Bei dem Neglekt-Syndrom handelt es sich um eine Störung der räumlichen Aufmerksamkeit, der keine Störung der primären Sinneswahrnehmung zu Grunde liegt. Dass die missachteten Reize nicht „gelöscht“ werden, zeigt bereits die Tatsache, dass Neglekt kurzzeitig kompensierbar ist und je nach Aufgabenstellung andere Bereiche des Raumes oder Objekte betroffen sind. Die Ergebnisse der Extinktions-Studien zeigen deutlich, dass eine unbewusste präattentive Verarbeitung stattfindet, die bis zur Ebene der semantischen Analyse geht. Die Art der Aufgabe bedingt, ob kontraläsionale Stimuli bewusst werden oder nicht: Können sie „zusammenarbeiten“, verschwindet die Extinktion. Wird hingegen die Konkurrenz verstärkt, wird sie schlimmer. Mechanismen der präattentiven Verarbeitung, wie Gruppierungseffekte oder Subitizing, erfolgen wie bei Gesunden und können dafür sorgen, dass ipsi- und kontraläsionale Stimuli eine gemeinsames Perzept bilden und dadurch ins Bewusstsein gelangen. Evolutionär bedeutsame Stimuli wie Gesichter werden vor anderen bevorzugt. Die erhaltene semantische Analyse wird in Priming-Studien sichtbar. Diese Ergebnisse der Neglektforschung weisen darauf hin, dass in der menschlichen Wahrnehmung auch unbeachtete Reize bis zu einer sehr hohen Ebene verarbeitet werden, bevor die Aufmerksamkeit im Raum verteilt wird und dass diese räumliche Verteilung offenbar mit Regionen im temporoparietalen Übergangsbereich in Verbindung steht. Warum die kontraläsionalen Stimuli trotz der beträchtlichen Verarbeitung in der alltäglichen Konkurrenz meist unterliegen, bleibt zu erforschen.
Inhaltsverzeichnis
1. Hintergrund und Herleitung der Fragestellung
2. Verarbeitung der missachteten Information
2.1 Präattentive Verarbeitunsmechanismen
2.2 Unbewusste semantische Verarbeitung
3. Fazit
1. Hintergrund und Herleitung der Fragestellung
Menschen, die an unilateralem Neglekt leiden, missachten die kontraläsionale Seite des sie umgebenden Raumes, von Objekten und sogar ihres eigenen Körpers. Bereits wenn sie einfach nur ruhig sitzen und keiner Tätigkeit nachgehen, fällt die spontane Augen- und Kopforientierung in Richtung der Seite der Läsion auf. Im Alltag zeigt sich die Störung dadurch, dass die Betroffenen beispielsweise bei der Körperpflege ebenfalls die kontraläsionale Seite vernachlässigen, Personen auf dieser Seite nicht wahrnehmen oder sich aufgrund der Missachtung verletzen (vgl. Karnath, Hartje & Ziegler, 2006, Kap. 21). In der klinischen Untersuchung mit Verfahren wie Durchstreichtests, Linienhalbierung oder der Tachistoskopie wird deutlich, woraus die Probleme der Patienten resultieren: Ihr Explorationsbereich ist zur Seite der Läsion hin horizontal verschobenen und zudem verkleinert. Das Zentrum der Exploration stimmt nicht mehr mit der saggitalen Körpermitte überein (Karnath, Niemeier & Dichgans,1998). Die Störung ist supramodal: Sie kann entweder nur eine oder aber auch mehrere Sinnesbereiche (visuell, sensorisch, auditiv, motorisch) betreffen (vgl. Karnath, Hartje & Ziegler, 2006, Kap. 21).
Eine Störung der räumlichen Aufmerksamkeit
Was das Syndrom des Neglekt für die Hirnforschung besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass die halbseitige Vernachlässigung nicht durch eine Störung der primären Sinnesmodalitäten hervorgerufen wird. Die Sinnesorgane sind intakt und die Weiterleitung und Verarbeitung der Information in die primären sensorischen Cortexarealen ist typischerweise nicht gestört (vgl. Gazzaniga, Ivry & Mangun, 2009). Driver und Vuilleumier (2001) vergleichen dieses Charakteristikum des Neglekt mit Läsionen der primären Sehrinde, wie sie bei Rindenblindheit typisch sind. Diese führen zu Gesichtsfeldausfällen entsprechend der retinotopen Schädigung. Im Falle des Neglekt gibt es jedoch keinen eng umschriebenen Bereich der Retina, der blind bleibt, sondern eher einen Gradienten von der ipsiläsionalen zur kontaläsionalen Seite hin (z.B. Smania et al., 1998). Die meisten Neglektpatienten haben einen Schlaganfall erlitten, sodass die Läsion sehr groß ist und Parietallappen, Temporallappen und Frontallappen, sowie subkortikale Strukturen betroffen sein können. Dementsprechend zeigen die Patienten meist mehrere Defizite, die sich gegenseitig verschlimmern können, darunter oft auch Hemianopsie und Paresen
(Driver & Vuilleumier, 2001). Als die Areale, die spezifisch die Neglektsymptomatik auslösen, gelten jedoch - wenn auch nicht unumstritten - der inferiore Parietallappen, die temporoparietale Übergangsregion, darunterliegende Marklager und zugehörige subkortikale Strukturen (vgl. Gazzaniga, Ivry & Mangun, 2009). Dementsprechend ist in der Regel der ventrale Objekterkennungspfad im Gegensatz zur Rindenblindheit erhalten, gestört ist vielmehr die Lokalisation von Objekten im dorsalen Pfad (Driver & Mattingley, 1998).
Dass der Neglekt eine Störung der Aufmerksamkeit ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass er kurzzeitig kompensierbar ist : Bei einem taktilen Neglekt können Berührungen am Arm, die normalerweise missachtet werden, beispielsweise dadurch wahrgenommen werden, dass dieser auf der ipsiläsionalen Seite des Körpers positioniert wird (Aglioti, Smania & Peru, 1999). Auch die Tatsache, dass nicht nur aktuelle Reize, sondern ebenfalls bereits vor der Entstehung der Läsion gespeicherte sensorische Eindrücke betroffen sind, weist auf die Störung höherer räumlicher Verarbeitungsprozesse hin. Diese Manifestation des Neglekt im topographischen Gedächtnis zeigten Bisiach und Luzzatti (1978) mit ihrer Studie, in der Patienten den Mailänder Domplatz aus verschiedenen Blickwinkeln beschrieben.
Karnath und Niemeier (2002) fanden heraus, dass dieselben Patienten aufgabenabhängig entweder raum- oder objektzentrierten Neglekt zeigen können. Wenn die Aufgabenstellung es erforderte, die Aufmerksamkeit auf den ganzen sie umgebenden Raum zu richten, vernachlässigten alle Patienten komplett die linke Seite. Bei der Fokussierung eines Teilbereiches vernachlässigten sie jedoch dessen linke Seite, auch wenn er im zuvor beachteten rechten Teil lag. Die Aufgabenstellung und somit der Fokus der Aufmerksamkeit kann also beeinflussen, ob Patienten denselben Stimulus am selben Ort be- oder missachten. Dies zeigt, inwiefern die selektive Aufmerksamkeit bei Neglekt beeinträchtigt ist.
Die größten Probleme haben Neglektpatienten, wenn kontra- und ipsiläsionale Stimuli zeitgleich um Aufmerksamkeit konkurrieren - was im Alltag ja auch meist der Fall ist. Extinktionstests zeigen die Unfähigkeit, einen kontraläsional präsentierten Stimulus bei simultaner ipsiläsionaler Präsentation wahrzunehmen. Wird derselbe Stimulus unilateral dargeboten, sind sie jedoch in der Lage, ihn auf beiden Seiten zu erkennen (z.B. Bender & Furlow, 1945).
Beim Neglekt handelt es sich also um eine Störung der räumlichen Aufmerksamkeit, bei der kontraläsionale Stimuli in der Konkurrenz um Aufmerksamkeitskapazität den ipsiläsionalen unterliegen. Was aber geschieht mit der missachteten Information? Dass Neglekt kurzzeitig kompensierbar ist und auch von der Aufgabenstellung beeinflusst werden kann, weist bereits darauf hin, dass die vernachlässigte Information in irgendeiner Form verarbeitet werden muss.
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