Die Diskussion über die antiautoritäre Erziehung existiert seitdem der Erziehungsstil selbst publik wurde. Sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Gesellschaft gibt es unterschiedliche Meinungen, ob und wie dieses Erziehungskonzept den Bedürfnissen und Interessen des Kindes gerecht wird. Um das beurteilen zu können, bedarf es jedoch zunächst einiger Vorbetrachtungen.
Ziel dieser Ausarbeitung soll es daher sein, die Einflüsse und Auswirkungen der antiautoritären Erziehung auf die Entwicklung des Kindes zu erläutern. Da es insgesamt eine Vielzahl von Variationen der antiautoritären Erziehung gibt, worauf noch gesondert eingegangen werden wird, greift diese Ausarbeitung auf die theoretische Konzeption und praktische Umsetzung der sozialistisch-antiautoritären Erziehung der Kinderläden zurück. Es soll außerdem der Frage nachgegangen werden, ob die antiautoritäre Erziehung der Kinderläden in ihrer Ausrichtung eine Überforderung für die Psyche des Kindes darstellt und wenn ja, wodurch sich dieses äußert. Dazu soll zuerst eine geschichtliche Darstellung der Entwicklung der antiautoritären Erziehung und der Kinderladenbewegung, auch unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, erfolgen. Daran anschließend soll der Erziehungsstil selbst in seiner Struktur dargestellt werden. Des Weiteren wird eine Betrachtung der entwicklungspsychologischen Faktoren erfolgen, welche das Kind in den ersten Jahren seines Lebens maßgeblich beeinflussen und weiterführend, welchen Einfluss die antiautoritäre Erziehung dabei hat. Zusätzlich soll auch die Rolle und Funktion der Eltern untersucht werden, beziehungsweise in welcher Art und Weise sich die Eltern-Kind-Beziehung bei der antiautoritären Erziehung auf die Kindesentwicklung auswirkt. Abschließend ist noch anzumerken, dass, obwohl untrennbar mit den Kinderläden verbunden, keine maßgebliche Bewertung der politischen Hintergründe erfolgen soll. Diese werden nur als gesellschaftliche Rahmenbedingung und historischer Fakt erwähnt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ursprünge der antiautoritären Erziehung
3. Entstehung und Entwicklung der Kinderläden
4. Theorie und Praxis der Kinderläden
5. Erziehungsbedürfnis des Kindes
5.1. Die beständige, liebevolle Beziehung
5.2. Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
5.3. Erfahrungen entsprechend des Entwicklungsstandes
5.4. Grenzen und Strukturen
6. Wird die antiautoritäre Erziehung in den Kinderläden den Erziehungsbedürfnissen der Kinder gerecht?
6.1. Die beständige, liebevolle Beziehung
6.2. Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
6.3. Erfahrungen entsprechend des Entwicklungsstandes
6.4. Grenzen und Strukturen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Die antiautoritäre Erziehung, können nur Leute erfunden haben, die selber keine Kinder haben.“[1] Die Behauptung, welche Liselotte Pulver mir ihrem provokanten Ausspruch aufstellt, ist die, dass die antiautoritäre Erziehung nicht dem entspricht, was Kindern tatsächlich zuteilwerden sollte. Die Diskussion über die antiautoritäre Erziehung existiert seitdem der Erziehungsstil selbst publik wurde und man könnte behaupten, es sei eine der Intensivsten. Sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Gesellschaft gibt es unterschiedliche Meinungen, ob und wie dieses Erziehungskonzept den Bedürfnissen und Interessen des Kindes gerecht wird. Um das beurteilen zu können, bedarf es jedoch zunächst einiger Vorbetrachtungen.
Ziel dieser Ausarbeitung soll es daher sein, die Einflüsse und Auswirkungen der antiautoritären Erziehung auf die Entwicklung des Kindes zu erläutern. Da es insgesamt eine Vielzahl von Variationen der antiautoritären Erziehung gibt, worauf noch gesondert eingegangen werden wird, greift diese Ausarbeitung auf die theoretische Konzeption und praktische Umsetzung der sozialistisch-antiautoritären Erziehung der Kinderläden zurück. Es soll außerdem der Frage nachgegangen werden, ob die antiautoritäre Erziehung der Kinderläden in ihrer Ausrichtung eine Überforderung für die Psyche des Kindes darstellt und wenn ja, wodurch sich dieses äußert. Dazu soll zuerst eine geschichtliche Darstellung der Entwicklung der antiautoritären Erziehung und der Kinderladenbewegung, auch unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, erfolgen. Daran anschließend soll der Erziehungsstil selbst in seiner Struktur dargestellt werden. Des Weiteren wird eine Betrachtung der entwicklungspsychologischen Faktoren erfolgen, welche das Kind in den ersten Jahren seines Lebens maßgeblich beeinflussen und weiterführend, welchen Einfluss die antiautoritäre Erziehung dabei hat. Zusätzlich soll auch die Rolle und Funktion der Eltern untersucht werden, beziehungsweise in welcher Art und Weise sich die Eltern-Kind-Beziehung bei der antiautoritären Erziehung auf die Kindesentwicklung auswirkt. Abschließend ist noch anzumerken, dass, obwohl untrennbar mit den Kinderläden verbunden, keine maßgebliche Bewertung der politischen Hintergründe erfolgen soll. Diese werden nur als gesellschaftliche Rahmenbedingung und historischer Fakt erwähnt.
2. Ursprünge der antiautoritären Erziehung
Obwohl antiautoritäre Erziehung in der Öffentlichkeit oftmals als einheitliches Konzept artikuliert wird, muss man bei genauerer Analyse feststellen, dass dem nicht so ist. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von spezifischen Ausrichtungen, Zielen und Konzepten, welche gemeinhin unter dem Begriff der antiautoritären Erziehung zusammengefasst werden. Betrachtet man den Sachverhalt aus geschichtlicher Perspektive stellt sich heraus, dass die ersten Überlegungen zu einem antiautoritär geprägten Erziehungsstil bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen. Basierend auf dem Glauben an das von Natur aus gute Kind hatte bereits Jean-Jacques Rousseau die Vorstellung an eine natürliche, weitgehend autoritätsfreie Kindeserziehung proklamiert.
In seinem pädagogischen Hauptwerk ‚Emile oder über die Erziehung‘ beschreibt er den Erzieher eher als ein Art Prozessbegleiter, dessen eigentliche Aufgabe die Verhütung von Schaden ist. Er soll nicht direkt in den natürlichen Entwicklungs- und Reifungsprozess des Kindes eingreifen, sondern eben diesen Prozess frei und ungestört geschehen lassen.[2] Weiterhin schließt Rousseau jedwede Form der direkten Bestrafung des Kindes durch den Erziehenden aus. Vielmehr betont er, den Zusammenhang zwischen Handlung und Konsequenz durch das Kind selbst erfahren zu lassen. Dem Kind sollte „[…] niemals die Strafe als Strafe auferlegt […]“[3] werden. Vielmehr kommt es darauf an, „ […] daß sie ihm jedesmal als natürliche Folge seiner ungerechten Handlung begegnen muß […]“[4].
Für die antiautoritäre Erziehung, wie sie heutzutage verstanden wird, gab der Reformpädagoge Alexander Neill bereits in den 1920er Jahren bedeutende Impulse. Auch in seinem Werk ‚Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung‘ betont er die freie Entfaltung des Kindes und lehnt Erziehung im Sinne einer direkten Einflussnahme, oder gar Zwang gegenüber dem Kind, kategorisch ab. Das oberste Ziel seiner Erziehungsphilosophie ist dabei das Wohlbefinden, die Ausgeglichenheit[5] und die Lebenserfüllung[6] des Zöglings.
3. Entstehung und Entwicklung der Kinderläden
In Deutschland wurden die Ideen Neills um 1968 durch die anti-autoritär geprägten Studentenbewegungen aufgegriffen. In diesem Zusammenhang erfolgte auch die Zusammenfassung verschiedener Ziele und Konzepte unter dem Oberbegriff der antiautoritären Erziehung. Lediglich die konkrete Ausrichtung der Erziehung gegen den bis dahin üblichen autoritären Erziehungsstil ist bei allen Anhängern der Bewegungen gleich. Wie bereits angesprochen, impliziert das gemeinsame Verständnis dessen, was es abzulehnen galt, nicht, wie sich die Umsetzung dieses Ziels gestalten soll. Zusätzlich zu verschiedensten politischen Intentionen, die die jeweiligen Akteure verfolgten, bildeten sich auch differenzierte Verständnisformen des antiautoritären Erziehungskonzeptes. Weber (1963) fasst die mannigfaltigen Ausprägungen in zwei Hauptströmungen zusammen, nämlich in die der liberalen und die der sozialistischen, antiautoritären Erziehung.[7] Für die nachfolgenden Betrachtungen wird das Hauptaugenmerk auf die sozialistische Version, wie sie in den sogenannten ‚Kinderläden‘ praktiziert wurde, gelegt.
Vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Revolution entstand ab 1967 eine sozialistisch-antiautoritäre Erziehung, deren praktische Umsetzung, die Kinderläden, zunehmend an Bedeutung gewann. Das politische Ziel der linksgerichteten Studentenverbindung war die Abschaffung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, deren autoritären Charakter man als Unterdrückung verstand.[8] Der gesellschaftliche Umbruch sollte auch auf der völligen Neugestaltung der Kindeserziehung basieren. Auf dieser Grundlage wurden in mehreren deutschen Großstädten zuerst sogenannte ‚Kinderkollektive‘ gegründet, aus denen die Kinderläden unmittelbar hervorgingen. Der Begriff ergab sich zum einen aus der bewussten Abgrenzung zum herkömmlichen Kindergarten, zum anderen aber auch aus der Tatsache, dass die Kinderkollektive zumeist in leerstehenden Handelsgeschäften untergebracht waren. Bis 1970 entstanden auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland circa 200 Kinderläden. Fast alle von ihnen befanden sich in großen Universitätsstädten, woran man die enge Verknüpfung mit den Studentenbewegungen erkennen kann. Bis heute wurden die Kinderläden entweder durch ihre Gründer selbst, oder durch staatliche Intervention geschlossen.[9]
4. Theorie und Praxis der Kinderläden
Die Grundidee hinter den Kinderläden war mit der der liberalen Konzeption der antiautoritären Erziehung durchaus vergleichbar. Auch hier stand das individuelle Glück und Wohlbefinden des Kindes an erster Stelle. Dieses Glück konnte aber nur unter bestimmten Voraussetzungen erlangt werden, deren Bereitstellung die vornehmliche Aufgabe des Kinderladens darstellte.[10] Zu diesen Rahmenbedingungen zählten die freie Bedürfnisäußerung und -regulierung durch das Kind, die Freiheit von Schuldgefühlen, die funktionale Rücksichtnahme der Aufsichtsperson sowie das Initiativrecht des Kindes in Fragen der Lerninhalte und deren Vermittlung.[11]
Aus diesen Forderungen leiteten sich entsprechend auch die Grundprinzipien der sozialistisch-antiautoritären Erziehung ab. Diese beinhalten die freie Bedürfnisbefriedigung, die Autonomie der Kinder durch Aufhebung der elterlichen Bindung und die Selbstbestimmung des kindlichen Handelns.[12] Auch der Umgang mit kindlicher Aggression wurde grundlegend neu definiert. Soweit keine körperliche Beeinträchtigung Anderer erfolgte, sollte gegen aggressive handelnde Kinder nicht vorgegangen werden.[13]
Wie bereits erwähnt, finden sich in den Grundüberlegungen der theoretischen Konzeption diverse Parallelen zur liberal-antiautoritären Erziehung. Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch in der politischen Haltung, welche die Akteure natürlich auch in ihren Überlegungen zur Erziehung beeinflusst. Während der liberale Ansatz aus der Tradition Neills vollkommen unpolitisch ist, geht man in den Kinderläden davon aus, dass das angestrebte Erziehungsziel, das individuelle Glück, nur innerhalb einer glücklichen Gesellschaft möglich sei und nicht nur im rein privaten Umfeld realisierbar ist.[14] Im Denken der sozialistisch geprägten, antiautoritären Erziehung geht dieser Ansatz mit der Forderung nach einer politischen Strategie einher, welche den Kapitalismus, zugunsten des Sozialismus, ablehnt. Dies basiert auf der Auffassung, dass eine selbstregulative Bedürfnisbefriedigung in einem kapitalistischen System unmöglich sei.[15]
In der Praxis äußerte sich die Umsetzung des theoretischen Grundgerüstes dahingehend, dass sich die Kinder nahezu ungehemmt ihren Trieben und Bedürfnissen hingeben konnten. Berichte aus dem Alltag eines Kinderladens zeigten willkürliches Verhalten der Kinder, was sich beispielsweise durch Nacktheit, Unordnung und mangelnde Hygiene äußerte. Die Reaktion der Bevölkerung war durch „[…] Erstaunen und Ratlosigkeit, aber auch Betroffenheit, Empörung und Protest […]“[16] geprägt. Man fürchtete um eine Verwahrlosung der Kinder und kritisierte die ausbleibende Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Normen.
Obwohl die einzelnen Kinderläden zumeist unabhängig voneinander gegründet und betrieben wurden, lassen sich zusammengefasst drei Haupttendenzen ergründen, welche die dort praktizierte Erziehung verfolgte. Weber (1963) benennt diese als „[…] die Ablösung der bürgerlichen Familienerziehung, die Abschaffung der repressiven Sexualmoral und die Vorbereitung auf den revolutionären Klassenkampf.“[17] Damit fanden sich die Forderungen nach freier Entfaltung innerhalb kollektiver, antiautoritärer Lebensgemeinschaften auch in der erzieherischen Praxis wieder. Nach Meinung der Anhänger der sozialistisch-antiautoritären Bewegung konnte nur durch den radikalen Bruch mit traditionellen Lebensgemeinschaften und Sozialisationsinstanzen eine nachhaltige Entwicklung erfolgen, da eine bloße Reform bestehender Handlungsweisen systembedingt unwirksam werden würden.[18]
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[1] Liselotte Pulver (unbekannt). Online verfügbar unter: http://www.zitat-service.de/quotation/show/716 [aufgerufen am: 22.04.2011; 19:45 Uhr]
[2] vgl. Weber (1963), S. 37
[3] Rousseau (1963), S. 228
[4] ebd. S. 228
[5] vgl. Neill (1971), S. 102
[6] ebd. S. 41
[7] Weber (1963), S. 37f.
[8] ebd. S. 68
[9] vgl. Weber (1963), S. 70f.
[10] ebd. S. 73
[11] vgl. Seifert (1970), S. 70
[12] vgl. Autorenkollektiv (1970), S. 223
[13] ebd. S. 128
[14] vgl. Seifert (1970), S. 69ff.
[15] vgl. Weber (1963), S. 74
[16] Weber (1963), S. 76
[17] ebd. S.76
[18] ebd. S.76f.