Im Alltag einer psychiatrischen Station mit dem Behandlungsschwerpunkt Krisenintervention suchen oft Frauen im mittleren Lebensalter Hilfe, die durch belastende Lebensereignisse in eine persönliche Krise geraten und Diagnosen wie Anpassungsstörungen und Depressionen, aber auch Angststörungen und Medikamentenabusus vorweisen.
Psychische Erkrankungen gewinnen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 2005 standen psychische Erkrankungen an vierter Stelle der Krankheitsursachen für Arbeitsunfähigkeit. Die Depression ist die häufigste psychische Erkrankung, an der ca. 5% der Bevölkerung leiden. Frauen sind hierbei zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Männer. Zudem erhöht sich das demographische Gewicht des mittleren Lebensalters mittelfristig durch die demographische Entwicklung. Die demographische Alterung der Erwerbsbevölkerung schreitet fort.
In der Behandlungskonzeption der psychotherapeutisch orientierten Stationen werden Krisen aber auch in Anlehnung an Aguilera (vgl. Aguilera 2000) als Chance zur Entwicklung verstanden.
Diese Arbeit soll daher neben einem Überblick zur Bedeutung der Begriffe Identität und Krise untersuchen, wodurch Krisen bei Frauen im mittleren Lebensalter ausgelöst werden können und welche Gefahren und Möglichkeiten in einer Krise für die Entwicklung der Identität von Frauen liegen. Dazu wird mit Hilfe einer Literaturübersicht folgende Fragestellung untersucht:
Wie wirken sich kritische Lebensereignisse auf die Identitätsentwicklung von Frauen im Erwachsenenalter aus?
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Entwicklung von Identität
3 Die Rolle von Frauen im mittleren Erwachsenenalter
4 Entwicklung
5 Kritische Lebensereignisse und Krisen
6 Auswirkung von Krisen auf die Identitätsentwicklung von Frauen im mittleren Erwachsenenalter
7 Diskussion
8 Fazit und Ausblick
9 Literaturverzeichnis
Wohl in der Mitte unseres Lebensweges
geriet ich tief in einen dunklen Wald,
so dass vom graden Pfad ich verirrte.
Oh, schwer wird´s mir, zu sagen, wie er war,
der wilde Wald, so finster und so rau;
Angst fasst aufs neue mich, wenn ich dran denke;
So schmerzlich, dass der Tod kaum bittrer ist.
Dante Alighieri
1 Einleitung
Im Alltag einer psychiatrischen Station mit dem Behandlungsschwerpunkt Krisenintervention suchen oft Frauen im mittleren Lebensalter Hilfe, die durch belastende Lebensereignisse in eine persönliche Krise geraten und Diagnosen wie Anpassungsstörungen und Depressionen, aber auch Angststörungen und Medikamentenabusus vorweisen.
Psychische Erkrankungen gewinnen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 2005 standen psychische Erkrankungen an vierter Stelle der Krankheitsursachen für Arbeitsunfähigkeit. Die Depression ist die häufigste psychische Erkrankung, an der ca. 5% der Bevölkerung leiden. Frauen sind hierbei zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Männer. Zudem erhöht sich das demographische Gewicht des mittleren Lebensalters mittelfristig durch die demographische Entwicklung. Die demographische Alterung der Erwerbsbevölkerung schreitet fort.
In der Behandlungskonzeption der psychotherapeutisch orientierten Stationen werden Krisen aber auch in Anlehnung an Aguilera (vgl. Aguilera 2000) als Chance zur Entwicklung verstanden.
Diese Arbeit soll daher neben einem Überblick zur Bedeutung der Begriffe Identität und Krise untersuchen, wodurch Krisen bei Frauen im mittleren Lebensalter ausgelöst werden können und welche Gefahren und Möglichkeiten in einer Krise für die Entwicklung der Identität von Frauen liegen. Dazu wird mit Hilfe einer Literaturübersicht folgende Fragestellung untersucht:
Wie wirken sich kritische Lebensereignisse auf die Identitätsentwicklung von Frauen im Erwachsenenalter aus?
2 Die Entwicklung von Identität
Sucht man nach Erklärungen für das Konstrukt der Identität, finden sich viele verschiedene und sich überlappende Theorieentwürfe. Im Folgenden sollen Beispiele für zentrale Positionen aufgeführt werden.
Erikson führt bei der Beschäftigung mit der Adoleszenz den Begriff der Identität ein. Er versteht unter Identität die „unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen (vgl. Erikson 1966:18). Erikson baut damit auf der von Freud entwickelten Vorstellung von normativen Konflikten in der frühen Kindheit auf und weitet sie auf den ganzen Lebenslauf aus. Er versteht unter Entwicklung eine Abfolge krisenhafter Phasen, die aufeinander aufbauen (vgl. Ulich 1987:65). Jede Bewältigung einer kritischen Phase ist dabei Voraussetzung für Entwicklungsprozesse in der nächsten Stufe. Entwicklung als Lösung von Grundkonflikten ist typisch für jede Phase des Lebenslaufs. Die Phase der Identitätsfindung ordnet er der Adoleszenz zu, da die Jugendlichen gravierenden körperlichen Veränderungen ausgesetzt sind und Erfahrungen der Kindheit mit den Möglichkeiten und Erwartungen an den zukünftigen Erwachsenen integrieren müssen. Rollenkonfusion gefährdet nach Erikson die Identitätsbildung und wird sichtbar in der Unfähigkeit der Jugendlichen, eine Rolle entsprechend der Erwartungen der Gesellschaft anzunehmen (vgl. Faltermaier 2002:44-46). Entwicklung beschreibt Erikson somit als Prozess, orientiert an einer „Normalbiographie“, in der sich Veränderung nur durch Krisen vollziehen kann (vgl. Ulich 1987:65).
Havighurst orientiert sich mit seinem Konzept der Entwicklungsaufgaben stark an Erikson. Er gliedert den Lebenslauf an Entwicklungsaufgaben, die sich stark an der Normalbiographie von Mittelschichtangehörigen westlicher Industriegesellschaften anlehnen. Für das mittlere Erwachsenenalter formuliert er die Entwicklungsaufgabe „Heim / Haushalt führen, Kinder aufziehen, berufliche Karriere“ (vgl. Ulich 1987:78).
Auf der Basis von Eriksons Theorie nimmt Marcia (vgl. 1966) anhand empirischer Untersuchungen vier Identitätszustände an, die sich danach einteilen lassen, ob eine Krise bewusst erlebt und ihr gegenüber eine Verpflichtung eingegangen wird: In der „diffusen Identität“ findet keine Festlegung für Beruf oder Werte statt, Krisen wurden nicht erlebt. Das „Moratorium“ beschreibt ein krisenhaftes Suchen ohne bisherige Festlegung. Die Auseinandersetzung mit beruflichen oder sonstigen Wertfragen ist gegenwärtig. Bei der „übernommenen oder vorweggenommene Identität“ vollzieht sich die Festlegung auf Beruf oder Werte in Folge einer Auswahl durch die Eltern, es entsteht eine innere Verpflichtung auf einen zuvor nicht krisenhaft erarbeiteten Lebensentwurf. Personen mit einer „erarbeiteten Identität“ legen sich auf selbst ausgewählte Berufe und Wertpositionen fest, Krise und Verpflichtung dienen hier als Voraussetzung. Marcia et al. (vgl. 1993) weisen in empirischen Studien die Möglichkeit nach, Identitätszustände mehrfach zu durchlaufen oder eine bereits erreichte Identität anzuzweifeln (vgl. Faltermaier 2002:66-67).
Whitbourne & Weinstock (1982) verstehen unter Identität die Gesamtheit körperlicher Merkmale, Fähigkeiten, Motive, Ziele, Einstellungen, Werthaltungen und sozialer Rollen, die ein Mensch sich selbst zuschreibt. Sie entwerfen einen dynamischen Identitätsprozess und unterscheiden dabei zwischen induktiver und deduktiver Differenzierung. Bei der induktiven Differenzierung akkommodiert das Individuum ständig seine bisherige Identitätsstruktur an veränderte Umweltbedingungen, die nicht mehr in Einklang mit seinem Selbstbild stehen. Bei der deduktiven Differenzierung werden Erfahrungen aus der Perspektive der Identität des Individuums assimiliert. Zu einer Störung kommt es, wenn induktive und deduktive Differenzierung nicht mehr im Gleichgewicht stehen. Bei einem Überwiegen der deduktiven Identität bleibt die Identitätsstruktur starr und unflexibel, neue Erfahrungen werden nicht integriert, wenn sie nicht mit dem Selbstbild übereinstimmen. Bei zu großem Realitätsverlust entstehen Krisen durch Anpassungsprobleme. Überwiegt die induktive Differenzierung kommt es zu einer ständigen Akkommodation der Identitätsstruktur bei neuen Erfahrungen. Ursache können sich schnelländernde Lebensbedingungen sein, ebenso wie eine zu schwach ausgeprägte, zu flexible oder sich zu schnell anpassende Identitätsstruktur. Die Persönlichkeit erscheint instabil, es mangelt ihr an Erfahrung der Kontinuität. Nimmt sich die Person nicht mehr als Einheit war, kann es zur Krise kommen mit der Folge eines Identitätsverlustes. Psychische Störungen können in beiden Fällen bei fehlender Gegenregulation erfolgen (vgl. Faltermaier 2002:67-69).
In einem Lehrbuch „Psychiatrische Krankenpflege“ (vgl. Sauter et al. 2006) wird Identität als „subjektiver Konstruktionsprozess“ beschrieben. Individuen bemühen sich hier, innere und äußere Welt zu integrieren (Keupp et al. 2002: 7). Bei der „Identitätsarbeit“ sollen unterschiedliche Erfahrungen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht und individuell verknüpft werden (vgl. ebd.: 9). Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung führen zu einem „Patchwork der Identitäten“ (vgl. Keup 1997). Das Konzept der narrativen Identitätskonstruktion geht davon aus, dass die Identität eines Menschen geformt wird, indem sich anderen mitgeteilt wird und durch positive Gegenreaktionen bestärkt wird.
Zur Frage, ob sich bei der Identitätsbildung ein Geschlechtseffekt nachweisen lässt, formuliert Gilligan 1988 eine These, die besagt, das Mädchen wegen der Zunahme an verfügbaren Optionen heutzutage stärkere Identitätsprobleme zeigen. In früheren Studien lassen sich eine stärkere Orientierung von Jungen an berufsbezogenen, von Mädchen an beziehungsbezogenen Facetten der Identität nachweisen, was sich heute jedoch nicht mehr klar nachweisen lasse.
3 Die Rolle von Frauen im mittleren Erwachsenenalter
Versucht man Informationen über das aktuelle Frauenselbstbild über eine große Internetsuchmaschine zu erhalten, könnte man zu der Auffassung gelangen, dass sich das Frauenbild zwischen Theorien Eva Hermans, Alice Schwarzers und „Germany´s Next Top Model“ bewegt.
Als zentrale Entwicklungsaufgaben für das mittlere Erwachsenenalter formulierten Peck (1972) als Ergänzung zu Erikson und Havighurst Folgendes (vgl. Abb.1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 (Faltermaier 2002:144)
In dieser Phase sollen also Bewertungen, Modifizierungen und Rücküberprüfungen von Lebenszielen stattfinden. Tesch (vgl. 1985) und Novak (vgl. 1985-86) können jedoch keinen Zusammenhang von Generativität und Lebensalter nachweisen. Faltermaier (vgl. 2002:145) fordert deswegen, Entwicklungsaufgaben offener zu formulieren, empirisch besser zu fundieren und für unterschiedliche kulturelle und soziale Milieus zu differenzieren.
Historische Analysen von Kohli (vgl. 1985) zeigen, dass im mittleren 19. Jahrhundert ein typisch zeitlicher Ablauf von Ereignissen im Familienzyklus (Heirat, Geburt der Kinder, Auszug der Kinder aus dem Elternhaus, Tode des Ehegatten) zu einer grobe Dreiteilung des Lebenslaufes mit Kindheit und Jugend als Vorbereitungsphase, Aktivitätsphase im Erwachsenenalter und Ruhephase im Alter führte. Diese Phasen wurden verstärkt durch die rechtliche Fixierung von Altersgrenzen über das Bildungs- und Rentensystem. Dieser Prozess der Familienbildung wird verschoben (vgl. Kohli 1985:22), was unter anderem sichtbar wird durch einen Anstieg des Alters bei Heirat und bei Geburt der Kinder. Die Heiratsneigung und Geburtenrate nimmt ab, Scheidungsziffern steigen stark an. Die Familie als dominante Lebensform ist nicht mehr vorherrschend, es kommt somit zu einer Pluralität von Lebensformen. Der früher stark altersnormierte Familienzyklus ist in dieser Form heute für viele Menschen und vor allem Frauen nicht mehr ein selbstverständlicher Teil ihres Lebenslaufs.
Ähnliche Entwicklungen sind in der Erwerbsarbeit sichtbar. Sogenannte Normalarbeitsverhältnisse sind nicht mehr vorherrschend. Massenarbeitslosigkeit, das Entstehen einer Vielfalt von Erwerbsverhältnissen, wie diverse Teilzeitformen, befristeten Arbeitsverträgen, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse (Jobs ohne Sozialversicherung, Leiharbeit, Heimarbeit, Werkverträge, freie Mitarbeit), die Tendenz zur Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitszeit führt zu einem Aufbrechen der normalen Erwerbsbiographie. Diese Entwicklungen in Familie und Erwerbsleben sind Teil eines gesellschaftlichen Umbruchsprozesses, der als Individualisierungsprozess beschrieben wird (vgl. Beck 1986) mit einer Ablösung von traditionellen Sozial- und Lebenszusammenhängen, insbesondere aus den sozialen Klassen, Geschlechtsrollen und Familienbezügen. Dieser Verlust von traditionellen Sicherheiten führt zu einer neuen Art sozialer Einbindung, die Beck im Wesentlichen in der vollständigen Abhängigkeit des Individuums vom Arbeitsmarkt sieht. Die Bewältigung ständig neuer Anforderungen der Gesellschaft insbesondere auch durch Frauen erfordert insgesamt einen anderen Persönlichkeitstypus, den flexiblen Mensch (vgl. Sennett 1998). Das Bild des fertigen Erwachsenen ist nicht mehr gültig.
Die Ergebnisse eines empirischen Projekt von Höpflinger und Perrig-Chiello (2001) besagen unter anderem, dass Frauen im mittleren Lebensalter noch stark im Spannungsfeld traditioneller und moderner weiblicher Lebenschancen stehen und sich oft mit traditionell orientierten Müttern und modern orientierten Töchtern konfrontiert sehen. Geissler und Oechsle weisen 1996 hingegen fünf unterschiedliche Typen der Lebensplanung bei jungen Frauen nach, die große intraindividuelle Unterschiede von der individualisierten über die berufszentrierte bis zur traditionellen familienzentrierten Lebensplanung zeigen (vgl. Geissler / Oechsle 1996).
Als weitere bedeutsame Veränderungen im historischen Vergleich von Frauen im mittleren Erwachsenenalter stellen Höpflinger und Perrig-Chiello ein verzögertes Einsetzen der nachelterlichen Lebensphase durch die späteren Geburten fest. Zudem bleiben gut qualifizierte Frauen aufgrund beruflich-familiärer Unvereinbarkeiten oft kinderlos und leben in dieser Lebensphase im Gegensatz zu Männern tendenziell eher allein. Ansonsten spielt sich das Leben der Frauen im mittleren Lebensalter mehrheitlich in Kleinfamilien oder Paarhaushaltungen ab. Eine intergenerationelle Doppelbelastung (gleichzeitig Kind und pflegebedürftiges Elternteil im Haushalt) ist nachweisbar keine typische und erwartbare Erfahrung. Dennoch kommt es zu einer Zunahme eines zweiten familial-beruflichen Vereinbarkeitskonflikts von Frauen durch Notwendigkeit der Übernahme familialer Pflege. Der Tod der Eltern kann dennoch belastend wirken. Insgesamt kommt es zu einer Zunahme der Erwerbsquoten von Frauen im mittleren Lebensalter, die charakterisiert ist durch ein vielfältiges Nebeneinander verschiedener familial-beruflicher Biographien. Frauen in diesem Lebensalter werden deutlich seltener frühpensioniert. Eine zusätzliche Belastung kann der Tod der eigenen Eltern bedeuten (vgl. Höpflinger / Perrig-Chiello 2001).
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