Eine vom Wortlaut her unscheinbare und kleine Zeitungsnotiz, stammend vom spanischen Ministerpräsidenten Aznar, wirbelte im März die europäischen gesundheitspolitischen Ministerien gehörig durcheinander. So forderte der seit Anfang des Jahres als EURatspräsident fungierende Aznar öffentlich die Harmonisierung der Sozialsysteme innerhalb der Europäischen Union. Die Aussage kam dahingehend überraschend, da die primären Ziele der gesundheitspolitischen Maßnahmen der Europäischen Union, so besagt es Artikel 152 des Europäischen Gründungsvertrages, nur als Ergänzung zur jeweiligen Gesundheitspolitik der einzelnen Nationalstaaten verstanden werden können. Des weiteren liegt die Verwaltung medizinischer Dienstleistungen ausschließlich in den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, wobei diese sich allein für die Organisation und Finanzierung ihrer Gesundheitssysteme verantwortlich zeigen. Die später erlassene Stellungnahme des Bundesrates kritisierte die Aussagen des spanischen Ratspräsidenten und forderte die Bundesregierung auf, Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union zu unterbinden. Für uns stellte sich nun die Frage, worin die Ursachen für den lautstark geäußerten Unmut europäischer Nationalstaaten bei dem politischen Vorstoß Aznars lagen. Perspektivisch ist das Fernziel der Europäischen Union die Vollendung der wirtschaftlichen und politischen Integration. Dieser Prozess beinhaltet auch die Vereinheitlichung der Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten. Die Schwierigkeiten die sich jedoch hieraus ergeben, liegen in den unterschiedlich gewachsenen Strukturen nationaler Gesundheitssysteme, welche die Autoren im ersten Abschnitt anhand eines exemplarischen Ländervergleiches Deutschland/Großbritannien darlegen wollen. Die Betrachtung wird sich nur auf den wesentlichen strukturellen Kontext der Systeme beziehen, da eine differenziertere Betrachtung den Rahmen einer Hausarbeit übersteigen würde. In einem zweiten Schritt soll aufgezeigt werden, wie resultierend aus der politischen Vision eines einheitlichen Europas, Eingriffe in die Kernbereiche der nationalen Gesundheitssysteme vorgenommen werden. Diesen Prozess, der sich vorzugsweise aus der europäischen Rechtssprechung ergibt, galt es genauer zu betrachten. Dabei soll beurteilt werden, ob dieses Geschehen einen schleichenden Harmonisierungsprozess induziert und welche Auswirkungen auf die deutsche Gesundheitspolitik von den Autoren gesehen werden. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Europäische Sozialversicherungsmodelle im Überblick
3. Deutschland und Großbritannien – ein problematisierender Vergleich zweier unterschiedlicher Systeme
3.1. Das deutsche Gesundheitssystem
3.1.1 Struktur des Gesundheitssystems
3.1.2. Die Auswirkungen der Systemstruktur auf die deutsche Gesundheitspolitik.
3.2. Die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems
3.2.1. Die Auswirkungen der Finanzierung auf die deutsche Gesundheitspolitik
3.3. Die Leistungserbringung im deutschen Gesundheitswesen
3.3.1 Die ambulante Versorgung
3.3.2. Die Vergütung der Leistung
3.3.3. Die Auswirkungen der ambulanten Versorgung auf die deutsche Gesundheitspolitik
3.3.4. Die stationäre Versorgung
3.3.5 . Die Vergütung stationärer Versorgung
3.3.6. Die Auswirkungen der stationären Versorgung auf die Gesundheitspolitik
4. Das britische Gesundheitssystem
4.1. Struktur des Gesundheitssystems
4.1.1. Auswirkungen der Strukturen auf die britische Gesundheitspolitik
4.2. Finanzierung des Gesundheitssystems
4.2.1. Die Auswirkungen der Finanzierung auf die britische Gesundheitspolitik
4.3. Die Leistungserbringung im britischen Gesundheitssystem
4.3.1. Die Leistungsorganisation über die Primary Care Groups
4.3.2. Die ambulante Versorgung
4.3.3. Die Vergütung der Leistung
4.3.4. Die Auswirkungen der ambulanten Versorgung auf die britische Gesundheitspolitik
4.3.5. Die stationäre Versorgung in Großbritannien
4.3.6. Die Vergütung stationärer Versorgung
4.3.7. Die Auswirkungen der stationären Versorgung auf die britische Gesundheitspolitik
5. Zusammenfassung
6. Die Europäische Union
6.1. Überblick zur Entwicklung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union
6.1.1. Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes
6.2. Der Europäischer Gerichtshof
6.2.1. Rechtssachen
6.3. Gesundheitspolitik der EG
6.3.1. Wanderarbeiter
6.3.2. Maastrichter Vertrag
6.3.3. Subsidiaritätsprinzip
6.3.4. Auswirkungen des Maastrichter Vertrags
6.4. Amsterdamer Vertrag
6.4.1. Auswirkungen des Amsterdamer Vertrages
6.5. Zusammenfassung der Gesetzgebungszuständigkeit im Gesundheitswesen
7. Urteile des Europäischen Gerichtshofs
7.1. Fälle Decker und Kohll
7.1.1. Darstellung des Sachverhaltes
7.1.2. Urteil des EuGH zu den Fällen Decker und Kohll
7.1.3. Schlussfolgerungen zu den Urteilen Decker und Kohll
7.2. Fall Smits/ Peerbooms
7.2.1. Darstellung des Sachverhalts
7.2.2. Urteil des EuGH zum Fall Smits/ Peerbooms
7.2.3. Schlussfolgerungen zum Fall Smits/ Peerbooms
7.3. Fall M. Molenaar/ B. Fath-Molenaar
7.3.1. Darstellung des Sachverhaltes
7.3.2. Urteil des EuGH zum Fall M. Molenaar/ B. Fath-Molenaar
7.3.3. Schlussfolgerungen zum Fall M. Molenaar/ B. Fath-Molenaar
7.4. Fall Sindicato de Médicos de Asistencia Pública (Simap)
7.4.1. Darstellung des Sachverhaltes
7.4.2. Urteil des EuGH zum Fall Simap
7.4.3. Schlussfolgerung zum Fall Simap
8. Zusammenfassung
9. Experteninterview
10. Schlussbetrachtung
11. Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Eine vom Wortlaut her unscheinbare und kleine Zeitungsnotiz, stammend vom spanischen Ministerpräsidenten Aznar, wirbelte im März die europäischen gesundheitspolitischen Ministerien gehörig durcheinander. So forderte der seit Anfang des Jahres als EU-Ratspräsident fungierende Aznar öffentlich die Harmonisierung der Sozialsysteme innerhalb der Europäischen Union. Die Aussage kam dahingehend überraschend, da die primären Ziele der gesundheitspolitischen Maßnahmen der Europäischen Union, so besagt es Artikel 152 des Europäischen Gründungsvertrages, nur als Ergänzung zur jeweiligen Gesundheitspolitik der einzelnen Nationalstaaten verstanden werden können. Des weiteren liegt die Verwaltung medizinischer Dienstleistungen ausschließlich in den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, wobei diese sich allein für die Organisation und Finanzierung ihrer Gesundheitssysteme verantwortlich zeigen.[1]
Die später erlassene Stellungnahme des Bundesrates kritisierte die Aussagen des spanischen Ratspräsidenten und forderte die Bundesregierung auf, Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union zu unterbinden.[2]
Für uns stellte sich nun die Frage, worin die Ursachen für den lautstark geäußerten Unmut europäischer Nationalstaaten bei dem politischen Vorstoß Aznars lagen. Perspektivisch ist das Fernziel der Europäischen Union die Vollendung der wirtschaftlichen und politischen Integration. Dieser Prozess beinhaltet auch die Vereinheitlichung der Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten. Die Schwierigkeiten die sich jedoch hieraus ergeben, liegen in den unterschiedlich gewachsenen Strukturen nationaler Gesundheitssysteme, welche die Autoren im ersten Abschnitt anhand eines exemplarischen Ländervergleiches Deutschland/Großbritannien darlegen wollen. Die Betrachtung wird sich nur auf den wesentlichen strukturellen Kontext der Systeme beziehen, da eine differenziertere Betrachtung den Rahmen einer Hausarbeit übersteigen würde.
In einem zweiten Schritt soll aufgezeigt werden, wie resultierend aus der politischen Vision eines einheitlichen Europas, Eingriffe in die Kernbereiche der nationalen Gesundheitssysteme vorgenommen werden.[3] Diesen Prozess, der sich vorzugsweise aus der europäischen Rechtssprechung ergibt, galt es genauer zu betrachten. Dabei soll beurteilt werden, ob dieses Geschehen einen schleichenden Harmonisierungsprozess induziert und welche Auswirkungen auf die deutsche Gesundheitspolitik von den Autoren gesehen werden. Aufgrund des großen Spektrums und der Komplexität dieser Thematik erheben die Autoren mit Ihrer Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch kann es sich, bedingt durch den stetigen reformorientierten Wandel der Systeme, nur um eine beschreibende Momentaufnahme eines kleinen Ausschnittes der Wirklichkeit handeln und erhebt demzufolge keinen Anspruch auf Repräsentativität. Für den Ländervergleich bedienten sich die Autoren methodisch vorrangig einer intensiven Internet- und Literaturrecherche. Komplettierend wurde für die Bearbeitung des zweiten Kapitels ein Experteninterview geführt, da empirisch langfristig angelegte Studien über die Folgen der Urteile des europäischen Gerichtshofes noch nicht existieren.[4]
2. Europäische Sozialversicherungsmodelle im Überblick
Heute bestehen in Europa mehrere Mischsysteme die sich aus den drei klassischen Grundmodellen, dem Bismarckschen Sozialversicherungs-, dem Beveridge- und dem Privatversicherungsmodell, herausgebildet haben.[5]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Sozialversicherungsmodelle im Überblick[6]
Das Privatversicherungsmodell spielt zunehmend auch in Europa eine immer wichtigere Rolle. Die Integration der Privatversicherung in das nationale Gesundheitssystem wird von den Staaten spezifisch gestaltet und weist somit unterschiedliche Charakteristika und Funktionen auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Übersicht über nationale Gestaltungsmöglichkeiten des Privatversicherungsmodells[7]
Die getroffene Unterscheidung ist bestenfalls nur ein grober Überblick, um Länder einem bestimmten Raster zuzuordnen. In der Realität beherrschen Mischsysteme, die der öffentlichen und privaten Finanzierung beziehungsweise Leistungserstellung dienen, das Geschehen.[8]
3. Deutschland und Großbritannien- ein problematisierender Vergleich zweier unterschiedlicher Systeme
Für einen Vergleich zwischen dem britischen und dem deutschen Gesundheitssystem haben sich die Autoren deshalb entschieden, da zwei verschieden historisch gewachsene Strukturen andere Prämissen und Grundsatzentscheidungen in der aktuellen Gesundheitspolitik bedingen. Der britische Typ steht für ein zentral verwaltetes System der Gesundheitsversorgung, welches durch das Steueraufkommen des Staates finanziert wird. Im Gegensatz dazu steht das dezentralisierte, in Form der Selbstverwaltung ausdifferenzierte, deutsche Modell der Leistungsfinanzierung und Erbringung.[9] Diese zum Teil erhebliche Divergenz der Strukturen gilt es im nachfolgenden Abschnitt aufzuweisen. Im
Rahmen des ökonomischen Vergleiches gibt es nur wenige wirtschaftliche Kennzahlen, die objektiv die Effizienz und Qualität der medizinischen Versorgung bestimmen können. Deshalb verstehen die Autoren die nachfolgende Analyse bewusst als Systembeschreibung, die versucht ohne eine „Flut“ statistischen Datenmaterials auszukommen.
3.1. Das deutsche Gesundheitssystem
3.1.1. Die Struktur des deutschen Gesundheitssystems
Charakteristisch für das deutsche Gesundheitssystem ist das beitragsfinanzierte Sozialversicherungsmodell. Der Großteil der Bevölkerung ist in einer gesetzlichen, oder privaten Krankenkasse versichert.[10] Durch Beitragszahlungen an die Krankenkassen wird die umfassende medizinische Grundversorgung nach einem Leistungskatalog[11], die in der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Sachleistungsprinzip funktioniert, gewährleistet. Die Leistungserbringung erfolgt im ambulanten Sektor durch niedergelassene Allgemein-und Fachärzte, im stationären Bereich durch die sich in öffentlicher, privater und gemeinnütziger Trägerschaft befindlichen Krankenhäuser.[12]
In Deutschland ist das Gesundheitswesen Gegenstand staatlicher Regulierung und Verantwortung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes und der Länder. Es liegt allein im Bereich der gesetzgebenden Kompetenz des Bundes Rahmenrichtlinien, wie den Umfang der Versicherungspflicht, den Leistungskatalog und die Finanzierungsweise der GKV aufzustellen. Somit obliegt ihm und den Ländern die Gesamtverantwortung für die Gesundheitspolitik.[13] Kennzeichnend jedoch ist neben der hierarchischen Globalsteuerung durch den Staat, die Dezentralisierung des Gesundheitssystems. Dies beinhaltet die Abtretung staatlicher Macht an korporative Akteure, die nach dem Selbstverwaltungsprinzip agieren. Dies kann als ein hervorstechendes Strukturmerkmal des deutschen Systems angesehen werden.[14] Die Akteure, Krankenkassen und Leistungserbringer, sind durch Körperschaften des öffentlichen Rechts vertreten, die in Gruppenverhandlungen Preise und Richtlinien medizinischer Versorgung gemeinsam vereinbaren und somit das Leistungsgeschehen bestimmen. Die Körperschaften, Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen, bedingen eine Pflichtmitgliedschaft und können somit eigene monetäre Mittel unter Aufsicht des Staates beschaffen. Kassen nehmen dabei vornehmlich Finanzierungsfunktionen wahr, währenddessen die Sicherstellung medizinischer Dienstleistungen alleiniges Monopol der Leistungsanbieter ist. Dies ist Ausdruck einer ausgeprägten Differenzierung von Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen.[15]
Des weiteren ist die Privatisierung des Gesundheitssystems als wichtige Eigenschaft zu benennen. Der Bereich der ambulanten Versorgung basiert dabei vollständig auf privaten Leistungsanbietern, währenddessen in anderen Gesundheitssektoren die Sicherstellung medizinischer Dienstleistungen von privat gemeinnützigen, privatwirtschaftlichen und öffentlichen Anbietern erfolgt.[16] Charakteristisch ist die ausgeprägte Differenzierung ambulanter und stationärer Versorgung. Beide Leistungssektoren arbeiten fast vollständig getrennt voneinander.[17]
3.1.2. Die Auswirkungen der Systemstruktur auf die deutsche Gesundheits- politik
Das bundesstaatliche System und die Delegation staatlicher hoheitsvoller Aufgaben auf Selbstverwaltungsorganisationen bedingen die Schwierigkeiten, einen gemeinsamen Grundkonsens in der aktuellen Gesundheitspolitik zu finden. Das föderale Prinzip der Gewaltenteilung und die konkurrierende Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern blockieren häufig einen reformorientierten Ansatz.[18] Die Rahmenbedingungen für die gesetzliche Krankenversicherung werden zwar auf der Bundesebene geregelt, jedoch konkrete Reformen die sich auf Formen der Leistungserbringung und des Leistungskataloges beziehen, werden durch Verhandlungen zwischen den Selbstverwaltungsorganen von Kassen und Ärzten beschränkt. Änderungen in vielen Bereichen bräuchte die Zustimmung aller Akteure. Die Vielzahl von beteiligten Verbänden ist aufgrund von Selbsterhaltungsinteressen und Abschottungen kaum in der Lage, gemeinsame verbindliche Ziele der deutschen Gesundheitspolitik zu definieren. Die Wehrhaftigkeit gegenüber Status quo verändernden Eingriffen zieht sich wie ein „roter Faden“ durch die gesundheitspolitische noch junge Geschichte. Allein schon sorgen die sich zum Teil widersprechenden Zielvorstellungen für Diffusion und politischen Zündstoff und werden keineswegs durch den komplizierten Prozess der Entscheidungsfindung unterstützt. Des weiteren führt der professionelle Organisationsgrad der Ärzte zu einer Vetomacht, der sich seiner großen Einflusskanäle innerhalb der öffentlichen Politik erfolgreich bedient. Ihre Stellung und das Definitionsmonopol ihres medizinischen Wissens[19] erschweren erfolgreiche Reformen.[20]
3.2. Die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems
Der wesentlichste Teil der Finanzierung des Gesundheitswesens erfolgt durch die Zahlung von Pflichtbeiträgen an die gesetzliche Krankenversicherung. Diese Beiträge werden auf der Grundlage des Solidarprinzips bis zu einer Bemessungsgrenze einkommensabhängig erhoben und werden bei Erwerbstätigen jeweils anteilig (50/50) vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen. Krankenkassen haben das Recht und die Pflicht von ihren Versicherten Beiträge zu erheben und können dabei auch den Beitragssatz bestimmen der erforderlich ist, um ihre Gesundheitsausgaben zu decken.[21] Die Beitragsbemessungsgrenze gilt dabei als Pflichtversichertengrenze, so dass Bezieher höherer Einkommen oder Selbständige entscheiden können, ob sie freiwilliges Mitglied einer GKV werden oder die private Versicherung bevorzugen. Dies ist mit Blick auf das Solidarprinzip problematisch zu sehen, da Mitglieder der Privatversicherungen nicht in die Finanzierung der GKV und somit auch nicht in die Finanzierung der Versorgung einkommensschwacher Bevölkerungsteile eingebunden sind.[22]
Der Anteil der GKV an den gesamten Ausgaben beträgt jedoch nur 60%. Als weitere Quellen dienen Mittel aus dem allgemeinen Steueraufkommen, die vorrangig Investitionen im Krankenhausbereich und öffentliche Gesundheitsleistungen finanzieren, sowie Zuzahlungen der Patienten und Einnahmen der privaten Versicherungen.[23]
Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz haben die Bürger das Recht zur freien Kassenwahl. Für die Versicherungen besteht Kontrahierungszwang, sie dürfen keinen Patienten ablehnen. Um der Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen durch ungünstige Versichertenprofile zu entgehen, wurde 1994 ein Risikostrukturausgleich eingeführt.[24]
3.2.1. Die Auswirkungen der Finanzierungsart auf die deutsche Gesundheits- politik
Der Gesundheitsbereich ist ein boomender Wachstumsmarkt, wobei die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen keine Konjunktureinbrüche kennt.[25] Der unbegrenzte Bedarf an medizinischer Versorgung steht zunehmend knappen Finanzierungsressourcen gegenüber.
In Deutschland liegt die Gesundheitsquote (die Ausgaben für die Gesundheitssicherung gemessen am Bruttoinlandsprodukt) bei 10,5%. Jede zehnte Mark des BIP wird in Deutschland für Gesundheitsausgaben aufgewendet-Tendenz steigend. Diese Ausgabensumme auch in Zukunft gewährleisten zu können, wird jedoch mit Schwierigkeiten verbunden sein, da die Beiträge an das Lohnniveau gekoppelt sind. Beitragsausfälle durch strukturelle Arbeitslosigkeit und sinkende Lohnquoten bedingen eine relativ schwache Einnahmebasis der Krankenversicherung, die eine Unterfinanzierung zur Folge hat.[26] Finanzielle Defizite durch eine Erhöhung der Beitragssätze auszugleichen, hätte aber Auswirkungen auf den deutschen Wirtschaftsstandort. Erhöhte Beitragszahlungen führen zu höheren Lohnnebenkosten, die zu einer Schmälerung der Unternehmensgewinne beitragen. Dies beeinflusst die Konkurrenzfähigkeit deutscher Betriebe im internationalen Wettbewerb nachhaltig und könnte zu einer Auslagerung von Produktionsfaktoren ins kostengünstigere Ausland führen.[27]
3.3. Die Leistungserbringung im deutschen Gesundheitswesen
3.3.1. Die ambulante Versorgung
Die gesamte ambulante medizinische Versorgung wird durch niedergelassene Haus-und Fachärzte organisiert. Dabei sind drei Merkmale für diesen Bereich in Deutschland charakteristisch:
1. dem Nachfrageprinzip entsprechend haben die Versicherten freie Arztwahl und können damit jeden Arzt konsultieren, der zur Versorgung durch die Kassenärztliche Vereinigung zugelassen ist
2. dem Angebotsprinzip entsprechend erfolgt die Leistungserbringung durch Allgemein-und Fachärzte, die in Einzelpraxen selbständig praktizieren
3. in Gruppenverhandlungen wird zwischen der kassenärztlichen Vereinigung und den Kassen die Angebots und Nachfragebeziehung geregelt[28]
Die Organisation der niedergelassenen Mediziner erfolgt in der kassenärztlichen Vereinigung, die wiederum als Selbstverwaltungsorgan Vertragsverhandlungen mit den Verbänden der Krankenkassen führen. Dabei steuern sie die Honorierung und Vergütung, sowie im Rahmen des Sicherstellungsauftrages die Kapazitätenplanung. Nur die Kassenärztliche Vereinigung vergibt regional nach einer Bedarfsplanung die Zulassung zum Vertragsarzt, die wiederum den Anspruch auf Vergütung durch die Kassen begründet.
3.3.2. Die ambulante Vergütung der Leistung
Die Leistungsvergütung erfolgt in zwei Schritten. Erstens erfolgt eine Weiterleitung der Gesamtvergütung von den Kassen an die Kassenärztliche Vereinigung. Dieses Budget ergibt sich aus einer verhandelten Kopfpauschale für jedes versicherte Mitglied. Im Anschluss wird dann von der KV nach einem bestimmten Honorarsystem, auf der Grundlage einer Gebührenordnung, dieses Gesamtbudget auf niedergelassene Ärzte verteilt.[29] Dabei wird die Leistung einem jeweiligen Punktwert zugeordnet. Am Quartalsende findet dann die Verrechnung mit der KV, auf der Basis der Gesamtsumme der Punkte statt.
3.3.3. Auswirkungen der ambulanten Versorgung auf die Gesundheitspolitik
Das Leistungsangebot der medizinischen Versorgung, wie auch die Nachfrage nach Gesundheitsgütern, wird durch die Kassenärzte selbst bestimmt. Patienten steuern weder den Zeitpunkt noch den Umfang der benötigten Versorgung. Erst die fachliche Kompetenz der Ärzte definiert die Nachfrage nach Leistung.[30] Die Vergütung der Leistung entspricht im Gesundheitswesen nicht der marktähnlichen Preisbildung von Angebot und Nachfrage. Dies basiert auf Verhandlungen zwischen der KV und den Kassen. Der gesetzliche Sicherstellungsauftrag der KV sorgt zwar für eine Kontingentierung der Niederlassenschaft, jedoch bedingt ihre Position eine Nichtkontrolle ärztlicher Abrechnungen durch die Kassen. Die Standardisierung ärztlicher, besonders lukrativer Leistungen durch einen Gebührenkatalog setzt einen Stimulus für eine unnötige Mengenausweitung. Es liegt nicht im ökonomischen Sinn der Anbieter diese Mengenausweitung und die dadurch entstehenden Kosten zu minimieren, da dies Auswirkungen auf ihr Einkommen hätte. Die Leistungsbewertung nach einem Punktessystem lässt scheinbar eine finanzielle Steuerung zu, jedoch werden Ärzte belohnt die Abrechnungsakrobatiken besser beherrschen. Sowohl sind Betrügereien in den Abrechnungsmodalitäten, als auch Leistungseinschränkungen besonders betreuungsintensiver Patienten mit hohen Grenzkosten, als problematisch zu sehen.[31] Mehrfachuntersuchungen durch eine doppelte Fachärztestruktur bedingen keinesfalls eine erhöhte Qualität, sondern sorgen zusätzlich für Kosten. Die strikte Trennung des ambulanten und stationären Sektors mit der fehlenden Gatekeeperfunktion der Hausärzte sorgt für eine Diskontinuität der Versorgung, deren Folgen heute schon abzusehen sind.[32] Die Reduktion der Verweildauer mit einer frühzeitigen Entlassung setzt kooperierende vernetzte Strukturen voraus. Gerade in Hinblick auf die Einführung des diagnosebezogenen Fallpauschalensystems wird eine Integration der Bereiche vorausgesetzt, die in Deutschland nur marginal existieren.
3.3.4. Die stationäre Versorgung
Im Unterschied zur ambulanten Versorgung liegt die Zuständigkeit für die Steuerung der Krankenhauskapazitäten bei den jeweiligen Bundesländern. Die Planungskompetenz der Bundsländer entscheidet dabei über die Zahl der Krankenhäuser und Betten in der jeweiligen Region. Nur die Aufnahme in den Krankenhausplan berechtigt zum Abschluss eines Versorgungsvertrages mit den Verbänden der Krankenkassen und begründet einen Anspruch auf Erstattung der Investitionskosten. Deutlich wird hierbei, dass die Aufgabe der stationären Mengensteuerung in der Verantwortung staatlicher Krankenhausplanung auf Länderebene liegt.[33] Der größte Teil der Krankenhäuser befindet sich in öffentlicher Hand, entsprechend des Subsidaritätsprinzips wird ca. ein Drittel von freien gemeinnützigen Trägern unterhalten, der Rest ist in privater Nutzerschaft.[34] Der Zugang zum Krankenhaus wird über die Einweisungskompetenz eines niedergelassenen Arztes gesteuert, Ausnahmen bilden jedoch Notfalleinweisungen. Prägnant ist die im Unterschied zum ambulanten Bereich schwach ausgeprägte Ebene der Verbandsverhandlungen. Krankenhäuser werden nicht durch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern durch privatrechtliche Vereinigungen vertreten.
3.3.5. Die Vergütung stationärer Versorgung
Kennzeichnend ist im stationären Sektor das System der dualen Finanzierung, die eine Übernahme der Investitionskosten durch die Länder vorsieht. Im Gegenzug werden dabei von den Krankenkassen die laufenden Betriebskosten finanziert. In der Praxis werden zwischen den Krankenhäusern und Verbänden der Krankenkassen jährliche Budgets ausgehandelt. Im Rahmen dieses Budgets erfolgt die Vergütung noch durch Fallpauschalen und Sonderentgelte, die mit Abteilungspflegesätzen und Basispflegesätze kombiniert werden. Im Krankenhaussektor steht dem Versicherten jede Klinik, die im Krankenhausbedarfsplan des Landes aufgeführt wird, für eine kostenlose medizinische Behandlung zur Verfügung. Diese Behandlungen werden über pauschalisierte Pflegesätze finanziert, die durch Verhandlungen mit den Kassen und Krankenhäusern festgelegt werden.[35] Im Krankenhaussektor fehlen korporatistische Vereinigungen, dadurch handeln Krankenhäuser einzeln Verträge mit Krankenkassen aus.
3.3.6. Die Auswirkungen der stationären Versorgung auf die Gesundheitspolitik
Für die Unterhaltung der Krankenhausinfrastruktur sind die Landesregierungen verantwortlich. Die schwieriger werdende öffentliche Haushaltslage ist Ursache dafür, dass die einzelnen Länder ihrer Einstandspflicht für Investitionen immer weniger nachkommen. Der jetzt schon erheblich reduzierte Finanzierungsanteil bewirkt einen geschätzten Investitionskostenstau in Höhe von 25 bis 30 Milliarden Euro. Gerade aber in Hinblick auf die Einführung der DRG`s bedürfen Krankenhäuser struktureller Änderungen durch Neubauten und fortschrittlicher medizinischer Großgeräte, um sie auf die neue Angebots-und Wettbewerbssituation auszurichten. Schon die jetzigen vom Gesetzgeber verankerten Vorschriften zur Förderung des ambulanten Operierens, werden ohne finanzielle Rahmenbedingungen schwierig sein.[36] Theoretisch bestände die Möglichkeit einer monistischen Finanzierung durch die Krankenkassen, die aber sogleich insistieren auch die Kontrolle über die Krankenhausplanung zu beanspruchen. Die mit der Einführung der DRG`s einhergehende Verweildauerreduktion wird zu einem Abbau der rechnerisch entstehenden Bettenüberkapazitäten führen.[37] Dies bedeutet dass bei einer Planungsverantwortung der Kassen „stationäre Kapazitäten zum Spielball des Wettbewerbs“[38] werden würden. Da aber eine bedarfsgerechte Versorgung in der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder liegt, sind sie natürlich auch an der Steuerung des Versorgungsangebotes interessiert.[39]
[...]
[1] Vgl.http://epp-ed.europarl.eu.int/Activities/pinfo/info54_de.asp
[2] Vgl.http://www.schwarzpharma.de/servicefachkreise/1102.html
[3] Vgl.Staudinger, R., Die europäische Union und der Anspruch einer europäischen Gesundheitspolitik in: Österreichische Krankenhauszeitung, Jg. 40 (1999), Heft 12, S.32
[4] Vgl. Busse, R., u. Wismar, M., Auswirkungen der europäischen Binnenmarktintegration auf das deutsche Gesundheitswesen in: Die neue Gesundheitspolitik der Europäischen Union (Tagungsbericht), München 1999, S.98
[5] Vgl. Hohmann, J., Gesundheits-, Sozial- und Rehabilitationssysteme in Europa, Bern 1998, S.368
[6] Vgl. ebenda S.367
[7] Vgl. ebenda
[8] Vgl. ebenda
[9] Vgl. Blanke, B.( Hrsg.),Bartlett, W., Busse, R., u.a., Krankheit und Gemeinwohl, Opladen 1994, S.19
[10] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., Gesundheitssysteme im Wandel, S.43 88% GKV-versichert, 9% privat, 2% freie Heilfürsorge, 0,1% nicht krankenversichert
[11] Vgl. Bellermann, M., Sozialpolitik, Freiburg i.Br. 2001, 4.Aufl., S.77f (1.Aufl. Freiburg i.Br. 1990) die wichtigsten Leistungen sind: kostenlose stationäre, ambulante Behandlung und zahnmedizinische Standardversorgung, teilweise kostenfreie Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln, Heil-und Hilfsmitteln, häusliche Krankenpflege und zeitlich unbegrenzte Krankenhausbehandlung, Kuren, in der Regel nicht länger als drei Wochen, Krankengeld für versicherte Arbeitnehmer, Mutterschaftsleistungen (medizinische Versorgung während der Schwangerschaft und Mutterschaftsgeld
[12] Vgl. Böcken, J./ Butzlaff, M./ Esche, A.(Hrsg.), Reformen im Gesundheitswesen, Gütersloh 2001, 2.Aufl., S.35 (1.Aufl. Gütersloh 2000)
[13] Vgl. Alber, J., Benardi-Schenkluhn, B.,Westeuropäische Gesundheitssysteme im Vergleich, Frankfurt/M. 1992, S.32
[14] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., S. 40
[15] Vgl. Alber, J. u.a., a.a.O., S.32f
[16] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., S. 40
[17] Vgl. Böcken, J. u.a., a.a.O., S.36
[18] Vgl. Althoff, S., Einblick in das Studium der Rechtswissenschaften, München 1996, S.46 Die BRD ist ein föderaler Rechts-und Sozialstaat(Art.20 I GG), die legislative Autorität liegt bei den Ländern (Art.30 GG), außer jedoch in Bereichen die explizit der Bundesebene vorbehalten sind. Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung können Bundesländer Bereiche gesetzlich regeln die nicht durch das Bundesgesetz abgedeckt sind. Etwa die Hälfte aller Gesetze sind durch den Bundesrat zustimmungspflichtig. Dies sind insbesondere Gesetze die die finanziellen und administrativen Angelegenheiten der Länder betreffen.
[19] Vgl. Blanke, B., u.a., a.a.O., S.63 Schon Luhmann sagt: „Nur Krankheiten sind für den Arzt Instruktion, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit.“
[20] Vgl. ebenda S.77ff
[21] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., S.43
[22] Vgl. Böcken, J. u.a., a.a.O., S.36
[23] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., S.50
[24] Vgl. ebenda S.39
[25] Vgl. http://www.allgemeinarzt.de/eckhard-brueggemann/e251.html
[26] Vgl. Deutschland kein Mittelmaß in: Deutsches Ärzteblatt, Jg.99 (2002), Heft 9, S.446f
[27] Vgl. Bellermann, M., a.a.O., S.55 und Böcken, J., u.a., a.a.O., S.12
[28] Vgl. Alber, J. u.a., a.a.O., S.106
[29] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., S.114
[30] Vgl. Bellermann, M. , a.a.O., S.83
[31] Vgl. Hohmann, J., a.a.O., S.406ff
[32] Vgl. Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich in: Gesprächskreis Arbeit und Soziales, Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2002, S.6
[33] Vgl. Alber, J. u.a., a.a.O., S.121f
[34] Vgl. http://www.observatory.dk/hit_pdf/deutschland.pdf)., a.a.O., 2030 Allgemeinkrankenhäuser insgesamt, davon 790 (Bettenanteil 55%)in öffentlicher Trägerschaft, 820 (Bettenanteil 38%) in gemeinnütziger Trägerschaft (international „private not-for-profit“) und 420 in privater Trägerschaft (Bettenanteil 7%)
[35] Vgl. Böcken, J. u.a., a.a.O., S.37
[36] Vgl. Grauzonenfinanzierung verzerrt Wettbewerb in: Deutsches Ärzteblatt, Jg.99 (2002) Heft6, S.261f
[37] Vgl. Realistische Spekulationen in: Deutsches Ärzteblatt, Jg.99 (2002) Heft3, S.63
[38] Stapf-Fine, H., Polei, G., Die Zukunft der Krankenhausplanung nach der DRG-Einführung in: Das Krankenhaus, Jg.94 (2002) Heft2, S.106
[39] Vgl. Müller, D., Simon, M., Steuerungsprobleme des stationären Sektors: Das Krankenhaus zwischen Kostendämpfung und Qualitätssicherung, in: Blanke.B. (Hrsg.), Krankheit und Gemeinwohl, Opladen 1994, S.344
- Arbeit zitieren
- Jana Werner (Autor:in), Daniel Ladwig (Autor:in), 2002, Der Harmonisierungsprozess der nationalen europäischen Gesundheitssysteme. Utopie oder Realität?, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/27764