenschaft 1720-1848. Basiswissen, zweite, durchgesehene Auflage, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 77.
[2] Mayer, Gerhart: Der Deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1992, S. 18.
[3] Vgl. Mayer, Der Deutsche Bildungsroman (Anm. 2), S. 18.
[4] Müller, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft (Anm. 1), S. 77.
[5] Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 83.
[6] Krimmer, Elisabeth: Mama’s Baby, Papa’s Maybe: Paternity and Bildung in Goethe‘s “Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: The German Quarterly 77, 2004, S. 257-277, hier: S. 268.
[7] Goethe, Johann Wolfgang/Bahr, Ehrhard (Hg.): Wilhelm Meisters Lehrjahre, Stuttgart: Reclam 1982, S. 11.
[8] Lösch, Michael: Who’s who bei Goethe, München: marixverlag 1998, S. 207.
[9] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Anm. 7), S. 13.
[10] Vgl. ebd., S. 135.
[11] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 103.
[12] Ebd., S. 143.
[13] Ebd., S. 358.
[14] Ebd., S. 235.
[15] 5. Buch, 12. Kapitel
[16] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 358.
[17] Lösch, Who’s who bei Goethe (Anm. 8), S. 253.
[18] Ebd., S. 33.
[19] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 252.
[20] Ebd., S. 258.
[21] Vgl. ebd., S. 266f.
[22] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 267.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Vgl. ebd., S. 296.
[26] Ebd.
[27] Lösch, Who’s who bei Goethe, S. 33.
[28] Ebd.
[29] Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 369.